Der Etappenhase:
Bild: 1.78:1 Letterbox
Tante Jutta aus Kalkutta:
Bild: 1.78:1 Letterbox
Neuauflage ab 05.12.2011
-> Pension Schöller (Deutschland 1993, 86 min., FSK o.A.):
Anton Klapproth, Besitzer einer Flugentenfarm, ist endlich wieder in der Großstadt, Sinnbild pulsierenden Lebens, Zentrum ersehnter Aufregungen, Sensationen und Abenteuer! Besonders fasziniert ist er von den Typen, die bei ihm zu Hause so selten sind, in der Stadt jedoch auf Schritt und Tritt anzutreffen sein sollen: Er hätte "nämlich vor einige Zeit einen außerordentlich fesselnden Artikel über Heilanstalten für Geisteskranke gelesen" und "eine Soirée in einem solchen Etablissement soll das Interessanteste sein, was man sich denken kann". Sein Neffe Alfred erhält gegen die Zusage eines nicht unbeträchlichen Kredites den Auftrag zur Umsetzung dieses ungewöhnlichen Anliegens. Da trifft es sich gut, dass in der Pension des Militärkappellmeisters in Ruhe, Schöller, ein Gesellschaftsabend mit Künstlern, Malern, Exzentrikern und Großstadtpflanzen verschiedenster Couleur stattfinden soll. Anton Klapproth sieht seine Erwartungen auf das Aufregendste erfüllt. Als aber die "Patienten" eines Tages bei ihm auf der Flugentenfarm auftauchen, vergeht ihm das Lachen.
-> Der Etappenhase (Deutschland 1991, 88min., FSK o.A.):
Eine requirierte Stube irgendwo in Flandern ist Schauplatz dieses Schwanks, der zur Zeit des 1. Weltkrieges spielt. So unterschiedlich die Charaktere der Personen auch sein mögen, was immer wieder Anlass zu hitzigen Auseinandersetzungen ist, haben sie doch eines gemeinsam: Den Heißhunger auf ein richtiges Stück Fleisch. Als das Faktotum Anton mit einem "gefundenen" Hasen auftaucht, scheint sich ein großes Fest anzubahnen. Doch schlussendlich wird nicht nur ihm das Fell über die Ohren gezogen.
-> Tante Jutta aus Kalkutta (Deutschland 1999, 89 min., FSK o.A.):
Dr. Hans Schmitz ist ein aufstrebender Rechtsanwalt von Beruf - und sonst ein Filou, was natürlich ins Geld geht. Zu seinem Glück jedoch gibt es im fernen Asien eine vermögende Tante, die sich zwar anpumpen lässt, für erbetene Zahlungen aber Gegenleistungen in Form eines anständigen, bürgerlichen Lebens erwartet. Was liegt also näher, als peu à peu eine Ehefrau, ein Kind (selbstverständlich einen Sohn), einen zu versorgenden Schwiegervater und alle die damit verbundenen finanziellen Verpflichtungen zu erfinden und so den jährlichen Geburtstagsscheck von Tante Jutta aus Kalkutta zu sichern. Diesmal jedoch bleibt der aus und statt seiner kommt die Tante selbst. In höchster Not muss da der befreundete Schauspieler Emil Brückner als Ehefrau Eva, das Kind seines Hausdieners als Sohn Persival und der Klient und Einbrecherkönig Anton Kühlkopp als ehrenwerter Schwiegervater fungieren, auch wenn der nicht weiß, wie ihm geschieht. Natürlich folgt dem nun ausbrechenden Chaos ein Happy-End, hier in Gestalt der attraktiven Adoptivtochter von Tante Jutta.
