1984. Aomame hat zwei verschieden große Ohren. Beim Rendezvous mit einem reichen Ölhändler zückt sie eine Nadel und ersticht ihn - ein Auftragsmord, um altes Unrecht zu sühnen. Tengo ist Hobby-Schriftsteller. Er soll einen Roman der exzentrischen 17-jährigen Fukaeri überarbeiten, damit sie einen Literaturpreis bekommt. Der Text ist äußerst originell, aber schlecht geschrieben - ein riskanter Auftrag. Aomame wundert sich, warum die Nachrichten ihren Mord nicht melden. Ist sie in eine Parallelwelt geraten? Um diese Sphäre vom gewöhnlichen Leben im Jahr 1984 zu unterscheiden, gibt Aomame der neuen, unheimlichen Welt den Namen 1Q84.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2010Die Sünden der Väter
Aus 9 mach Q: Haruki Murakamis neuer Roman "1Q84" erzählt aus einer Parallelwelt. Dort wollen Aomame und Tengo wieder zusammenfinden. Sie ist eine Auftragskillerin, er ein Schriftsteller.
Von Andreas Platthaus
Das "Wohltemperierte Klavier", Johann Sebastian Bachs Sammlung für die "lehrbegierige musicalische Jugend" umfasst zwei Teile mit jeweils 24 Kompositionen, die zwölf Paare aus Etüden und Fugen aufeinanderfolgen lassen, die sämtliche Tonarten umfassen. "1Q84", Haruki Murakamis neuer Roman für das lesebegierige literarische Publikum, umfasst zwei Teile mit jeweils 24 Kapiteln, die zwölfmal abwechselnd das Figurenpaar Aomame und Tengo auftreten lassen und dabei sämtliche Register des Erzählens ziehen.
"1Q84" wurde im vergangenen Jahr in Murakamis japanischer Heimat veröffentlicht (F.A.Z. vom 24. Juli 2009) und erscheint derzeit in Übersetzungen rund um die Welt. Dass das in der vergangenen Woche auch bereits auf Deutsch geschah, obwohl das Werk mehr als tausend Seiten umfasst, beweist zweierlei: die Popularität Murakamis und seine verhältnismäßig schlichte Sprache. Dieser Schriftsteller ist kein großer Stilist, dessen Tonfall eine Herausforderung für die Übersetzer wäre - deshalb meinte man auch vor einigen Jahren, seine Bücher einfach nach der englischen Übertragung ins Deutsche bringen zu können. Das war natürlich naiv, denn wie in Platons Höhlengleichnis bringt jede neue Übersetzung den Leseeindruck weiter von der Wahrheit ab. Und riskiert den Verlust dessen, was Murakamis Schreiben ausmacht und denn doch ein Stil ist: Er pflegt selbst bei denjenigen seiner Bücher, die man der Phantastik zurechnen kann, eine ebenso lapidar-kühle Sprache wie in seinem - nun qualitativ gesprochen - phantastischen Sachbuch "Undergrundkrieg" (in Deutschland 2002 erschienen), das sich dem Giftgasanschlag der Aun-Sekte auf die U-Bahn von Tokio im Jahr 1995 widmet.
Von "Undergrundkrieg" zu "1Q84" verläuft eine, nun ja, untergründige Linie - thematisch wie formal. Fanatismus steht als Auslöser hinter dem im Sachbuch vorgestellten realen Tokioter Geschehen von 1995 wie dem des fiktiven Tokioter Jahrs 1984 im Roman. Und den Erzähler Murakami interessiert dasselbe wie den Chronisten: der Zugriff auf eine Welt, die sich als jeweils von den in ihr Lebenden individuell wahrgenommene gar nicht auf einen Begriff bringen lassen dürfte. Diesem Problem wird nur ein Verfahren gerecht: die genaue Beschreibung. Und Genauigkeit - das ist ein Prinzip der traditionellen japanischen Ästhetik - wird begünstigt durch Sparsamkeit der Mittel.
Das mag paradox klingen bei einem mehr als tausendseitigen Roman, von dem zudem im kommenden Herbst noch ein dritter Teil erwartet wird, der in Japan bereits erschienen ist - in einer Startauflage von einer halben Million und nur ein halbes Jahr nach den ersten beiden Bänden, die in Deutschland nun zusammen als ein Buch herauskommen. Können die selbstsichere Fitnesstrainerin und Auftragskillerin Aomame und der zögerliche Schriftsteller Tengo in den ersten beiden Teilen des Werks zusammen nicht kommen, so steht im dritten, so viel sei schon verraten, ihre erste Begegnung seit zwei Jahrzehnten an. Denn die beiden hatten sich als Kinder 1964 im zarten Alter von zehn Jahren auf der Schule kennengelernt, als ihre Rollen noch vertauscht waren: Aomame war als Tochter zweier Zeugen Jehovas eine in sich verschlossene hilflose Außenseiterin, während Tengo ein erfolgreicher Sportler zu werden versprach, dessen Stimme unter Gleichalten Gehör fand. Seine Hilfe für das verspottete Mädchen markierte den jeweiligen Umschwung in beider Leben und begründete eine wechselseitige Faszination, die aber unerfüllt blieb, weil sie sich sofort wieder aus den Augen verloren. Verliebt aber sind beide auch noch 1984 - jedenfalls im Geiste. Bis man diese Vorgeschichte zusammenhat, ist die erste Hälfte von "1Q84" allerdings schon vorbei. Das Buch ist ein Entwicklungsroman, bei dem man sich aber nicht von den gängigen Erwartungen an Chronologie leiten lassen sollte. Die werden aus guten inhaltlichen Gründen enttäuscht, obwohl konsequent von einem Zeitpunkt aus erzählt wird.
Murakami ist eher Komponist als Stilist. Der Roman ist, wie gesagt, nach dem Prinzip des "Wohltemperierten Klaviers" gebaut, und dieses Vorbild legt der Autor auch offen, wenn er Tengo auf die siebzehnjährige Fukaeri treffen lässt, die Bachs Werk als ihre Lieblingsmusik bezeichnet. Fukaeri ist eine japanische Helene Hegemann: ein Wunderkind, das einen Erfolgsroman veröffentlicht, den sie aber zu weiten Teilen gar nicht selbst verfasst hat. Vielmehr hat Tengo ihm auf Wunsch seines Mentors, des manipulationsfreudigen Verlegers Komatsu, erst die endgültige Gestalt gegeben. Mit Aomame, Tengo, Fukaeri und Komatsu sind die vier wichtigsten Personen von "1Q84" beisammen, und Bach gibt mit einem weiteren seiner Werke, das Fukaeri schätzt, den Grundton für die ganze Handlung des Romans vor: "Buß und Reu' knirscht das Sündenherz entzwei." Das Fräuleinwunder der japanischen Literatur kann die Matthäuspassion auf Deutsch vorsingen, und sie und die anderen drei Protagonisten haben es mit der Bewältigung von etwas zu tun, was man gerne in Kategorien der Erbsünde fassen kann: Die Sünden der Väter kommen auf die Kinder. Entscheidend ist dabei ein ums andere Mal deren zehntes Lebensjahr.
