Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2023Freiheit ist die beste Braut
Pilgerfahrt, Aphorismensammlung, existenzielle Männlichkeitsuntersuchung mit Selbstfindungsabsichten: Der Kinofilm "Auf dem Weg" mit Jean Dujardin hat sich eine Menge Stoff und zahlreiche Themen vorgenommen und erledigt seine monumentalen Aufgaben parallel und teils in Rückblenden.
Es gibt Menschen, die wollen in die Geschichte eingehen, und andere, die wollen sich in der Geographie verlieren. Das ist ein hübscher Aphorismus, wie er einem einfallen kann, wenn man viel Zeit und eine entsprechenden Begabung hat. In dem Film "Auf dem Weg" ("Sur les chemins noirs") von Denis Imbert gibt es viele solcher pointierter Bemerkungen. Sie stammen alle aus dem Buch von Sylvain Tesson, das auf Deutsch unter dem Titel "Auf versunkenen Wegen" erschien. Ein Buch mit Pilgererfahrungen, vergleichbar den vielen Zeugnissen vom Jakobsweg, nur deutlich gravitätischer als das, was etwa Hape Kerkeling als Errungenschaft seiner müden Glieder präsentiert hat. Pierre heißt der französische Wandersmann, der sich eine Route aus dem Südosten nach dem Nordwesten verordnet hat: einmal quer durch das Land, und zwar nach Möglichkeit geradeaus, durch tiefe Täler und über hohe Kämme. Ab und zu einmal eine Brasserie, zum Beispiel im Zentralmassiv, ist nicht verboten, aber meistens sitzt Pierre abends bei einem kleinen Feuerchen (illegal, das weiß er) und drängt sich zum Schlafen auf seiner Matte unter eine Felskante oder einen Busch. Unterwegs zu "der einzigen Braut, die einen niemals enttäuscht: der Freiheit".
Ein Film, der im Wesentlichen von einer Figur erzählt, die auch nicht viel redet, braucht einen starken Hauptdarsteller. Jean Dujardin, seit "The Artist" auch international ein Superstar, bringt genau die richtige Mischung aus physischer Virilität und Sensibilität mit, die es für dieses große Solo mit Landschaft braucht. Er verkörpert auch überzeugend die beiden Seiten dieser Figur: das ungebärdig Vitale und das ungebrochen Eigensinnige. Denn Pierre ist eigentlich zweimal "Auf dem Weg": einmal in den persönlichen Untergang, durch Suff und Erfolg, und einmal zu sich selbst, nach einem schweren Unfall, nach dem er nur knapp dem Rollstuhl entkommt. Der Film führt diese Wege parallel: während der eigentlich noch rekonvaleszente Pierre die ersten Schritte in sein neues Leben macht, zur Sicherheit mit Gehstöcken und noch ein bisschen windschief, taucht der frühere Pierre in kurzen Rückblenden immer wieder auf. Ein erfolgreicher Reiseschriftsteller, der von einem seiner Bücher mehr als 500.000 Exemplare verkauft hat. Ein Charmeur, der eine junge Frau, die sich zum Signieren anstellt, mit einem kessen Wort herumkriegt.
Diese Beziehung wird später ziemlich fadenscheinig auf die allernötigsten Stationen reduziert: sexuelle Innigkeit, mondäne Partyszene, Trennung im Krankenhaus. Der frühere Pierre ist nicht zuletzt eine Karikatur, ein Wesen, das aus groben Strichen besteht. Ein bloßer Ausgangspunkt, nach seinem Absturz. Acht Meter abwärts, einmal auf die Schnauze, einmal ein Fingerzeig in eine neuen Richtung. Denn es gibt Menschen, die herrschen, und es gibt Menschen, die sich beherrschen lassen. So hat es Napoleon gesagt, zitiert Sylvain Tesson. Pierre möchte aber weder, noch, er sieht sich als Vertreter eines dritten Schlags: Menschen, die fliehen. Menschen, die sich davonmachen. Diese Menschen kommen, so die Suggestion von "Auf dem Weg" und vieler vergleichbarer Geschichten, bei sich selbst an. Sie finden Heilung. Selbst ein Wrack wie Pierre ist am Ende ein halbwegs brauchbares Menschenwesen.