Bild: 1.78:1 Letterbox
Tante Jutta aus Kalkutta:
Bild: 1.78:1 Letterbox
Neuauflage ab 05.12.2011
-> Pension Schöller (Deutschland 1993, 86 min., FSK o.A.):
Anton Klapproth, Besitzer einer Flugentenfarm, ist endlich wieder in der Großstadt, Sinnbild pulsierenden Lebens, Zentrum ersehnter Aufregungen, Sensationen und Abenteuer! Besonders fasziniert ist er von den Typen, die bei ihm zu Hause so selten sind, in der Stadt jedoch auf Schritt und Tritt anzutreffen sein sollen: Er hätte "nämlich vor einige Zeit einen außerordentlich fesselnden Artikel über Heilanstalten für Geisteskranke gelesen" und "eine Soirée in einem solchen Etablissement soll das Interessanteste sein, was man sich denken kann". Sein Neffe Alfred erhält gegen die Zusage eines nicht unbeträchlichen Kredites den Auftrag zur Umsetzung dieses ungewöhnlichen Anliegens. Da trifft es sich gut, dass in der Pension des Militärkappellmeisters in Ruhe, Schöller, ein Gesellschaftsabend mit Künstlern, Malern, Exzentrikern und Großstadtpflanzen verschiedenster Couleur stattfinden soll. Anton Klapproth sieht seine Erwartungen auf das Aufregendste erfüllt. Als aber die "Patienten" eines Tages bei ihm auf der Flugentenfarm auftauchen, vergeht ihm das Lachen.
-> Der Etappenhase (Deutschland 1991, 88min., FSK o.A.):
Eine requirierte Stube irgendwo in Flandern ist Schauplatz dieses Schwanks, der zur Zeit des 1. Weltkrieges spielt. So unterschiedlich die Charaktere der Personen auch sein mögen, was immer wieder Anlass zu hitzigen Auseinandersetzungen ist, haben sie doch eines gemeinsam: Den Heißhunger auf ein richtiges Stück Fleisch. Als das Faktotum Anton mit einem "gefundenen" Hasen auftaucht, scheint sich ein großes Fest anzubahnen. Doch schlussendlich wird nicht nur ihm das Fell über die Ohren gezogen.
-> Tante Jutta aus Kalkutta (Deutschland 1999, 89 min., FSK o.A.):
Dr. Hans Schmitz ist ein aufstrebender Rechtsanwalt von Beruf - und sonst ein Filou, was natürlich ins Geld geht. Zu seinem Glück jedoch gibt es im fernen Asien eine vermögende Tante, die sich zwar anpumpen lässt, für erbetene Zahlungen aber Gegenleistungen in Form eines anständigen, bürgerlichen Lebens erwartet. Was liegt also näher, als peu à peu eine Ehefrau, ein Kind (selbstverständlich einen Sohn), einen zu versorgenden Schwiegervater und alle die damit verbundenen finanziellen Verpflichtungen zu erfinden und so den jährlichen Geburtstagsscheck von Tante Jutta aus Kalkutta zu sichern. Diesmal jedoch bleibt der aus und statt seiner kommt die Tante selbst. In höchster Not muss da der befreundete Schauspieler Emil Brückner als Ehefrau Eva, das Kind seines Hausdieners als Sohn Persival und der Klient und Einbrecherkönig Anton Kühlkopp als ehrenwerter Schwiegervater fungieren, auch wenn der nicht weiß, wie ihm geschieht. Natürlich folgt dem nun ausbrechenden Chaos ein Happy-End, hier in Gestalt der attraktiven Adoptivtochter von Tante Jutta.
Bonusmaterial
DVD - Ausstattung / Bonusmaterial - mit WendecoverFrankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2011Ein gebildeter Europäer mit der Kamera
Louis Malles dokumentarische Beobachtungen aus Indien
Louis Malle galt bereits als einer der bedeutendsten französischen Regisseure, als er 1967 eingeladen wurde, einige seiner Filme in Indien zu präsentieren. Er wollte eigentlich nur zwei Wochen bleiben, verlängerte seinen Aufenthalt aber auf zwei Monate. Im Februar 1968 kehrte er dann schon wieder zurück, diesmal mit einem Kamera- und einem Tonmann, und nun reiste er vier Monate durch das Land, drehte eine Menge Material und kehrte ausgerechnet in dem Moment nach Paris zurück, in dem die Stadt durch die Unruhen des Mai 1968 mehr oder weniger zum Stillstand gekommen war. Die Aufnahmen blieben eine Weile im Labor liegen, doch nachdem der Alltag wieder zurückgekehrt war, setzte Malle sich mit Suzanne Baron an den Schneidetisch und montierte einen Film sowie eine Fernsehserie. "Calcutta" kam im April 1969 in Frankreich in die Kinos, der wesentlich umfänglichere "L'Inde phantome", der eigentlich eine siebenteilige Serie für die BBC ist, wurde drei Monate später ebenfalls in die Säle gebracht. So liegt nun ein Korpus von mehr als sieben Stunden vor, das nun auch in Deutschland als DVD erhältlich ist: "Louis Malle Indien".