Es gibt keine Zufälle in Murakamis Roman. Das Jahr 1984 als Handlungszeitpunkt begründet natürlich ein literarisches Spiel mit einem großen Vorläufer, Orwells Roman "1984", in dem der britische Schriftsteller 1948 eine Zukunftsvision publizierte, die er durch eine Zahlenvertauschung sechsundvierzig Jahre später ansiedelte. Murakami tut das Gegenteil: Er blickt in seinem Buch aus dem Abstand von einem Vierteljahrhundert auf dieses Jahr 1984 zurück und tauscht die 9 gegen ein Q aus, weil Zahl und Buchstabe im Japanischen gleich ausgesprochen werden (dass sie gleichsam wie aneinander gespiegelt aussehen, ist ein schöner Nebeneffekt). Und Murakami schafft in seinem Roman keine Dystopie wie Orwell, sondern eine zweite Wirklichkeit: "1Q84 - so werde ich die neue Welt nennen, entschied Aomame", lesen wir erstmals auf Seite 199. Da hat die weibliche Hauptperson endlich registriert, was sie bereits im ersten Kapitel selbst ausgelöst hat: einen Riss im Zeitgefüge, der eine alternative Gegenwart geschaffen hat, eine Parallelwelt, in der sich, von einer winzigen Entscheidung ausgehend, ihre Lebensumstände verändern. Und mit den ihren auch die Lebens- und Todesumstände jener Menschen, die ihren Weg kreuzen.
Pro forma könnte man den Roman einen Krimi nennen, denn es geht darin um Mord, Betrug, Verschleppung, Kindesmissbrauch. Doch Murakami spielt mit den Genrekonventionen, und wenn er auch kein großer Sprachkünstler sein mag, so ist er in formaler Hinsicht zweifellos einer der gewieftesten Erzähler, den wir haben, und "1Q84" ist diesbezüglich sein Meisterwerk. Wie hier Topoi und Strukturen aus Literatur, Religion und Musik vermischt, wie die Perspektiven gewechselt, die Zeiten miteinander verschliffen werden, das hat man noch nie gelesen. Und es ist überdies im Buch auch noch Platz für Elemente, die immer schon den besonderen Reiz der Murakami-Lektüre ausgemacht haben: seine spezifisch japanischen Motive. Sei es der zweite Mond, der als sichtbarstes äußeres Zeichen für die Parallelwelt 1Q84 am Nachthimmel steht und auf die große Tradition verweist, die der Mond in der japanischen Ästhetik spielt. Oder sei es die Brillanz winziger Passagen im Riesentext, die wie ein Blitzlicht plötzlich Details sichtbar machen. "Das geschliffene Glas auf dem Tisch war inzwischen beschlagen", heißt es einmal, und damit ist alles über die Stimmung des drum herum geschilderten Gespräch gesagt.
Murakami ist also trotz des Umfangs seines neuen Buchs ein ökonomischer Erzähler. Dem tut keinen Abbruch, dass recht häufig aus der Ferne Donner grollt oder Hunde bellen - diese narrativen Versatzstücke aus dem Schmökerrepertoire sind gleichfalls Scharniere, die bestimmte Wahrnehmungen miteinander verbinden. Und es gibt Abschnitte, die den Atem stocken lassen vor Begeisterung über die Personenschilderungen. Wenn etwa Aomame an einem schwülen Tag im August das vorgesehene Opfer ihres nächsten Auftragsmordes aufsucht, einen schwerkranken Sektenführer, der mit minderjährigen Mädchen ein Ritual vollzieht, das sexuelle Handlungen umfasst, dann begegnet der Mörderin statt des Monsters, das sie erwartet, ein höchst faszinierendes Ungetüm von Mensch, dem sie spirituell nicht gewachsen ist. Es könnte direkt den Animes von Hayao Miyazaki entsprungen sein, und daran zeigt sich wieder die Geschicklichkeit, mit der Murakami die verschiedensten Einflüsse montiert. Was er dann ganz alleine beherrscht, ist Spannungserzeugung: Auch wenn man nicht recht glauben möchte, dass man zu einem Zeitpunkt von 19.30 Uhr im August vom "nächtlichen Tokio" sprechen kann, ist das Gespräch zwischen Aomame und dem Sektenführer ein dramaturgisches Meisterstück - auch, weil es genau im richtigen Moment vom Kapitel- und somit Perspektivwechsel hin zu Tengo unterbrochen wird.
So ist das ganze Buch bis zu den letzten beiden Kapitelschlüssen - der eine scheinbar hoffnungslos, der andere dann umso optimistischer - ein Kunstwerk der Verlockung durch Köder, und fast möchte man bedauern, dass Murakami seine beiden Erzählfäden im dritten Teil miteinander verbinden wird. Auch in der vorliegenden Form hätte "1Q84" einen befriedigenden Schluss. Doch womöglich wird es gar noch einen vierten Teil geben; darüber, so ist aus Japan zu hören, sei das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Uns sollte es recht sein. Und anderen auch. Haruki Murakami hat sein immens populäres und abwechslungsreiches Werk um einen Roman bereichert, der nicht nur die zahllosen alten Freunde seiner Prosa entzücken wird. Denn wie er neben der Kernhandlung auch noch durch Tengos Tätigkeit in bester selbstreferentieller Manier das Leben mit und in Literatur zum Gegenstand macht, das hat metatextuelle Qualitäten, die noch den anspruchvollsten Leser zufriedenstellen werden. So darf man wohl auch gespannt sein, welches Musikstück für den dritten Teil das Kapitelmuster vorgeben wird. Vom "Wohltemperierten Klavier" gibt es ja nur zwei Bücher. Alle aber, die sich gar nicht erst mit solchen Fragen aufhalten wollen, werden auch am Krimi ihre Freude haben.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus 9 mach Q: Haruki Murakamis neuer Roman "1Q84" erzählt aus einer Parallelwelt. Dort wollen Aomame und Tengo wieder zusammenfinden. Sie ist eine Auftragskillerin, er ein Schriftsteller.
Von Andreas Platthaus
Das "Wohltemperierte Klavier", Johann Sebastian Bachs Sammlung für die "lehrbegierige musicalische Jugend" umfasst zwei Teile mit jeweils 24 Kompositionen, die zwölf Paare aus Etüden und Fugen aufeinanderfolgen lassen, die sämtliche Tonarten umfassen. "1Q84", Haruki Murakamis neuer Roman für das lesebegierige literarische Publikum, umfasst zwei Teile mit jeweils 24 Kapiteln, die zwölfmal abwechselnd das Figurenpaar Aomame und Tengo auftreten lassen und dabei sämtliche Register des Erzählens ziehen.
