1941. Der Osten Europas erbebt unter der Gewalt des Zweiten Weltkriegs. Unerbittlich rücken die deutschen Truppen vor und zermalmen alles, was sich ihnen entgegenstellt. In einem kleinen jüdischen Dorf geht die Angst um, seinen Bürgern könne es bald so gehen wie vielen anderen davor: Eliminierung, Ermordung, Verschleppung. Dorfnarr Schlomo hat den rettenden Einfall: Um den Deutschen zuvor zu kommen, sollen sich die Dorfbewohner selbst deponieren und so die Flucht nach Palästina antreten. In einem getarnten Güterwagon tritt der Zug des Lebens seine Irrfahrt ins gelobte Land an. Zunächst läuft alles nach Plan, doch schon bald heften sich nicht nur die Deutschen an seine Fersen...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2000Bis zur letzten Saite
Dem Grauen mit Humor die Stirn bieten: In Radu Mihaileanus Film "Zug des Lebens" weiß nur der Narr guten Rat
Da steht er nun, der Narr des Dorfes, Shlomo, dem Rat der Weisen gegenüber. Eben noch rannte er im Wald um sein Leben, mit Augen, die vor Angst geweitet waren, weil sie mit ansehen mussten, wie die deutschen Truppen das benachbarte Shtetl dem Erdboden gleichmachten und marodierend weiterzogen. Tod und Vernichtung rücken stündlich näher. Doch Shlomo hat einen Plan: Der Narr rät den Weisen, die Bewohner seines Dorfes sollten sich selbst deportieren, einen Zug zusammenstellen und versuchen, über Russland ins Gelobte Land zu gelangen. Shlomo steht mitten im Dorf und malt die Zukunft, die eben noch völlig hoffnungslos schien, mit großen Worten und Gesten aus. Hinter ihm, über dem Dach eines Hauses, leuchtet die rötliche Sonne, von der wir nicht wissen, ob sie gerade auf- oder untergeht. Sie sendet ihre wärmenden Strahlen über die Szenerie - ein echter Hoffnungsschimmer oder nur der falsche Schein?
Fast dreißig Jahre früher: ein anderer Film, ein ganz ähnliches Bild. Ebenfalls in CinemaScope, jenem Format, in dem Lebenslust und Todesangst Platz genug haben, sich nebeneinander auszubreiten, sehen wir einen Hochzeitszug durch ein Shtetl ziehen. Genau dort, wo in dem Film "Zug des Lebens" das Haus steht, befindet sich in "Fiddler on the Roof" (Anatevka, 1971) noch ein Baum. Durch die Zweige bricht das Licht der Abendsonne, und wir wissen, dass hier weit mehr dämmert als der Tag: Während die Hochzeit gefeiert wird, kommen die Soldaten des Zaren als Vorhut des Pogroms immer näher. Der Geiger, der in der ersten Sequenz im Licht der Morgensonne auf dem Giebel eines Hauses die Balance zu halten versucht, fährt auch im "Zug des Lebens" mit: Er steht auf dem Dach des Waggons, die Arme ausgebreitet, die Violine in der einen Hand, sich dem Wind entgegenstemmend. Am Ende des Films wird auf der letzten noch verbliebenen Saite gespielt.
Ungefähr die gleiche Anzahl der Jahre, die beide Filme voneinander trennt, liegt auch zwischen den Zeiten, in denen sie spielen: "Fiddler on the Roof" versetzt uns ins vorrevolutionäre Russland, "Zug des Lebens" erzählt von den Bewohnern eines nicht näher bestimmten osteuropäischen Shtetls im Jahr 1941. Doch Norman Jewisons überaus erfolgreiches Musical, das wie kein zweiter Film das Bild von jüdischer Kultur im Kino prägte, ist die erste Station, an der der aus Rumänien stammende Regisseur Radu Mihaileanu in dieser französischen Produktion Halt macht. Eine Sequenz, in der die Einwohner zu musikalischer Begleitung alle handwerklichen Fähigkeiten aufbieten, ist eine Reminiszenz an die legendäre "Tradition"-Nummer in "Fiddler on the Roof", in der im Rhythmus der Musik Fleisch geklopft, Teig gerollt und Eisen geschmiedet wird. Gleitet die Kamera bei Jewison von einem Soldaten auf seinem Pferd hinab zu den Menschen auf der Straße und bahnt sich dann einen Weg zu zwei Schachspielern, die alle Zeit der Welt zu haben scheinen, so setzt auch Mihaileanu das Geschehen in langen Einstellungen in Szene: Nur hat die Kamera bei ihm keineswegs die Ruhe weg, sondern wendet sich hektisch hin und her, weil sie keine Sekunde zu verlieren hat. Wie die Bewohner scheint auch sie zu ahnen, dass jeder Schritt eine Fluchtbewegung sein muss.