Die beiden Versionen beginnen so unterschiedlich, dass man das durchaus für systematisch relevant halten muss. Der abendfüllende Dokumentarfilm "Kalkutta" zeigt nach einem Insert, das auf das Datum der Dreharbeiten verweist (Februar 1968), mehr als zehn Minuten lang kommentarlos Szenen aus der ersten Metropole, in die Malle kam. Wir sehen Menschen, die sich in einem Hafenbecken waschen, manche beten dabei, andere lassen sich massieren. Von hier aus geht es weiter ins Gewimmel der Stadt, bis in einem Hospiz des katholischen Ordens von Mutter Teresa zum ersten Mal ein Mann in die Kamera blickt und fragt: "Warum sind Sie hier?"
Am Beginn von "Phantom India" hingegen steht das gesprochene Wort. Intellektuelle sprechen in die Kamera, sie erklären ihr Land, die Bilder, die folgen, lassen diese Reden ins Leere laufen. Hier gibt Malle auch zu erkennen, dass es eine persönliche Krise war, die ihn für Indien geöffnet hat. Die Reise fand zu einer Zeit statt, in der er im privaten Leben eine "rupture", einen Bruch, zu bewältigen hatte. In Indien erlebte er dann einen viel stärkeren Bruch, der über die persönlichen Probleme weit hinausging: Es ist der Bruch, der einen Filmemacher von einer Welt trennt, die nicht die seine ist - und die es, obwohl er sie dokumentiert, auch nicht werden kann. Die Kategorien des Kinos geraten hier in eine Krise: "Überall, wo wir hinkommen, treffen wir auf Augen, Blicke." Doch in diese Blicke bleiben so rätselhaft wie die Subjektivität, die dahinter steckt.
Ein gutes Jahrzehnt zuvor war Rossellini in Indien gewesen, der große Erkenntnisoptimist des Kinos. Ihn versetzte das Land in Euphorie, er sah überall Aufbruch und nahm die vielfachen Gegensätze so wahr, dass sie ihn gerade auf das "Maß des Menschen" verwiesen. Bei Malle hingegen deutet vieles darauf hin, dass er sich an die Grenzen seines Begriffs vom Menschen gebracht sieht. Markant wird dies schon sehr früh in "Phantom India" in einer Szene grausamer Natur: Ein toter Büffel liegt am Wegesrand, die Geier sind schon da, warten aber noch ab. Ein einzelner Hund wühlt sich mit dem Kopf in ein Loch am Anus des Büffels, bis er bis zum Hals darin verschwindet. Hier hat Malle einen Schnitt gemacht, so dass wir nicht sehen, was zu vermuten ist: wie der Hund seinen blutverschmierten, schmutzigen Kopf wieder herauszieht, mit einer Beute in den Zähnen, die unseren Ekel erregen muss. Stattdessen sehen wir, wie der Hund einmal mehr die Geier zu verscheuchen versucht, bevor die "angestammten" Aasfresser ihr Werk verrichten.
Die anthropologische Dimension dieser Szene liegt in der Form der Zeugenschaft. Während ein französischer Beobachter wie Malle, der hier wie durchweg mit seiner Kommentatorenstimme präsent ist, ein Drama sieht, sehen die Inder nichts Besonderes. Implizit stehen sie damit der Bewusstlosigkeit des Naturprozesses näher als der Besucher von außen, der als "Europäer mit Kamera" doppelt westlich bestimmt ist. Obwohl Malle im Untertitel von "Phantom India" zu Recht von "Reflexionen" spricht, die er im Ausgang von seinen filmischen Beobachtungen anstellt, gibt es im Verlauf der viermonatigen Beobachtungen ein wiederkehrendes Motiv, das darin besteht, sich zu verlieren, von sich anzusehen, sich dem Geschehen zu überlassen, das die Natur diktiert: der Monsun vor allem, der mit seinem Eintreffen oder Ausbleiben alles zu bestimmen scheint.