In Frankreich herrscht kein Mangel an passenden Hintergründen. Das Land ist sehenswert mehr oder weniger in jedem Winkel. Und wenn eine Filmproduktion sich auf den Weg macht, die nicht sparen muss, dann stellt sich leicht eine gewisse Postkarten-Ästhetik ein. Das Prinzip Querfeldein, das Pierre sich auferlegt hat und das er zwar nicht buchstäblich, aber doch auf so mancher schnöden asphaltierten Straße und auch ab und zu in einem unscheinbaren Mischwald durchhält, gilt nicht für die Kamera. Die kommt überall hinauf, verschafft sich mit Drohnen die wunderbarsten Panoramen und stellt Pierre oft in eine Perspektive, in der ein Mensch in seiner Winzigkeit wie ein Passant des Zeitlichen in einer Welt des beinahe Ewigen wirkt. Auch das ist natürlich Effekt der Übung der Bescheidung.
Man geht in die Natur, um sich einzuordnen, um den Mittelpunkt, in den die meisten Menschen aus naheliegenden Gründen sich selbst stellen, neu zu bestimmen. Pierre kehrt bei Mönchen ein, lässt sich Schriftstellen vorlesen, auch das Indizien seiner überkonfessionellen Religiosität, die in erster Linie eine des Abstands ist. Wenn er seine Socken in einem kalten Fluss wäscht, ist er beinahe schon ein Siddharta, wenn er ein Dorf verlässt, in dem hinter ihm in der Bildunschärfe pittoresk ein paar Gitanes zum Tanz aufspielen, dann ist er wie Jesus, der seine Jünger dazu anhielt, den Staub von ihren Füßen zu schütteln.
Pierre flieht vor der "Massifizierung", hat aber auch keine Freude an der Einsamkeit der Dörfer. Dort fehlt es an Ärzten, an Apotheken, an fast allem, immerhin erreichen ihn aber gelegentlich Pakete, in denen er aber keine Dauerwurst findet, sondern neue Landkarten.
Er orientiert sich analog, von der Versorgung mit Breitband-Konnektivität in der französischen Provinz kriegt er nichts mit. Das wäre ja wieder eine unheilsame Sorge. Unter Windrädern marschiert er stoisch durch, als sähe er sie gar nicht. Sie sind für das Publikum, das in diesem Moment wohl nicht an den eigenen Stromzähler denken wird. Gelegentlich gesellt sich ihm jemand bei, auf Verabredung oder auch durch Zufall. Ein junger Mann geht fünf Tage an seiner Seite, am Ende bekommt der das kleine Buch, das Pierre mit sich führt. "Zorro?" "Nein, Thoreau." "Pardon, ich lese eigentlich nichts." Da ist der Plom du Cantal, der zweithöchste Berg, schon passiert, und der Mont Saint- Michel, das Ziel der Reise, ist quasi schon in geistiger Sichtweite.
Erst kürzlich gab es einen französischen Film, der "Die einfachen Dinge" wieder in den Mittelpunkt zu rücken versuchte. Und von der Geisteshaltung (und der Aphoristik) von Sylvain Tesson konnte man auch in "Der Schneeleopard" einen Eindruck gewinnen, wo das sehr geduldige Ansitzen auf einen (fotografischen) Schuss auf eine sehr scheue Raubkatze allerlei gewichtige Sentenzen eingab. "Auf dem Weg" gehört in diesen Zusammenhang. Er zielt auf einen spirituellen Weg. Anders als bei den logistisch bestens erschlossenen Etappen nach Santiago de Compostela auf dem nach dem Apostel Jakobus benannten Camino wird aus den "schwarzen" Wegen von Pierre nicht so schnell eine Industrie werden. Nachahmer wird es aber sicher geben. Wer also authentischere Eindrücke von einer Passage einmal quer durch Frankreich sucht, wird wahrscheinlich auch auf Youtube fündig, bei Go-Pro-Aufnahmen, die vielleicht weniger heilsam, aber auch weniger "massifiziert" sind. BERT REBHANDL
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Pilgerfahrt, Aphorismensammlung, existenzielle Männlichkeitsuntersuchung mit Selbstfindungsabsichten: Der Kinofilm "Auf dem Weg" mit Jean Dujardin hat sich eine Menge Stoff und zahlreiche Themen vorgenommen und erledigt seine monumentalen Aufgaben parallel und teils in Rückblenden.