"1Q84" wurde im vergangenen Jahr in Murakamis japanischer Heimat veröffentlicht (F.A.Z. vom 24. Juli 2009) und erscheint derzeit in Übersetzungen rund um die Welt. Dass das in der vergangenen Woche auch bereits auf Deutsch geschah, obwohl das Werk mehr als tausend Seiten umfasst, beweist zweierlei: die Popularität Murakamis und seine verhältnismäßig schlichte Sprache. Dieser Schriftsteller ist kein großer Stilist, dessen Tonfall eine Herausforderung für die Übersetzer wäre - deshalb meinte man auch vor einigen Jahren, seine Bücher einfach nach der englischen Übertragung ins Deutsche bringen zu können. Das war natürlich naiv, denn wie in Platons Höhlengleichnis bringt jede neue Übersetzung den Leseeindruck weiter von der Wahrheit ab. Und riskiert den Verlust dessen, was Murakamis Schreiben ausmacht und denn doch ein Stil ist: Er pflegt selbst bei denjenigen seiner Bücher, die man der Phantastik zurechnen kann, eine ebenso lapidar-kühle Sprache wie in seinem - nun qualitativ gesprochen - phantastischen Sachbuch "Undergrundkrieg" (in Deutschland 2002 erschienen), das sich dem Giftgasanschlag der Aun-Sekte auf die U-Bahn von Tokio im Jahr 1995 widmet.
Von "Undergrundkrieg" zu "1Q84" verläuft eine, nun ja, untergründige Linie - thematisch wie formal. Fanatismus steht als Auslöser hinter dem im Sachbuch vorgestellten realen Tokioter Geschehen von 1995 wie dem des fiktiven Tokioter Jahrs 1984 im Roman. Und den Erzähler Murakami interessiert dasselbe wie den Chronisten: der Zugriff auf eine Welt, die sich als jeweils von den in ihr Lebenden individuell wahrgenommene gar nicht auf einen Begriff bringen lassen dürfte. Diesem Problem wird nur ein Verfahren gerecht: die genaue Beschreibung. Und Genauigkeit - das ist ein Prinzip der traditionellen japanischen Ästhetik - wird begünstigt durch Sparsamkeit der Mittel.
Das mag paradox klingen bei einem mehr als tausendseitigen Roman, von dem zudem im kommenden Herbst noch ein dritter Teil erwartet wird, der in Japan bereits erschienen ist - in einer Startauflage von einer halben Million und nur ein halbes Jahr nach den ersten beiden Bänden, die in Deutschland nun zusammen als ein Buch herauskommen. Können die selbstsichere Fitnesstrainerin und Auftragskillerin Aomame und der zögerliche Schriftsteller Tengo in den ersten beiden Teilen des Werks zusammen nicht kommen, so steht im dritten, so viel sei schon verraten, ihre erste Begegnung seit zwei Jahrzehnten an. Denn die beiden hatten sich als Kinder 1964 im zarten Alter von zehn Jahren auf der Schule kennengelernt, als ihre Rollen noch vertauscht waren: Aomame war als Tochter zweier Zeugen Jehovas eine in sich verschlossene hilflose Außenseiterin, während Tengo ein erfolgreicher Sportler zu werden versprach, dessen Stimme unter Gleichalten Gehör fand. Seine Hilfe für das verspottete Mädchen markierte den jeweiligen Umschwung in beider Leben und begründete eine wechselseitige Faszination, die aber unerfüllt blieb, weil sie sich sofort wieder aus den Augen verloren. Verliebt aber sind beide auch noch 1984 - jedenfalls im Geiste. Bis man diese Vorgeschichte zusammenhat, ist die erste Hälfte von "1Q84" allerdings schon vorbei. Das Buch ist ein Entwicklungsroman, bei dem man sich aber nicht von den gängigen Erwartungen an Chronologie leiten lassen sollte. Die werden aus guten inhaltlichen Gründen enttäuscht, obwohl konsequent von einem Zeitpunkt aus erzählt wird.
Murakami ist eher Komponist als Stilist. Der Roman ist, wie gesagt, nach dem Prinzip des "Wohltemperierten Klaviers" gebaut, und dieses Vorbild legt der Autor auch offen, wenn er Tengo auf die siebzehnjährige Fukaeri treffen lässt, die Bachs Werk als ihre Lieblingsmusik bezeichnet. Fukaeri ist eine japanische Helene Hegemann: ein Wunderkind, das einen Erfolgsroman veröffentlicht, den sie aber zu weiten Teilen gar nicht selbst verfasst hat. Vielmehr hat Tengo ihm auf Wunsch seines Mentors, des manipulationsfreudigen Verlegers Komatsu, erst die endgültige Gestalt gegeben. Mit Aomame, Tengo, Fukaeri und Komatsu sind die vier wichtigsten Personen von "1Q84" beisammen, und Bach gibt mit einem weiteren seiner Werke, das Fukaeri schätzt, den Grundton für die ganze Handlung des Romans vor: "Buß und Reu' knirscht das Sündenherz entzwei." Das Fräuleinwunder der japanischen Literatur kann die Matthäuspassion auf Deutsch vorsingen, und sie und die anderen drei Protagonisten haben es mit der Bewältigung von etwas zu tun, was man gerne in Kategorien der Erbsünde fassen kann: Die Sünden der Väter kommen auf die Kinder. Entscheidend ist dabei ein ums andere Mal deren zehntes Lebensjahr.
Es gibt keine Zufälle in Murakamis Roman. Das Jahr 1984 als Handlungszeitpunkt begründet natürlich ein literarisches Spiel mit einem großen Vorläufer, Orwells Roman "1984", in dem der britische Schriftsteller 1948 eine Zukunftsvision publizierte, die er durch eine Zahlenvertauschung sechsundvierzig Jahre später ansiedelte. Murakami tut das Gegenteil: Er blickt in seinem Buch aus dem Abstand von einem Vierteljahrhundert auf dieses Jahr 1984 zurück und tauscht die 9 gegen ein Q aus, weil Zahl und Buchstabe im Japanischen gleich ausgesprochen werden (dass sie gleichsam wie aneinander gespiegelt aussehen, ist ein schöner Nebeneffekt). Und Murakami schafft in seinem Roman keine Dystopie wie Orwell, sondern eine zweite Wirklichkeit: "1Q84 - so werde ich die neue Welt nennen, entschied Aomame", lesen wir erstmals auf Seite 199. Da hat die weibliche Hauptperson endlich registriert, was sie bereits im ersten Kapitel selbst ausgelöst hat: einen Riss im Zeitgefüge, der eine alternative Gegenwart geschaffen hat, eine Parallelwelt, in der sich, von einer winzigen Entscheidung ausgehend, ihre Lebensumstände verändern. Und mit den ihren auch die Lebens- und Todesumstände jener Menschen, die ihren Weg kreuzen.