Indien hat natürlich viele Seiten, die dem Filmemacher entgegenkommen. Es ist ein pittoreskes Land, noch die armen Frauen in Kerala sind reich geschmückt ("sie tragen ihr Vermögen auf dem Leib", sagt Malle), die Landschaft ist vielfältig, das religiöse Universum hat eine rituelle Außenseite, die unerschöpflich scheint. Allein das Bild eines Muslims mit seinem Sohn, der anlässlich eines hohen Fests (Muharram) auf einer Straße tanzt, verweist auf die Spannung, in die jeder geläufige Begriff von Religion oder gar monotheistischer Hochreligion hier kommen muss: Denn dieser Mann sieht eher aus wie ein "Primitiver", wie ein Stammestänzer aus einer entlegenen Kultur. In Indien aber tanzt er eben auf der Straße, unbeachtet von den meisten außer den Filmemachern aus Frankreich.
Malle und sein Kameramann Étienne Becker waren sich nicht immer einig darüber, welche Beobachterposition sie mit ihrem Film suggerieren wollten: die einer diskreten, direkten Präsenz, die von den Menschen gar nicht beachtet wurde, oder die eines konstruierenden Dokumentierens nach dem Vorbild von Robert Flaherty, der die Menschen anwies, das zu tun, was sie immer getan hatten, aber eben eigens für die Kamera. Malle spricht ausdrücklich über seine "mise-en-scène", für ihn ist eine Frau am Spinnrad eine Schauspielerin. Gleichzeitig wird er zu einem Regisseur, der in erster Linie empfängt und sein Urteilsvermögen glücklich hinter sich lässt: "Ich kam dazu, alles zu akzeptieren, ohne mich zu wundern." Aber selbst an dieser Stelle bleibt er der gebildete Europäer, der bei den vielen Gegensätzen Indiens an eine surrealistische Komposition von Dingen denkt, die miteinander eigentlich nichts zu tun haben.
Die Entstehungszeit der Indien-Filme hat in der Montage schließlich doch noch deutliche Spuren hinterlassen: 1968 war auch in Indien ein Jahr, in dem über Kommunismus und Vietnam gestritten wurde, und Malle verwendete zum Beispiel in Kerala viel Geduld darauf, die Fraktionierungen der Linken nachzuvollziehen. Einem Land, das ganz und gar agrarisch geprägt war (und im Grunde heute noch ist), fehlt das Proletariat, fehlt also eine revolutionäre Klasse, die im Kastensystem auch auf eine soziale Differenzierungsform trifft, mit der die Kommunisten es schwer haben. "Eine Revolution im Sinne Maos scheint unausweichlich": Diese Folgerung, die Malle zwischendurch zieht, wirkt eher wie eine taktische Konzession an den Zeitgeist. In Wahrheit ist Indien zu komplex für eine Revolution "im Sinne" einer äußeren Intervention. Und der nagende Zweifel daran, dass es von innen her die Kraft zu entscheidender Veränderung haben könnte, verweist ihn (und uns) zurück auf grundlegende Fragen nach dem Sein von Menschen, die bei Wachstum nur an die kargen Pflanzen denken, die sie den trockenen Böden abringen.