War das Leben nicht schön? Diese Frage, die "Fiddler on the Roof" in der ersten Hälfte stellt, bevor die Vertreibung beginnt, ist in "Zug des Lebens" obsolet: Mihaileanu zeigt die Folkore von Anfang an am Rande ihres Untergangs. Doch er will die Vitalität und Phantasie der Bewohner des Shtetls gegen die Brutalität und Rohheit ihrer Verfolger setzen, dem Grauen mit Humor die Stirn bieten: Einmal flattert dem Lokführer ein Dokument der Nazis ins verschwitzte Gesicht, und danach zeichnet sich für einige Zeit der aufgestempelte Reichsadler direkt über seinen Augenbrauen ab. Das Weitwinkel-Objektiv, das die Gesichtszüge des Mannes ins Groteske verzieht, macht diese Szene zu einem filmischen Comic. Mihaileanu bedient sich einer ausgeprägten Typage, um seine Figuren zu zeichnen: Der Buchhalter des Shtetls (Bruno Abraham-Kremer) ist kaum mehr als ein kleiner Mann vor einer Wand voller Akten. Der Kommunist (Michel Muller) ist bebrillt und beschränkt, die Dorfschöne (Agathe De La Fontaine) niedlich und liebeshungrig. Der Rat der Weisen wird fast immer als Einheit ins Bild gesetzt - CinemaScope ist hierfür wie geschaffen -, zu selten gönnt es uns der Film, die einzelnen Gesichter in Ruhe betrachten zu dürfen.
Mihaileanu weigert sich letztlich, seinen Figuren so viel Individualität zu geben, dass sie ins Leben treten können. Es scheint, als wollte er schon vor Beginn der Fahrt die Emotionalität abkoppeln. Auch die Begegnungen mit den Deutschen wirken nie wirklich Furcht einflößend. Ein paar Uniformen und ein bisschen Laienschauspielerei genügen, und schon gehen die Juden als stramme Nazis durch. Zwar ist es eine hübsche Idee, dass sie ihre ureigenen handwerklichen Fähigkeiten lebensrettend einsetzen können und den Uniformen im Handumdrehen einen höheren Dienstgrad aufnähen, doch bringt uns Mihaileanu mit all diesen Szenen in Zugzwang: Wir kommen nicht umhin, sie an den Camouflagen zu messen, die wir seit Lubitschs "Sein oder Nichtsein" aus dem Kino kennen, und stellen fest, dass es ihnen in "Zug des Lebens" an der notwendigen Schärfe, Originalität und Bedrohlichkeit, die dem Humor erst ihre Kraft gibt, mangelt. Die Nazis sind in diesem Film Pappkameraden, die man nur umpusten muss. Den wahren Schrecken verbannt Mihaileanu komplett in ein Schlussbild, das alles Vorherige in einem gänzlich anderen Licht zeigt und uns nicht nur das Lachen im Halse stecken bleiben lässt, sondern geradezu die Kehle zuschnüren soll. Aber dieses Ende wirkt aufgesetzt: Ergeben dreißig Sekunden Tragödie nach hundert Minuten Komödie eine Tragikomödie?
Die Balance von Albernheit und Grausamkeit, die Roberto Benignis Film "Das Leben ist schön" auszeichnet, glückt Mihaileanu nicht. Oft wirkt sein Film, als wäre er auf halber Strecke zwischen Idee und Umsetzung stehen geblieben. Als die Bewohner des Shtetls bei ihrer Reise das erste Mal anhalten, kommt plötzlich aus dem Nichts ein Zug aus der anderen Richtung angeschossen und überrascht alle. Dass sie ihn schon Minuten vorher gehört und gesehen haben müssten, schert Mihaileanu wenig.