Pro forma könnte man den Roman einen Krimi nennen, denn es geht darin um Mord, Betrug, Verschleppung, Kindesmissbrauch. Doch Murakami spielt mit den Genrekonventionen, und wenn er auch kein großer Sprachkünstler sein mag, so ist er in formaler Hinsicht zweifellos einer der gewieftesten Erzähler, den wir haben, und "1Q84" ist diesbezüglich sein Meisterwerk. Wie hier Topoi und Strukturen aus Literatur, Religion und Musik vermischt, wie die Perspektiven gewechselt, die Zeiten miteinander verschliffen werden, das hat man noch nie gelesen. Und es ist überdies im Buch auch noch Platz für Elemente, die immer schon den besonderen Reiz der Murakami-Lektüre ausgemacht haben: seine spezifisch japanischen Motive. Sei es der zweite Mond, der als sichtbarstes äußeres Zeichen für die Parallelwelt 1Q84 am Nachthimmel steht und auf die große Tradition verweist, die der Mond in der japanischen Ästhetik spielt. Oder sei es die Brillanz winziger Passagen im Riesentext, die wie ein Blitzlicht plötzlich Details sichtbar machen. "Das geschliffene Glas auf dem Tisch war inzwischen beschlagen", heißt es einmal, und damit ist alles über die Stimmung des drum herum geschilderten Gespräch gesagt.
Murakami ist also trotz des Umfangs seines neuen Buchs ein ökonomischer Erzähler. Dem tut keinen Abbruch, dass recht häufig aus der Ferne Donner grollt oder Hunde bellen - diese narrativen Versatzstücke aus dem Schmökerrepertoire sind gleichfalls Scharniere, die bestimmte Wahrnehmungen miteinander verbinden. Und es gibt Abschnitte, die den Atem stocken lassen vor Begeisterung über die Personenschilderungen. Wenn etwa Aomame an einem schwülen Tag im August das vorgesehene Opfer ihres nächsten Auftragsmordes aufsucht, einen schwerkranken Sektenführer, der mit minderjährigen Mädchen ein Ritual vollzieht, das sexuelle Handlungen umfasst, dann begegnet der Mörderin statt des Monsters, das sie erwartet, ein höchst faszinierendes Ungetüm von Mensch, dem sie spirituell nicht gewachsen ist. Es könnte direkt den Animes von Hayao Miyazaki entsprungen sein, und daran zeigt sich wieder die Geschicklichkeit, mit der Murakami die verschiedensten Einflüsse montiert. Was er dann ganz alleine beherrscht, ist Spannungserzeugung: Auch wenn man nicht recht glauben möchte, dass man zu einem Zeitpunkt von 19.30 Uhr im August vom "nächtlichen Tokio" sprechen kann, ist das Gespräch zwischen Aomame und dem Sektenführer ein dramaturgisches Meisterstück - auch, weil es genau im richtigen Moment vom Kapitel- und somit Perspektivwechsel hin zu Tengo unterbrochen wird.
So ist das ganze Buch bis zu den letzten beiden Kapitelschlüssen - der eine scheinbar hoffnungslos, der andere dann umso optimistischer - ein Kunstwerk der Verlockung durch Köder, und fast möchte man bedauern, dass Murakami seine beiden Erzählfäden im dritten Teil miteinander verbinden wird. Auch in der vorliegenden Form hätte "1Q84" einen befriedigenden Schluss. Doch womöglich wird es gar noch einen vierten Teil geben; darüber, so ist aus Japan zu hören, sei das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Uns sollte es recht sein. Und anderen auch. Haruki Murakami hat sein immens populäres und abwechslungsreiches Werk um einen Roman bereichert, der nicht nur die zahllosen alten Freunde seiner Prosa entzücken wird. Denn wie er neben der Kernhandlung auch noch durch Tengos Tätigkeit in bester selbstreferentieller Manier das Leben mit und in Literatur zum Gegenstand macht, das hat metatextuelle Qualitäten, die noch den anspruchvollsten Leser zufriedenstellen werden. So darf man wohl auch gespannt sein, welches Musikstück für den dritten Teil das Kapitelmuster vorgeben wird. Vom "Wohltemperierten Klavier" gibt es ja nur zwei Bücher. Alle aber, die sich gar nicht erst mit solchen Fragen aufhalten wollen, werden auch am Krimi ihre Freude haben.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Sämtliche Register des Erzählens (...) Murakami ist in formaler Hinsicht zweifelos einer der gewieftesten Erzähler, den wir haben und 1Q84 diesbezüglich sein Meisterwerk. Wie hier Topoi und Strukturen aus Literatur, Religion und Musik vermischt werden, wie die Perspektiven gewechselt, die Zeiten miteinander verschliffen werden, das hat man noch nie gelesen." FAZ "Murakami galt dieses Jahr als einer der Kandidaten für den Nobelpreis. Es ist schade, dass er ihn nicht bekommen hat (...) "Murakami weiß seine Geheimnisse zu bewahren. Aber es sind, kraft seiner tiefen Humanität, Geheimnisse für die ganze Welt." SZ "Eine beeindruckende Reflexion über Gewalt und Religion, verhüllt in ein schillerndes Erzählpanorama". SPIEGEL "Eine Liebesgeschichte zweier Menschen, die einander fehlen (...)die beiden könnten zu Romeo und Julia unseres Jahrtausends werden (...)Nicht nur in quantitativer Hinsicht ein Opus Maximum". DIE (literarische) WELT "Murakami ist einer der wenigen Großschriftsteller, die über die Liebe noch so schreiben, als könne sie einen erlösen." WAMS "Ein Hochgenuss." COSMOPOLITAN "Ein großes, freundlich protzendes Feuerwerk der Einfälle." STERN "Gewalt und Liebe: ein komplexes Werk" KULTURSPIEGEL "Ein ebenso verstörendes wie großartiges Buch, das federleicht in Abgründe führt." NEON "So suggestiv wie in seinem neuen Roman 1Q84 hat Haruki Murakami lange nicht mehr geschrieben. [...] Tengo und Aomame heißen sie, die Helden Haruki Murakamis [...], und sie sind der schöne Trost für Menschen mit vorübergehender bis anhaltender Orientierungsschwäche. [...] Es wäre zu schön gewesen, wenn Haruki Murakami den Nobelpreis bekommen hätte." TAZ "Die ersten Kritiken gab es vorab von den mehr oder weniger lieben Kollegen. Denn Seite für Seite durften sich deutsche Autoren den neuen Murakami vorknöpfen und das beträchtliche Epos noch vor der Veröffentlichung in Deutschland auszugsweise via Internet begutachten. [...] Der Umfang des Romans, sein Titel, der Werbegag und der japanische Verkaufserfolg - das alles sind Eigentümlichkeiten, die zu diesem Buch passen. Denn der neue Roman des Nobelpreiskandidaten Haruki Murakami ist das vielleicht merkwürdigste Buch dieses Jahres, eine Mischung aus Fantasy und Krimi, es ist absurd und spannend, ein schillerndes Abbild vom Chaos unserer Welt. [...] Dieses Buch ist ungeheuerlich, unvergleichlich [...]