BERT REBHANDL
Louis Malle:
"Indien"
Pierrot Le Fou. 3 DVDs, 462 Minuten. Französisch, deutsche UT, keine Extras.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Louis Malles dokumentarische Beobachtungen aus Indien
Louis Malle galt bereits als einer der bedeutendsten französischen Regisseure, als er 1967 eingeladen wurde, einige seiner Filme in Indien zu präsentieren. Er wollte eigentlich nur zwei Wochen bleiben, verlängerte seinen Aufenthalt aber auf zwei Monate. Im Februar 1968 kehrte er dann schon wieder zurück, diesmal mit einem Kamera- und einem Tonmann, und nun reiste er vier Monate durch das Land, drehte eine Menge Material und kehrte ausgerechnet in dem Moment nach Paris zurück, in dem die Stadt durch die Unruhen des Mai 1968 mehr oder weniger zum Stillstand gekommen war. Die Aufnahmen blieben eine Weile im Labor liegen, doch nachdem der Alltag wieder zurückgekehrt war, setzte Malle sich mit Suzanne Baron an den Schneidetisch und montierte einen Film sowie eine Fernsehserie. "Calcutta" kam im April 1969 in Frankreich in die Kinos, der wesentlich umfänglichere "L'Inde phantome", der eigentlich eine siebenteilige Serie für die BBC ist, wurde drei Monate später ebenfalls in die Säle gebracht. So liegt nun ein Korpus von mehr als sieben Stunden vor, das nun auch in Deutschland als DVD erhältlich ist: "Louis Malle Indien".
Die beiden Versionen beginnen so unterschiedlich, dass man das durchaus für systematisch relevant halten muss. Der abendfüllende Dokumentarfilm "Kalkutta" zeigt nach einem Insert, das auf das Datum der Dreharbeiten verweist (Februar 1968), mehr als zehn Minuten lang kommentarlos Szenen aus der ersten Metropole, in die Malle kam. Wir sehen Menschen, die sich in einem Hafenbecken waschen, manche beten dabei, andere lassen sich massieren. Von hier aus geht es weiter ins Gewimmel der Stadt, bis in einem Hospiz des katholischen Ordens von Mutter Teresa zum ersten Mal ein Mann in die Kamera blickt und fragt: "Warum sind Sie hier?"
Am Beginn von "Phantom India" hingegen steht das gesprochene Wort. Intellektuelle sprechen in die Kamera, sie erklären ihr Land, die Bilder, die folgen, lassen diese Reden ins Leere laufen. Hier gibt Malle auch zu erkennen, dass es eine persönliche Krise war, die ihn für Indien geöffnet hat. Die Reise fand zu einer Zeit statt, in der er im privaten Leben eine "rupture", einen Bruch, zu bewältigen hatte. In Indien erlebte er dann einen viel stärkeren Bruch, der über die persönlichen Probleme weit hinausging: Es ist der Bruch, der einen Filmemacher von einer Welt trennt, die nicht die seine ist - und die es, obwohl er sie dokumentiert, auch nicht werden kann. Die Kategorien des Kinos geraten hier in eine Krise: "Überall, wo wir hinkommen, treffen wir auf Augen, Blicke." Doch in diese Blicke bleiben so rätselhaft wie die Subjektivität, die dahinter steckt.
Ein gutes Jahrzehnt zuvor war Rossellini in Indien gewesen, der große Erkenntnisoptimist des Kinos. Ihn versetzte das Land in Euphorie, er sah überall Aufbruch und nahm die vielfachen Gegensätze so wahr, dass sie ihn gerade auf das "Maß des Menschen" verwiesen. Bei Malle hingegen deutet vieles darauf hin, dass er sich an die Grenzen seines Begriffs vom Menschen gebracht sieht. Markant wird dies schon sehr früh in "Phantom India" in einer Szene grausamer Natur: Ein toter Büffel liegt am Wegesrand, die Geier sind schon da, warten aber noch ab. Ein einzelner Hund wühlt sich mit dem Kopf in ein Loch am Anus des Büffels, bis er bis zum Hals darin verschwindet. Hier hat Malle einen Schnitt gemacht, so dass wir nicht sehen, was zu vermuten ist: wie der Hund seinen blutverschmierten, schmutzigen Kopf wieder herauszieht, mit einer Beute in den Zähnen, die unseren Ekel erregen muss. Stattdessen sehen wir, wie der Hund einmal mehr die Geier zu verscheuchen versucht, bevor die "angestammten" Aasfresser ihr Werk verrichten.
