Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.1999Findend durch die Großstadt stolpern
Die Weiterführung des Spiels mit anderen Mitteln: "Tokyo Eyes" im Kino
Was schenkt man einem Großstadtkind, das alles hat? Jugendliche wie K. besitzen einen Computer mit drei, vier Bildschirmen, eine diskothekentaugliche Stereoanlage, eine Plattensammlung, die bis zur Decke reicht, gar eine digitale Filmkamera, die ihre Aufnahmen per Funk überträgt. Schenke ihnen, rät der berührende Stadtfilm "Tokyo Eyes", ein uraltes harmloses Spielzeug und ein modernes todbringendes, und sie werden sich und andere nie mehr langweilen: Schenke ihnen ein Prisma und eine Pistole.
In einer der zärtlichsten Szenen des Films zaubert K. mit dem Brechglas schwache Regenbogenfarben auf das Kleid seiner Freundin Hinano, und beide strömen schier über vor Freude über den hübschen optischen Trick. Zuvor hat K. mit einer großen Waffe auf einen Menschen gezielt. Wie so oft in letzter Zeit.
K., der kindliche Killer, geht in Tokio um und richtet, ohne hinzurichten. Seine Opfer sind rassistische Busfahrer, borstige Türsteher oder anderes unfreundliches Kassenpersonal, all jene also, die das ohnehin strapaziöse Leben in der Metropole noch etwas nerviger und den Einzelnen darin noch etwas unbedeutender machen. Die Polizei, die Zeitungen und die, die die Phantombilder studieren, kennen K. nur als "Vier Augen", weil er bei der Tat bullige Augengläser trägt, eine hässliche Mischung von Schutz- und Schwimmbrille. Einzig Hinano sieht durch die Verkleidung hindurch und erkennt dahinter einen mitreißenden Mitreisenden in ihrem Vorortzug.
Gemeinsam treibt das Paar durch die Metropole, nicht suchend, wie es berechenbarere Filme zeigen würden, sondern findend, stolpernd durch die Welt, wie sie ist, nicht, wie sie sie sich wünschten. Denn das, legt der französische Regisseur Jean-Pierre Limosin nahe, setzte einen Gegenentwurf zur Realität voraus, den zu ersinnen ihnen das Vermögen fehlt und den ihnen in diesen ideologiearmen Zeiten auch niemand schenken möchte. Und so genießen sie volle S-Bahnen als gesellig und nutzen leere zum Turnen, lassen sich den bekanntesten Diskjockey Tokios ins Haus kommen wie andere den Pizzaservice und entdecken, was Männer und Frauen gemeinsam mit ihren Körpern anstellen können - sich zum Beispiel Staubkörner aus dem Auge lecken.
Selbst die bewaffneten Überfälle sind für K. (Shinji Takeda) und letztlich auch für die Polizei, die Zeitungsleser, die ganze Stadt nicht mehr als die Weiterführung der Zerstreuung mit anderen Mitteln. Als sich in seiner Wohnung ein Schuss löst, dreht der junge Wilde zur Beruhigung der Nachbarn einfach die Lautstärke seines Computer-Kriegsspiels auf. Seine Verbrechen, bei denen er niemanden verletzt, unterscheiden sich für ihn kaum von den unschuldigen Heldentaten in der virtuellen Welt seiner Telespiele. Mit dem kurzweiligen Unterschied, dass sich im richtigen Leben die Opfer vor Angst einnässen - und zwar mit Recht, wie der Zuschauer findet.
In seiner zynischen Heiterkeit, die der Gastauftritt Takeshi Kitanos als hölzerner Kleingangster auf die Spitze treibt, bleibt der Film stets schicksalergeben, aber nicht hoffnungslos. Zwar kann man gemäß der flatterhaften Bildsprache Limosins und seines Kameramanns Jean-Marc Febre den Moloch der Großstadt nicht zähmen, nicht einmal dirigieren. Aber man kann ihm jede beliebige Sicht abgewinnen, wenn man nur den Standpunkt, die Perspektive, das Okular wechselt. So ist auch K.s Brille nicht allein Camouflage, sondern sie verzerrt seinen Blick auf die Opfer und erleichtert ihm so das Abdrücken. Die letzte Bremse der urbanen Enthemmung, die alles zu können und zu dürfen glaubt, ist in diesem Film der Skrupel, unbegründbar, altmodisch und eigentümlich kleinstädtisch.