." RHEINISCHE POST "Dass die Lektüre von Murakami-Texten Spaß macht, unterhält und - wie es japanische Leser häufig behaupten - sogar entspannt oder therapiert, sei hiermit bestätigt." NEUE ZÜRCHER ZEITUNG "Fantastisch!" EMOTION "Ein Märchen aus unserer Zeit, balanciert scharf zwischen Kitsch und Kälte und trifft den magischen Ton wohliger Traurigkeit, der süchtig macht." DIE ZEIT "1Q84 ist großartig in seiner Dramaturgie und Komposition. Wie ein langer Sommertag, der mit einer zarten Morgenröte beginnt, den erwachenden Vögeln, deren Gesang wie eine Verheißung klingt, und der doch bereits zu Beginn von einer dunklen Ahnung begleitet wird und an dessen Ende ein vernichtendes Unwetter heraufzieht." NDR "Ein Mix aus "Lost", "Twin Peaks" und "Alice im Wunderland" - und ein Feuerwerk an Einfällen." MYSELF "Konstruiert wie eine Komposition von Bach." HAIDE TENNER, SPECTRUM/DIE PRESSE "Einfach grossartig!" Ueli Walther, SCHWEIZER ILLUSTRIERTE "Der Roman '1Q84', in dem zu den spannenden Charakteren plötzlich auch noch geheimnisvolle Signale aus einer anderen Welt mit zwei Monden kommen, hat mich total gefesselt." Christiane Winter, DB MOBIL
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nach Ansicht von Rezensent Andreas Platthaus bestätigt der dritte Teil von "1Q84", was seine Vorgänger bereits versprachen: die Lektüre von Haruki Murakami ist ein Gewinn. Auch dieser Teil, so berichtet der Rezensent, spielt wieder in der mit 1Q84 bezeichneten Parallelwelt, erzählt also eher eine fantastische, als eine dezidiert japanische Geschichte. Dies ermögliche Murakami von allgemein menschlichen Verhaltensweisen zu erzählen, so handele der dritte Teil dieses gewaltigen Romanprojektes - endlich - vom Triumph der Liebe zwischen der Auftragskillerin Aomame und dem Schriftsteller Tengo Kawane. Bis es so weit ist, so lässt der Kritiker wissen, muss erneut gegen die bereits aus den Vorgängern bekannte Sekte gekämpft werden, in diesem Fall gegen die neu eingeführte Figur des Ushikawa, der schließlich in der "stärksten Szene" dieses Bandes auf grausame Weise ermordet wird. Entsprechend unverblümt und pathetisch erscheinen dem Rezensenten auch Murakamis inzwischen fast traditionelle, offenherzige Schilderungen von Sexualakten. Platthaus würdigt Murakami als "Pathologen", dem es wie keinem japanischen Schriftsteller zuvor gelinge, unter die Oberfläche der heimatlichen Gesellschaft und Kultur zu blicken. Und auch für die Ursula Gräfes Übersetzung kann der Kritiker nur lobende Worte finden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2010Ein Gummibaum ist die ideale Verwandtschaft
Haruki Murakami erzählt in seinem Opus magnum „1Q84“ von keuschen Killermaschinen und mörderischen Märchengeschwistern
Der große Augenblick des mehr als tausend Seiten dicken Buchs steht bevor: Aomame, die Heldin, schickt sich an, ihren gefährlichen Auftrag auszuführen, der ihr Leben, wenn nicht beenden, so doch auf immer verändern wird. Kommt sie ungeschoren davon, wird sie eine neue Identität annehmen müssen. Tamaru, Bodyguard und dienstbarer Geist von Madame, ihrer Auftraggeberin, führt ein letztes Gespräch mit ihr. Gibt es irgendetwas, das er hinterher für sie tun kann? Er möge sich, bittet sie, um ihren Gummibaum kümmern.
„,Übrigens, hast du eine Familie, die im Falle einer Lawine zu benachrichtigen ist?‘
‚Nein.‘
‚Du hattest nie eine oder du hast eine und doch keine?‘
‚Letzteres.‘
‚Gut‘, sagte Tamaru. ‚Frei zu sein ist das Beste. Ein Gummibaum ist die ideale Verwandtschaft.‘
Es war immer sehr schweigsam zugegangen zwischen den beiden. Aber der Gummibaum löst ihnen im Augenblick des Abschieds die Zunge. Aomame beginnt davon zu sprechen, dass sie sich eigentlich einen Goldfisch hatte zulegen wollen; aber dann, als sie im Laden die Goldfische in ihrem Glas sah, wollte sie plötzlich keinen mehr. Und so kaufte sie lieber den Gummibaum.
„,Ich finde, du hast die richtige Wahl getroffen.‘
‚Vielleicht werde ich niemals einen Goldfisch kaufen können.‘
,Vielleicht‘, sagte Tamaru. ‚Du kannst doch wieder einen Gummibaum nehmen.‘
Der Dialog hat etwas Anrührendes und Todtrauriges. Beide, Aomame und Tamaru, sind durchtrainierte Kämpfer und Killer. Ihre Körper haben sie zu maschinenhafter, ja mystischer Effizienz geführt, bis zu dem Punkt, wo die tödliche Gewalt, die sie blitzhaft austeilen, sich als solche kaum noch wahrnehmen lässt. Wem Aomame ihre Nadel ins Genick setzt, bei dem tritt nicht mehr Blut aus als bei einem Mückenstich, und augenblicklich bleibt ihm das Herz stehen. Doch beide haben sie die versehrten, unentwickelten Seelen von Waisenkindern. Als solche spenden sie einander Trost, so gut sie es vermögen. Sehr gut ist das nicht; aber etwas Besseres haben sie nicht gelernt. Tamaru ist das herumgestoßene Kind von Koreanern (die in Japan traditionell verachtet werden), Aomame hatte Eltern, die sich zu den Zeugen Jehovahs bekannten und sie zu einem Leben in Demut, Isolation und kratzigen Kleidern zwangen. Bei der Schulspeisung stand sie, obwohl sie vor Scham in den Boden versinken wollte, jedes Mal auf, um laut ihr kleines Gebet zu sprechen, ihren Mitschülern unbegreiflich.