Die anthropologische Dimension dieser Szene liegt in der Form der Zeugenschaft. Während ein französischer Beobachter wie Malle, der hier wie durchweg mit seiner Kommentatorenstimme präsent ist, ein Drama sieht, sehen die Inder nichts Besonderes. Implizit stehen sie damit der Bewusstlosigkeit des Naturprozesses näher als der Besucher von außen, der als "Europäer mit Kamera" doppelt westlich bestimmt ist. Obwohl Malle im Untertitel von "Phantom India" zu Recht von "Reflexionen" spricht, die er im Ausgang von seinen filmischen Beobachtungen anstellt, gibt es im Verlauf der viermonatigen Beobachtungen ein wiederkehrendes Motiv, das darin besteht, sich zu verlieren, von sich anzusehen, sich dem Geschehen zu überlassen, das die Natur diktiert: der Monsun vor allem, der mit seinem Eintreffen oder Ausbleiben alles zu bestimmen scheint.
Indien hat natürlich viele Seiten, die dem Filmemacher entgegenkommen. Es ist ein pittoreskes Land, noch die armen Frauen in Kerala sind reich geschmückt ("sie tragen ihr Vermögen auf dem Leib", sagt Malle), die Landschaft ist vielfältig, das religiöse Universum hat eine rituelle Außenseite, die unerschöpflich scheint. Allein das Bild eines Muslims mit seinem Sohn, der anlässlich eines hohen Fests (Muharram) auf einer Straße tanzt, verweist auf die Spannung, in die jeder geläufige Begriff von Religion oder gar monotheistischer Hochreligion hier kommen muss: Denn dieser Mann sieht eher aus wie ein "Primitiver", wie ein Stammestänzer aus einer entlegenen Kultur. In Indien aber tanzt er eben auf der Straße, unbeachtet von den meisten außer den Filmemachern aus Frankreich.
Malle und sein Kameramann Étienne Becker waren sich nicht immer einig darüber, welche Beobachterposition sie mit ihrem Film suggerieren wollten: die einer diskreten, direkten Präsenz, die von den Menschen gar nicht beachtet wurde, oder die eines konstruierenden Dokumentierens nach dem Vorbild von Robert Flaherty, der die Menschen anwies, das zu tun, was sie immer getan hatten, aber eben eigens für die Kamera. Malle spricht ausdrücklich über seine "mise-en-scène", für ihn ist eine Frau am Spinnrad eine Schauspielerin. Gleichzeitig wird er zu einem Regisseur, der in erster Linie empfängt und sein Urteilsvermögen glücklich hinter sich lässt: "Ich kam dazu, alles zu akzeptieren, ohne mich zu wundern." Aber selbst an dieser Stelle bleibt er der gebildete Europäer, der bei den vielen Gegensätzen Indiens an eine surrealistische Komposition von Dingen denkt, die miteinander eigentlich nichts zu tun haben.
Die Entstehungszeit der Indien-Filme hat in der Montage schließlich doch noch deutliche Spuren hinterlassen: 1968 war auch in Indien ein Jahr, in dem über Kommunismus und Vietnam gestritten wurde, und Malle verwendete zum Beispiel in Kerala viel Geduld darauf, die Fraktionierungen der Linken nachzuvollziehen. Einem Land, das ganz und gar agrarisch geprägt war (und im Grunde heute noch ist), fehlt das Proletariat, fehlt also eine revolutionäre Klasse, die im Kastensystem auch auf eine soziale Differenzierungsform trifft, mit der die Kommunisten es schwer haben. "Eine Revolution im Sinne Maos scheint unausweichlich": Diese Folgerung, die Malle zwischendurch zieht, wirkt eher wie eine taktische Konzession an den Zeitgeist. In Wahrheit ist Indien zu komplex für eine Revolution "im Sinne" einer äußeren Intervention. Und der nagende Zweifel daran, dass es von innen her die Kraft zu entscheidender Veränderung haben könnte, verweist ihn (und uns) zurück auf grundlegende Fragen nach dem Sein von Menschen, die bei Wachstum nur an die kargen Pflanzen denken, die sie den trockenen Böden abringen.
BERT REBHANDL
Louis Malle:
"Indien"
Pierrot Le Fou. 3 DVDs, 462 Minuten. Französisch, deutsche UT, keine Extras.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main