Aus heiterem Himmel gesteht Shlomo (Lionel Abelanski) der Dorfschönen seine Liebe. Für seine Gefühle ihr gegenüber gab es bisher kein Anzeichen, doch der Film braucht sie in diesem Moment, um eine kleine melancholisch-sentimentale Note ins Spiel zu bringen. Und wenn jene Juden, die in die Uniformen der Naizs geschlüpft sind, auf einmal Herrenmenschengehabe annehmen, dann wird uns demonstriert, dass Kleider unter bestimmten Bedingungen Leute machen können. Aber dies erscheint nur wie ein Klischee, das sich der Film schnell überstreift, statt wie eine Erkenntnis, die er mit Leben füllen kann.
LARS-OLAV BEIER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dem Grauen mit Humor die Stirn bieten: In Radu Mihaileanus Film "Zug des Lebens" weiß nur der Narr guten Rat
Da steht er nun, der Narr des Dorfes, Shlomo, dem Rat der Weisen gegenüber. Eben noch rannte er im Wald um sein Leben, mit Augen, die vor Angst geweitet waren, weil sie mit ansehen mussten, wie die deutschen Truppen das benachbarte Shtetl dem Erdboden gleichmachten und marodierend weiterzogen. Tod und Vernichtung rücken stündlich näher. Doch Shlomo hat einen Plan: Der Narr rät den Weisen, die Bewohner seines Dorfes sollten sich selbst deportieren, einen Zug zusammenstellen und versuchen, über Russland ins Gelobte Land zu gelangen. Shlomo steht mitten im Dorf und malt die Zukunft, die eben noch völlig hoffnungslos schien, mit großen Worten und Gesten aus. Hinter ihm, über dem Dach eines Hauses, leuchtet die rötliche Sonne, von der wir nicht wissen, ob sie gerade auf- oder untergeht. Sie sendet ihre wärmenden Strahlen über die Szenerie - ein echter Hoffnungsschimmer oder nur der falsche Schein?
Fast dreißig Jahre früher: ein anderer Film, ein ganz ähnliches Bild. Ebenfalls in CinemaScope, jenem Format, in dem Lebenslust und Todesangst Platz genug haben, sich nebeneinander auszubreiten, sehen wir einen Hochzeitszug durch ein Shtetl ziehen. Genau dort, wo in dem Film "Zug des Lebens" das Haus steht, befindet sich in "Fiddler on the Roof" (Anatevka, 1971) noch ein Baum. Durch die Zweige bricht das Licht der Abendsonne, und wir wissen, dass hier weit mehr dämmert als der Tag: Während die Hochzeit gefeiert wird, kommen die Soldaten des Zaren als Vorhut des Pogroms immer näher. Der Geiger, der in der ersten Sequenz im Licht der Morgensonne auf dem Giebel eines Hauses die Balance zu halten versucht, fährt auch im "Zug des Lebens" mit: Er steht auf dem Dach des Waggons, die Arme ausgebreitet, die Violine in der einen Hand, sich dem Wind entgegenstemmend. Am Ende des Films wird auf der letzten noch verbliebenen Saite gespielt.
Ungefähr die gleiche Anzahl der Jahre, die beide Filme voneinander trennt, liegt auch zwischen den Zeiten, in denen sie spielen: "Fiddler on the Roof" versetzt uns ins vorrevolutionäre Russland, "Zug des Lebens" erzählt von den Bewohnern eines nicht näher bestimmten osteuropäischen Shtetls im Jahr 1941. Doch Norman Jewisons überaus erfolgreiches Musical, das wie kein zweiter Film das Bild von jüdischer Kultur im Kino prägte, ist die erste Station, an der der aus Rumänien stammende Regisseur Radu Mihaileanu in dieser französischen Produktion Halt macht. Eine Sequenz, in der die Einwohner zu musikalischer Begleitung alle handwerklichen Fähigkeiten aufbieten, ist eine Reminiszenz an die legendäre "Tradition"-Nummer in "Fiddler on the Roof", in der im Rhythmus der Musik Fleisch geklopft, Teig gerollt und Eisen geschmiedet wird. Gleitet die Kamera bei Jewison von einem Soldaten auf seinem Pferd hinab zu den Menschen auf der Straße und bahnt sich dann einen Weg zu zwei Schachspielern, die alle Zeit der Welt zu haben scheinen, so setzt auch Mihaileanu das Geschehen in langen Einstellungen in Szene: Nur hat die Kamera bei ihm keineswegs die Ruhe weg, sondern wendet sich hektisch hin und her, weil sie keine Sekunde zu verlieren hat. Wie die Bewohner scheint auch sie zu ahnen, dass jeder Schritt eine Fluchtbewegung sein muss.