Der Einzige, der ihr gegen ihre hämischen Mitschüler beisprang, war ihr Klassenkamerad Tengo gewesen. Beide waren damals zehn Jahre alt. Sie hatten einander danach fest die Hände gedrückt; zu mehr kam es nie, nicht einmal zu einem Gespräch, wenn sie einander auf ihren schmachvollen Wegen begegneten. Denn wie Aomame ihre Mutter bei deren stets fruchtlosen Missionierungsversuchen begleiten musste, so Tengo, der mutterlos aufwuchs, seinen harten Vater, wenn er für den staatlichen Rundfunk, ebenfalls von Haustür zu Haustür ziehend, die Gebühren eintrieb. Dann verloren sie sich aus den Augen, ruhen aber in der Gewissheit, dass der je andere (das andere Kind, wie man sagen muss, denn all das ist zwanzig Jahre her) die große schicksalhafte Liebe war.
Auch Tengo hat, wie Aomame, einen geheimen Auftraggeber: den Lektor Komatsu, der ihm das Manuskript einer unbekannten jungen Autorin in die Hand drückt, damit er es umschreibt; denn die Story sei einzigartig, nur der Stil äußerst unbeholfen. „Die Puppe aus Luft“ heißt das Buch, das eines erst werden will. Als Tengo die siebzehnjährige Fukaeri trifft, erweist sie sich als eine liebliche Schönheit, aber auch als Legasthenikerin mit autistischen Zügen. Sie vertraut ihm vollkommen. Offenbar hat sie in ihrem Buch (das sie einer Freundin diktierte) ihre eigenen Erfahrungen als Kind in einer unheimlichen Landkommune verarbeitet, die im Lauf der Zeit von einer revolutionären Zelle in eine religiöse Sekte hinüberwuchs. Fukaeris Buch, von Tengo neu gefasst, wird der Überraschungsbestseller der Saison; aber Fukaeri taucht unter und bleibt lang verschwunden.
Die Erzählstränge von Aomame und Tengo erhalten abwechselnde Kapitel zugewiesen (Aomame, die mit ungerader, Tengo die mit gerader Zahl), und beginnen sich spät zu verflechten. Das mindert die Aufmerksamkeit nicht, denn Murakami weiß, wie man, auch wenn die Dinge nur langsam voranschreiten, den Leser bei der Stange hält. Er bewirkt dies nicht in erster Linie durch seinen Plot, aus dem mehr als ein unvernähter Faden heraushängt, und auch nicht eigentlich durch seine Sprache.
Mit Murakamis Sprache hat es eine eigene Bewandtnis; sie gleicht dem Charakter seiner Protagonisten, die alle überdurchschnittlich intelligent und doch von der üblichen menschlichen Kommunikation bis zu einem gewissen Grad abgeschnitten sind. Sie senden und empfangen nicht auf der gesamten Skala menschlichen Ausdrucks, sondern nur in einer bestimmten Frequenz. Rhetorische Tricks oder auch nur die normale affektive Färbung, die Sprache im Mund der meisten Menschen annimmt, sind ihnen fremd. Ohne Hintersinn und also verletzbar bietet sich ihre Rede dar. Der Leser mag sich natürlich fragen, wie viel davon der ihm fremden Kultur angehört. Aber dass solche Sprache funktioniert, dass sie nicht im Licht des Mangels, sondern der Schlichtheit und Frische erscheint, das ist allein Murakamis Verdienst. Merkwürdigerweise erregt dieses doch recht dickleibige Buch den Anschein, es sei sehr knapp geschrieben, ohne ein Gramm Fett zu viel. Auch ohne Japanisch zu können, darf man der Übersetzerin Ursula Gräfe attestieren, diese Anmutung getreulich ins Deutsche gebracht zu haben.
Das Fesselnde des Werks steckt in seinen Figuren. Murakami tritt ihnen mit einer so selbstverständlichen, geradezu mütterlichen Liebe entgegen, dass er darüber weiter kein Wort verlieren muss. In ihren Biographien hingegen ist ihnen grausam wenig Liebe zuteil geworden. Sie leiden nicht einmal daran, denn sie kennen es nicht anders: so tief ist ihre Einsamkeit. Aber wo sie aufeinander treffen, finden sie ohne besondere Absprache zur Solidarität. Während sie, davon abgetrennt, ein in seiner Seichtheit eher trauriges Sexualleben führen, werden sie einander zu Märchengeschwistern, kindlich und keusch. Die beiden Sphären zum Ganzen einer Persönlichkeit zu schließen, bleibt ihnen versagt. Ihre Menschlichkeit, unter Härte verborgen, erweist sich als ebenso stark wie linkisch. Noch wenn Aomame zu ihren Nadelmorden loszieht, kann der Leser nicht anders als zu fragen: Du armes Kind, was hat man dir getan?
Erklärungsbedürftig ist der Titel: „1Q84“. Es verbirgt sich darin eine Anspielung auf George Orwells Roman „1984“ (das Q soll auf Japanisch so ähnlich klingen wie 9). Die Ereignisse spielen in diesem Jahr, ohne dass dafür eine besondere Notwendigkeit zu bestehen scheint – man würde, einige Umständlichkeiten in der Datenverarbeitung abgerechnet, nicht stutzen, wenn es einfach die heutige Gegenwart wäre. Auch die phantastischen Elemente, die hereinspielen (Aomame beginnt etwa zwei Monde zu sehen), wären zumeist entbehrlich gewesen. Hier liegen die zwei Schwachstellen des Buchs.
In einem entscheidenden Punkt aber macht Murakami vom Phantastischen doch legitimen Gebrauch. Es ist klar, dass Aomame und Tengo sich finden werden, sonst kann das Buch nicht zu seinem folgerichtigen Abschluss gelangen. Ebenso klar ist, dass eine Begegnung der beiden Erwachsenen nicht auf dem Stand der zehnjährigen Kinder verharren kann und es doch müsste. So greift der Autor denn zur „Puppe aus Luft“, die dem Buch von Fukaeri seinen geheimnisvollen Titel gegeben hatte. Es ist eine Puppe wie die eines Schmetterlings. Wie das im Einzelnen geschieht, darf eine Rezension nicht preisgeben; doch sei gesagt, dass Murakami aus dem Unglaublichen die einzig glaubhafte Lösung hervorspinnt.
Murakami galt dieses Jahr als einer der Kandidaten für den Nobelpreis. Es ist schade, dass er ihn nicht bekommen hat. Nicht nur wäre jetzt genau der richtige Augenblick im Leben und im Werk des nunmehr 61-Jährigen gewesen. Sondern er hat etwas vermocht, was vor ihm offenbar noch kein japanischer Schriftsteller geschafft hat: Literatur zu schreiben, die sich aus ihrem Kokon befreit und nach außen öffnet. Die Lebensläufe, von denen Murakami berichtet, sind wohl von einer spezifisch japanischen Kälte geprägt und beschädigt worden. Aber er spricht von ihnen so, dass jeder daran Anteil nehmen kann. Bei allen, auch bei den berühmtesten japanischen Autoren, behält man als westlicher Leser sonst immer den Eindruck zurück, etwas Wesentliches verpasst zu haben, als würden diese Bücher in Chiffren sprechen, die in Wahrheit etwas ganz anderes bedeuten als sich selbst. Japanische Literatur ist die rätselhafteste der Welt. Auch Murakami weiß seine Geheimnisse zu wahren. Aber es sind, kraft seiner tiefen Humanität, Geheimnisse für die ganze Welt. BURKHARD MÜLLER
HARUKI MURAKAMI: 1Q84. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Verlag, Köln 2010. 1021 Seiten, 32 Euro.