Es gibt Menschen, die wollen in die Geschichte eingehen, und andere, die wollen sich in der Geographie verlieren. Das ist ein hübscher Aphorismus, wie er einem einfallen kann, wenn man viel Zeit und eine entsprechenden Begabung hat. In dem Film "Auf dem Weg" ("Sur les chemins noirs") von Denis Imbert gibt es viele solcher pointierter Bemerkungen. Sie stammen alle aus dem Buch von Sylvain Tesson, das auf Deutsch unter dem Titel "Auf versunkenen Wegen" erschien. Ein Buch mit Pilgererfahrungen, vergleichbar den vielen Zeugnissen vom Jakobsweg, nur deutlich gravitätischer als das, was etwa Hape Kerkeling als Errungenschaft seiner müden Glieder präsentiert hat. Pierre heißt der französische Wandersmann, der sich eine Route aus dem Südosten nach dem Nordwesten verordnet hat: einmal quer durch das Land, und zwar nach Möglichkeit geradeaus, durch tiefe Täler und über hohe Kämme. Ab und zu einmal eine Brasserie, zum Beispiel im Zentralmassiv, ist nicht verboten, aber meistens sitzt Pierre abends bei einem kleinen Feuerchen (illegal, das weiß er) und drängt sich zum Schlafen auf seiner Matte unter eine Felskante oder einen Busch. Unterwegs zu "der einzigen Braut, die einen niemals enttäuscht: der Freiheit".
Ein Film, der im Wesentlichen von einer Figur erzählt, die auch nicht viel redet, braucht einen starken Hauptdarsteller. Jean Dujardin, seit "The Artist" auch international ein Superstar, bringt genau die richtige Mischung aus physischer Virilität und Sensibilität mit, die es für dieses große Solo mit Landschaft braucht. Er verkörpert auch überzeugend die beiden Seiten dieser Figur: das ungebärdig Vitale und das ungebrochen Eigensinnige. Denn Pierre ist eigentlich zweimal "Auf dem Weg": einmal in den persönlichen Untergang, durch Suff und Erfolg, und einmal zu sich selbst, nach einem schweren Unfall, nach dem er nur knapp dem Rollstuhl entkommt. Der Film führt diese Wege parallel: während der eigentlich noch rekonvaleszente Pierre die ersten Schritte in sein neues Leben macht, zur Sicherheit mit Gehstöcken und noch ein bisschen windschief, taucht der frühere Pierre in kurzen Rückblenden immer wieder auf. Ein erfolgreicher Reiseschriftsteller, der von einem seiner Bücher mehr als 500.000 Exemplare verkauft hat. Ein Charmeur, der eine junge Frau, die sich zum Signieren anstellt, mit einem kessen Wort herumkriegt.
Diese Beziehung wird später ziemlich fadenscheinig auf die allernötigsten Stationen reduziert: sexuelle Innigkeit, mondäne Partyszene, Trennung im Krankenhaus. Der frühere Pierre ist nicht zuletzt eine Karikatur, ein Wesen, das aus groben Strichen besteht. Ein bloßer Ausgangspunkt, nach seinem Absturz. Acht Meter abwärts, einmal auf die Schnauze, einmal ein Fingerzeig in eine neuen Richtung. Denn es gibt Menschen, die herrschen, und es gibt Menschen, die sich beherrschen lassen. So hat es Napoleon gesagt, zitiert Sylvain Tesson. Pierre möchte aber weder, noch, er sieht sich als Vertreter eines dritten Schlags: Menschen, die fliehen. Menschen, die sich davonmachen. Diese Menschen kommen, so die Suggestion von "Auf dem Weg" und vieler vergleichbarer Geschichten, bei sich selbst an. Sie finden Heilung. Selbst ein Wrack wie Pierre ist am Ende ein halbwegs brauchbares Menschenwesen.