War das Leben nicht schön? Diese Frage, die "Fiddler on the Roof" in der ersten Hälfte stellt, bevor die Vertreibung beginnt, ist in "Zug des Lebens" obsolet: Mihaileanu zeigt die Folkore von Anfang an am Rande ihres Untergangs. Doch er will die Vitalität und Phantasie der Bewohner des Shtetls gegen die Brutalität und Rohheit ihrer Verfolger setzen, dem Grauen mit Humor die Stirn bieten: Einmal flattert dem Lokführer ein Dokument der Nazis ins verschwitzte Gesicht, und danach zeichnet sich für einige Zeit der aufgestempelte Reichsadler direkt über seinen Augenbrauen ab. Das Weitwinkel-Objektiv, das die Gesichtszüge des Mannes ins Groteske verzieht, macht diese Szene zu einem filmischen Comic. Mihaileanu bedient sich einer ausgeprägten Typage, um seine Figuren zu zeichnen: Der Buchhalter des Shtetls (Bruno Abraham-Kremer) ist kaum mehr als ein kleiner Mann vor einer Wand voller Akten. Der Kommunist (Michel Muller) ist bebrillt und beschränkt, die Dorfschöne (Agathe De La Fontaine) niedlich und liebeshungrig. Der Rat der Weisen wird fast immer als Einheit ins Bild gesetzt - CinemaScope ist hierfür wie geschaffen -, zu selten gönnt es uns der Film, die einzelnen Gesichter in Ruhe betrachten zu dürfen.
Mihaileanu weigert sich letztlich, seinen Figuren so viel Individualität zu geben, dass sie ins Leben treten können. Es scheint, als wollte er schon vor Beginn der Fahrt die Emotionalität abkoppeln. Auch die Begegnungen mit den Deutschen wirken nie wirklich Furcht einflößend. Ein paar Uniformen und ein bisschen Laienschauspielerei genügen, und schon gehen die Juden als stramme Nazis durch. Zwar ist es eine hübsche Idee, dass sie ihre ureigenen handwerklichen Fähigkeiten lebensrettend einsetzen können und den Uniformen im Handumdrehen einen höheren Dienstgrad aufnähen, doch bringt uns Mihaileanu mit all diesen Szenen in Zugzwang: Wir kommen nicht umhin, sie an den Camouflagen zu messen, die wir seit Lubitschs "Sein oder Nichtsein" aus dem Kino kennen, und stellen fest, dass es ihnen in "Zug des Lebens" an der notwendigen Schärfe, Originalität und Bedrohlichkeit, die dem Humor erst ihre Kraft gibt, mangelt. Die Nazis sind in diesem Film Pappkameraden, die man nur umpusten muss. Den wahren Schrecken verbannt Mihaileanu komplett in ein Schlussbild, das alles Vorherige in einem gänzlich anderen Licht zeigt und uns nicht nur das Lachen im Halse stecken bleiben lässt, sondern geradezu die Kehle zuschnüren soll. Aber dieses Ende wirkt aufgesetzt: Ergeben dreißig Sekunden Tragödie nach hundert Minuten Komödie eine Tragikomödie?
Die Balance von Albernheit und Grausamkeit, die Roberto Benignis Film "Das Leben ist schön" auszeichnet, glückt Mihaileanu nicht. Oft wirkt sein Film, als wäre er auf halber Strecke zwischen Idee und Umsetzung stehen geblieben. Als die Bewohner des Shtetls bei ihrer Reise das erste Mal anhalten, kommt plötzlich aus dem Nichts ein Zug aus der anderen Richtung angeschossen und überrascht alle. Dass sie ihn schon Minuten vorher gehört und gesehen haben müssten, schert Mihaileanu wenig.
Aus heiterem Himmel gesteht Shlomo (Lionel Abelanski) der Dorfschönen seine Liebe. Für seine Gefühle ihr gegenüber gab es bisher kein Anzeichen, doch der Film braucht sie in diesem Moment, um eine kleine melancholisch-sentimentale Note ins Spiel zu bringen. Und wenn jene Juden, die in die Uniformen der Naizs geschlüpft sind, auf einmal Herrenmenschengehabe annehmen, dann wird uns demonstriert, dass Kleider unter bestimmten Bedingungen Leute machen können. Aber dies erscheint nur wie ein Klischee, das sich der Film schnell überstreift, statt wie eine Erkenntnis, die er mit Leben füllen kann.
LARS-OLAV BEIER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main