CHRISTIAN GEINITZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Weiterführung des Spiels mit anderen Mitteln: "Tokyo Eyes" im Kino
Was schenkt man einem Großstadtkind, das alles hat? Jugendliche wie K. besitzen einen Computer mit drei, vier Bildschirmen, eine diskothekentaugliche Stereoanlage, eine Plattensammlung, die bis zur Decke reicht, gar eine digitale Filmkamera, die ihre Aufnahmen per Funk überträgt. Schenke ihnen, rät der berührende Stadtfilm "Tokyo Eyes", ein uraltes harmloses Spielzeug und ein modernes todbringendes, und sie werden sich und andere nie mehr langweilen: Schenke ihnen ein Prisma und eine Pistole.
In einer der zärtlichsten Szenen des Films zaubert K. mit dem Brechglas schwache Regenbogenfarben auf das Kleid seiner Freundin Hinano, und beide strömen schier über vor Freude über den hübschen optischen Trick. Zuvor hat K. mit einer großen Waffe auf einen Menschen gezielt. Wie so oft in letzter Zeit.
K., der kindliche Killer, geht in Tokio um und richtet, ohne hinzurichten. Seine Opfer sind rassistische Busfahrer, borstige Türsteher oder anderes unfreundliches Kassenpersonal, all jene also, die das ohnehin strapaziöse Leben in der Metropole noch etwas nerviger und den Einzelnen darin noch etwas unbedeutender machen. Die Polizei, die Zeitungen und die, die die Phantombilder studieren, kennen K. nur als "Vier Augen", weil er bei der Tat bullige Augengläser trägt, eine hässliche Mischung von Schutz- und Schwimmbrille. Einzig Hinano sieht durch die Verkleidung hindurch und erkennt dahinter einen mitreißenden Mitreisenden in ihrem Vorortzug.
Gemeinsam treibt das Paar durch die Metropole, nicht suchend, wie es berechenbarere Filme zeigen würden, sondern findend, stolpernd durch die Welt, wie sie ist, nicht, wie sie sie sich wünschten. Denn das, legt der französische Regisseur Jean-Pierre Limosin nahe, setzte einen Gegenentwurf zur Realität voraus, den zu ersinnen ihnen das Vermögen fehlt und den ihnen in diesen ideologiearmen Zeiten auch niemand schenken möchte. Und so genießen sie volle S-Bahnen als gesellig und nutzen leere zum Turnen, lassen sich den bekanntesten Diskjockey Tokios ins Haus kommen wie andere den Pizzaservice und entdecken, was Männer und Frauen gemeinsam mit ihren Körpern anstellen können - sich zum Beispiel Staubkörner aus dem Auge lecken.
Selbst die bewaffneten Überfälle sind für K. (Shinji Takeda) und letztlich auch für die Polizei, die Zeitungsleser, die ganze Stadt nicht mehr als die Weiterführung der Zerstreuung mit anderen Mitteln. Als sich in seiner Wohnung ein Schuss löst, dreht der junge Wilde zur Beruhigung der Nachbarn einfach die Lautstärke seines Computer-Kriegsspiels auf. Seine Verbrechen, bei denen er niemanden verletzt, unterscheiden sich für ihn kaum von den unschuldigen Heldentaten in der virtuellen Welt seiner Telespiele. Mit dem kurzweiligen Unterschied, dass sich im richtigen Leben die Opfer vor Angst einnässen - und zwar mit Recht, wie der Zuschauer findet.
In seiner zynischen Heiterkeit, die der Gastauftritt Takeshi Kitanos als hölzerner Kleingangster auf die Spitze treibt, bleibt der Film stets schicksalergeben, aber nicht hoffnungslos. Zwar kann man gemäß der flatterhaften Bildsprache Limosins und seines Kameramanns Jean-Marc Febre den Moloch der Großstadt nicht zähmen, nicht einmal dirigieren. Aber man kann ihm jede beliebige Sicht abgewinnen, wenn man nur den Standpunkt, die Perspektive, das Okular wechselt. So ist auch K.s Brille nicht allein Camouflage, sondern sie verzerrt seinen Blick auf die Opfer und erleichtert ihm so das Abdrücken. Die letzte Bremse der urbanen Enthemmung, die alles zu können und zu dürfen glaubt, ist in diesem Film der Skrupel, unbegründbar, altmodisch und eigentümlich kleinstädtisch.
CHRISTIAN GEINITZ
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