Die Eltern zwangen das Kind
zu einem Leben in Demut,
Isolation und kratzigen Kleidern
Der Titel des Romans spielt
auf Orwells „1984“ an,
freilich ohne besonderen Grund
Ihre Begegnung war wie eine flüchtige Berührung. Aomame und Tengo waren zehn Jahre alt, als sie sich aus den Augen verloren, aber sie lebten fortan in der Gewissheit, dass sie füreinander bestimmt sind und sich am Ende ihrer Geschichte wiederfinden werden. Foto: Nikolai Larin/Getty Images/Imagezoo
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Haruki Murakami erzählt in seinem Opus magnum „1Q84“ von keuschen Killermaschinen und mörderischen Märchengeschwistern
Der große Augenblick des mehr als tausend Seiten dicken Buchs steht bevor: Aomame, die Heldin, schickt sich an, ihren gefährlichen Auftrag auszuführen, der ihr Leben, wenn nicht beenden, so doch auf immer verändern wird. Kommt sie ungeschoren davon, wird sie eine neue Identität annehmen müssen. Tamaru, Bodyguard und dienstbarer Geist von Madame, ihrer Auftraggeberin, führt ein letztes Gespräch mit ihr. Gibt es irgendetwas, das er hinterher für sie tun kann? Er möge sich, bittet sie, um ihren Gummibaum kümmern.
„,Übrigens, hast du eine Familie, die im Falle einer Lawine zu benachrichtigen ist?‘
‚Nein.‘
‚Du hattest nie eine oder du hast eine und doch keine?‘
‚Letzteres.‘
‚Gut‘, sagte Tamaru. ‚Frei zu sein ist das Beste. Ein Gummibaum ist die ideale Verwandtschaft.‘
Es war immer sehr schweigsam zugegangen zwischen den beiden. Aber der Gummibaum löst ihnen im Augenblick des Abschieds die Zunge. Aomame beginnt davon zu sprechen, dass sie sich eigentlich einen Goldfisch hatte zulegen wollen; aber dann, als sie im Laden die Goldfische in ihrem Glas sah, wollte sie plötzlich keinen mehr. Und so kaufte sie lieber den Gummibaum.
„,Ich finde, du hast die richtige Wahl getroffen.‘
‚Vielleicht werde ich niemals einen Goldfisch kaufen können.‘
,Vielleicht‘, sagte Tamaru. ‚Du kannst doch wieder einen Gummibaum nehmen.‘
Der Dialog hat etwas Anrührendes und Todtrauriges. Beide, Aomame und Tamaru, sind durchtrainierte Kämpfer und Killer. Ihre Körper haben sie zu maschinenhafter, ja mystischer Effizienz geführt, bis zu dem Punkt, wo die tödliche Gewalt, die sie blitzhaft austeilen, sich als solche kaum noch wahrnehmen lässt. Wem Aomame ihre Nadel ins Genick setzt, bei dem tritt nicht mehr Blut aus als bei einem Mückenstich, und augenblicklich bleibt ihm das Herz stehen. Doch beide haben sie die versehrten, unentwickelten Seelen von Waisenkindern. Als solche spenden sie einander Trost, so gut sie es vermögen. Sehr gut ist das nicht; aber etwas Besseres haben sie nicht gelernt. Tamaru ist das herumgestoßene Kind von Koreanern (die in Japan traditionell verachtet werden), Aomame hatte Eltern, die sich zu den Zeugen Jehovahs bekannten und sie zu einem Leben in Demut, Isolation und kratzigen Kleidern zwangen. Bei der Schulspeisung stand sie, obwohl sie vor Scham in den Boden versinken wollte, jedes Mal auf, um laut ihr kleines Gebet zu sprechen, ihren Mitschülern unbegreiflich.
Der Einzige, der ihr gegen ihre hämischen Mitschüler beisprang, war ihr Klassenkamerad Tengo gewesen. Beide waren damals zehn Jahre alt. Sie hatten einander danach fest die Hände gedrückt; zu mehr kam es nie, nicht einmal zu einem Gespräch, wenn sie einander auf ihren schmachvollen Wegen begegneten. Denn wie Aomame ihre Mutter bei deren stets fruchtlosen Missionierungsversuchen begleiten musste, so Tengo, der mutterlos aufwuchs, seinen harten Vater, wenn er für den staatlichen Rundfunk, ebenfalls von Haustür zu Haustür ziehend, die Gebühren eintrieb. Dann verloren sie sich aus den Augen, ruhen aber in der Gewissheit, dass der je andere (das andere Kind, wie man sagen muss, denn all das ist zwanzig Jahre her) die große schicksalhafte Liebe war.
Auch Tengo hat, wie Aomame, einen geheimen Auftraggeber: den Lektor Komatsu, der ihm das Manuskript einer unbekannten jungen Autorin in die Hand drückt, damit er es umschreibt; denn die Story sei einzigartig, nur der Stil äußerst unbeholfen. „Die Puppe aus Luft“ heißt das Buch, das eines erst werden will. Als Tengo die siebzehnjährige Fukaeri trifft, erweist sie sich als eine liebliche Schönheit, aber auch als Legasthenikerin mit autistischen Zügen. Sie vertraut ihm vollkommen. Offenbar hat sie in ihrem Buch (das sie einer Freundin diktierte) ihre eigenen Erfahrungen als Kind in einer unheimlichen Landkommune verarbeitet, die im Lauf der Zeit von einer revolutionären Zelle in eine religiöse Sekte hinüberwuchs. Fukaeris Buch, von Tengo neu gefasst, wird der Überraschungsbestseller der Saison; aber Fukaeri taucht unter und bleibt lang verschwunden.
Die Erzählstränge von Aomame und Tengo erhalten abwechselnde Kapitel zugewiesen (Aomame, die mit ungerader, Tengo die mit gerader Zahl), und beginnen sich spät zu verflechten. Das mindert die Aufmerksamkeit nicht, denn Murakami weiß, wie man, auch wenn die Dinge nur langsam voranschreiten, den Leser bei der Stange hält. Er bewirkt dies nicht in erster Linie durch seinen Plot, aus dem mehr als ein unvernähter Faden heraushängt, und auch nicht eigentlich durch seine Sprache.
