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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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Bei dieser Autorin ist man in bester Gesellschaft: Sarah Kuttner liest im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm aus ihrem Roman "180 Grad Meer"
Was Sarah Kuttner zu sagen hat, und sie sagt viel, wenn Gelegenheit dazu ist, gefällt nicht jedem. Sie hat Jahre vor der Kamera verbracht, als Moderatorin eines Musiksenders, den es so nicht mehr gibt, und in nach ihr benannten Fernsehsendungen, die mal mehr, mal weniger erfolgreich waren. Sie hat angesagte Prominente interviewt und sich mit anderen angelegt. Provokation gehört zum Business. Aber aufgesetzt, das ist sie nicht. Wenn sie ihr aktuelles Buch als "ernster als die anderen" vorstellt und daraus Sätze wie "Da draußen ist eine Welt, die mir zuwider ist, in der jeder nur mit sich selbst beschäftigt ist" liest, dann kaufen die Zuhörer ihr das ab, ganz egal, ob sie kurz zuvor noch herumgealbert hat.
Bei Kuttners Lesung im Frankfurter Mousonturm sind die Zuhörer vor allem junge Leute, die alt genug dafür sind, dass ihnen die Namen der Sender von damals noch ein Begriff sind. Sie sitzen in den Reihen vor Kuttner wie alte Freunde, die sich Zeit zum Zuhören nehmen. Sie lachen, wenn Kuttner witzig ist, nicken, wenn sie recht zu haben scheint, und werden ganz ruhig, wenn sie von menschlichen Abgründen erzählt. Und Kuttner dankt es ihnen, indem sie so nahbar ist, wie sie auf einer Bühne nur sein kann. "Irgendwann lese ich auch ein bisschen", sagt sie nach zwanzig Minuten Geplänkel unter zustimmendem Gelächter: "Das hier ist der Teil, der mir wirklich Spaß macht."
Kuttner liest in Frankfurt schon zum zweiten Mal aus ihrem Roman "180 Grad Meer". Im Frühjahr vergangenen Jahres waren die Karten im Literaturhaus sofort ausverkauft, so ist es auch im Saal des Mousonturms. Neben ihr auf der Bühne steht ein Bild, das die britische Königin als junge Frau mit einem ihrer Hunde zeigt. In Kuttners Geschichte geht es ziemlich viel um Hunde, sie hat selbst einen. Aber die eigentliche Protagonistin des Romans ist Jule, eine Frau Anfang 30, die kein Ziel im Leben hat und davon lebt, in Musikkneipen schnulzige Lieder zu singen.
Es ist eine traurige, aber keine neue Familiengeschichte, die Kuttner erzählt: Jules Eltern haben sich früh getrennt, als Kind sah sie ihren Vater mit einer anderen Frau und erzählte der Mutter davon. Seitdem lebt der Erzeuger in England, die seltenen Treffen mit ihm erlebt Jule als Scheitern, weil sie seine Erwartungen nicht erfüllen kann. Später stellt sich heraus, dass er Krebs hat und sie ihm einen letzten Besuch machen sollte. Und dann ist da noch die depressive, den Schlaftabletten zugetane Mutter, von der Jule sich erst spät lösen konnte. "Ich werde nie wieder jemanden verraten", sagt sie und schmeißt ihre Ideale gleich mit über Bord. Weil "180 Grad Meer" ein Roman von Sarah Kuttner ist, geht es natürlich auch um allerlei Alltägliches: um die beruhigende Wirkung von Achselhöhlen, in die man sich schmiegt, um Eiscreme mit Schokoladenstücken in Fischform, um geschmacklos eingerichtete Wohngemeinschaftszimmer. Das alles trägt die Autorin in atemberaubender Geschwindigkeit vor, wenn sie sich nicht gerade unterbricht und zu kommentieren beginnt, als säße sie wirklich mit ein paar Freunden am Küchentisch.
Jule beschließt also, zu verschwinden, Urlaub von sich selbst zu nehmen, von ihrer Mutter, ihrem Freund und der Welt um sie herum. Sie reist zu ihrem Bruder nach London. Dort sitzt sie mit ihm auf der Dachterrasse, raucht und versucht zu ergründen, was sie vom Leben erwartet und ob sie ihren Vater noch einmal besuchen soll: "Wieder kratzt ein bisschen Selbstverachtung an meiner Tür, aber ich bin bekifft genug, um sie einfach zu ignorieren." In Sätzen wie diesen steckt die Oberflächlichkeit. Aber wenn Kuttner sie vorliest, klingt es, als erzähle eine mitteilsame Freundin von den Zwängen ihrer Welt. Ungekünstelt. Natürlich geht es viel um das Scheitern und um anstrengende Menschen, von den Hunden ganz zu schweigen. Kuttner kann selbst anstrengend sein, das weiß sie. Aber ihre Welt ist voll von Kuriosem und Tragischem. Die depressive Mutter, das tiefe Minderwertigkeitsgefühl und der Bedarf nach schützenden Achselhöhlen gehören eben irgendwie zusammen. Kuttners Welt ist authentisch, und deshalb fühlen ihre Zuhörer sich wohl in ihr. Besonders, wenn sie dabei ist.
ELENA WITZECK
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