In Frankreich herrscht kein Mangel an passenden Hintergründen. Das Land ist sehenswert mehr oder weniger in jedem Winkel. Und wenn eine Filmproduktion sich auf den Weg macht, die nicht sparen muss, dann stellt sich leicht eine gewisse Postkarten-Ästhetik ein. Das Prinzip Querfeldein, das Pierre sich auferlegt hat und das er zwar nicht buchstäblich, aber doch auf so mancher schnöden asphaltierten Straße und auch ab und zu in einem unscheinbaren Mischwald durchhält, gilt nicht für die Kamera. Die kommt überall hinauf, verschafft sich mit Drohnen die wunderbarsten Panoramen und stellt Pierre oft in eine Perspektive, in der ein Mensch in seiner Winzigkeit wie ein Passant des Zeitlichen in einer Welt des beinahe Ewigen wirkt. Auch das ist natürlich Effekt der Übung der Bescheidung.
Man geht in die Natur, um sich einzuordnen, um den Mittelpunkt, in den die meisten Menschen aus naheliegenden Gründen sich selbst stellen, neu zu bestimmen. Pierre kehrt bei Mönchen ein, lässt sich Schriftstellen vorlesen, auch das Indizien seiner überkonfessionellen Religiosität, die in erster Linie eine des Abstands ist. Wenn er seine Socken in einem kalten Fluss wäscht, ist er beinahe schon ein Siddharta, wenn er ein Dorf verlässt, in dem hinter ihm in der Bildunschärfe pittoresk ein paar Gitanes zum Tanz aufspielen, dann ist er wie Jesus, der seine Jünger dazu anhielt, den Staub von ihren Füßen zu schütteln.
Pierre flieht vor der "Massifizierung", hat aber auch keine Freude an der Einsamkeit der Dörfer. Dort fehlt es an Ärzten, an Apotheken, an fast allem, immerhin erreichen ihn aber gelegentlich Pakete, in denen er aber keine Dauerwurst findet, sondern neue Landkarten.
Er orientiert sich analog, von der Versorgung mit Breitband-Konnektivität in der französischen Provinz kriegt er nichts mit. Das wäre ja wieder eine unheilsame Sorge. Unter Windrädern marschiert er stoisch durch, als sähe er sie gar nicht. Sie sind für das Publikum, das in diesem Moment wohl nicht an den eigenen Stromzähler denken wird. Gelegentlich gesellt sich ihm jemand bei, auf Verabredung oder auch durch Zufall. Ein junger Mann geht fünf Tage an seiner Seite, am Ende bekommt der das kleine Buch, das Pierre mit sich führt. "Zorro?" "Nein, Thoreau." "Pardon, ich lese eigentlich nichts." Da ist der Plom du Cantal, der zweithöchste Berg, schon passiert, und der Mont Saint- Michel, das Ziel der Reise, ist quasi schon in geistiger Sichtweite.
Erst kürzlich gab es einen französischen Film, der "Die einfachen Dinge" wieder in den Mittelpunkt zu rücken versuchte. Und von der Geisteshaltung (und der Aphoristik) von Sylvain Tesson konnte man auch in "Der Schneeleopard" einen Eindruck gewinnen, wo das sehr geduldige Ansitzen auf einen (fotografischen) Schuss auf eine sehr scheue Raubkatze allerlei gewichtige Sentenzen eingab. "Auf dem Weg" gehört in diesen Zusammenhang. Er zielt auf einen spirituellen Weg. Anders als bei den logistisch bestens erschlossenen Etappen nach Santiago de Compostela auf dem nach dem Apostel Jakobus benannten Camino wird aus den "schwarzen" Wegen von Pierre nicht so schnell eine Industrie werden. Nachahmer wird es aber sicher geben. Wer also authentischere Eindrücke von einer Passage einmal quer durch Frankreich sucht, wird wahrscheinlich auch auf Youtube fündig, bei Go-Pro-Aufnahmen, die vielleicht weniger heilsam, aber auch weniger "massifiziert" sind. BERT REBHANDL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main