Mit Murakamis Sprache hat es eine eigene Bewandtnis; sie gleicht dem Charakter seiner Protagonisten, die alle überdurchschnittlich intelligent und doch von der üblichen menschlichen Kommunikation bis zu einem gewissen Grad abgeschnitten sind. Sie senden und empfangen nicht auf der gesamten Skala menschlichen Ausdrucks, sondern nur in einer bestimmten Frequenz. Rhetorische Tricks oder auch nur die normale affektive Färbung, die Sprache im Mund der meisten Menschen annimmt, sind ihnen fremd. Ohne Hintersinn und also verletzbar bietet sich ihre Rede dar. Der Leser mag sich natürlich fragen, wie viel davon der ihm fremden Kultur angehört. Aber dass solche Sprache funktioniert, dass sie nicht im Licht des Mangels, sondern der Schlichtheit und Frische erscheint, das ist allein Murakamis Verdienst. Merkwürdigerweise erregt dieses doch recht dickleibige Buch den Anschein, es sei sehr knapp geschrieben, ohne ein Gramm Fett zu viel. Auch ohne Japanisch zu können, darf man der Übersetzerin Ursula Gräfe attestieren, diese Anmutung getreulich ins Deutsche gebracht zu haben.
Das Fesselnde des Werks steckt in seinen Figuren. Murakami tritt ihnen mit einer so selbstverständlichen, geradezu mütterlichen Liebe entgegen, dass er darüber weiter kein Wort verlieren muss. In ihren Biographien hingegen ist ihnen grausam wenig Liebe zuteil geworden. Sie leiden nicht einmal daran, denn sie kennen es nicht anders: so tief ist ihre Einsamkeit. Aber wo sie aufeinander treffen, finden sie ohne besondere Absprache zur Solidarität. Während sie, davon abgetrennt, ein in seiner Seichtheit eher trauriges Sexualleben führen, werden sie einander zu Märchengeschwistern, kindlich und keusch. Die beiden Sphären zum Ganzen einer Persönlichkeit zu schließen, bleibt ihnen versagt. Ihre Menschlichkeit, unter Härte verborgen, erweist sich als ebenso stark wie linkisch. Noch wenn Aomame zu ihren Nadelmorden loszieht, kann der Leser nicht anders als zu fragen: Du armes Kind, was hat man dir getan?
Erklärungsbedürftig ist der Titel: „1Q84“. Es verbirgt sich darin eine Anspielung auf George Orwells Roman „1984“ (das Q soll auf Japanisch so ähnlich klingen wie 9). Die Ereignisse spielen in diesem Jahr, ohne dass dafür eine besondere Notwendigkeit zu bestehen scheint – man würde, einige Umständlichkeiten in der Datenverarbeitung abgerechnet, nicht stutzen, wenn es einfach die heutige Gegenwart wäre. Auch die phantastischen Elemente, die hereinspielen (Aomame beginnt etwa zwei Monde zu sehen), wären zumeist entbehrlich gewesen. Hier liegen die zwei Schwachstellen des Buchs.
In einem entscheidenden Punkt aber macht Murakami vom Phantastischen doch legitimen Gebrauch. Es ist klar, dass Aomame und Tengo sich finden werden, sonst kann das Buch nicht zu seinem folgerichtigen Abschluss gelangen. Ebenso klar ist, dass eine Begegnung der beiden Erwachsenen nicht auf dem Stand der zehnjährigen Kinder verharren kann und es doch müsste. So greift der Autor denn zur „Puppe aus Luft“, die dem Buch von Fukaeri seinen geheimnisvollen Titel gegeben hatte. Es ist eine Puppe wie die eines Schmetterlings. Wie das im Einzelnen geschieht, darf eine Rezension nicht preisgeben; doch sei gesagt, dass Murakami aus dem Unglaublichen die einzig glaubhafte Lösung hervorspinnt.
Murakami galt dieses Jahr als einer der Kandidaten für den Nobelpreis. Es ist schade, dass er ihn nicht bekommen hat. Nicht nur wäre jetzt genau der richtige Augenblick im Leben und im Werk des nunmehr 61-Jährigen gewesen. Sondern er hat etwas vermocht, was vor ihm offenbar noch kein japanischer Schriftsteller geschafft hat: Literatur zu schreiben, die sich aus ihrem Kokon befreit und nach außen öffnet. Die Lebensläufe, von denen Murakami berichtet, sind wohl von einer spezifisch japanischen Kälte geprägt und beschädigt worden. Aber er spricht von ihnen so, dass jeder daran Anteil nehmen kann. Bei allen, auch bei den berühmtesten japanischen Autoren, behält man als westlicher Leser sonst immer den Eindruck zurück, etwas Wesentliches verpasst zu haben, als würden diese Bücher in Chiffren sprechen, die in Wahrheit etwas ganz anderes bedeuten als sich selbst. Japanische Literatur ist die rätselhafteste der Welt. Auch Murakami weiß seine Geheimnisse zu wahren. Aber es sind, kraft seiner tiefen Humanität, Geheimnisse für die ganze Welt. BURKHARD MÜLLER
HARUKI MURAKAMI: 1Q84. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Verlag, Köln 2010. 1021 Seiten, 32 Euro.
Die Eltern zwangen das Kind
zu einem Leben in Demut,
Isolation und kratzigen Kleidern
Der Titel des Romans spielt
auf Orwells „1984“ an,
freilich ohne besonderen Grund
Ihre Begegnung war wie eine flüchtige Berührung. Aomame und Tengo waren zehn Jahre alt, als sie sich aus den Augen verloren, aber sie lebten fortan in der Gewissheit, dass sie füreinander bestimmt sind und sich am Ende ihrer Geschichte wiederfinden werden. Foto: Nikolai Larin/Getty Images/Imagezoo
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"Murakami bricht mit beinah allen Gepflogenheiten hochliterarischer Raffinesse und schreibt einen meisterhaften Kolportageroman, dessen kalt kalkulierter Sentimentalität man sich kaum entziehen kann. Der japanische Weltautor führt uns mit List und Spielfreude in eine mit kostbaren Versatzstücken westlicher und christlicher Mythen, Melodien und Motiven reich verzierte Ersatzwelt." DIE ZEIT "Murakami hat seinen schönsten Liebesroman erschaffen, eine spannende, fantastische Erzählung und eine zauberhafte Philosophie der Liebe." BÜCHER "Im vorläufigen Abschluss seines gewaltigen Romanprojekts zieht Murakami alle Register dessen, was man gern postmodernes Erzählen nennt (...) "Nie triumphiert die Liebe bei Murakami auf so bedingungslose Weise." FAZ "Sogwirkung garantiert (...) Bestsellerverdächtig" FREUNDIN DONNA "Wer als Leser erst einmal in Murakamis Welt gelandet ist, entkommt ihr nie mehr ganz." BUCH JOUNAL "Es passiert gewohnt (und gewohnt gut erzählt) viel Unerklärliches uns Mystisches - mit dramatischen Entwicklungen. Suchtfaktor: hoch!" WIENERIN "Obwohl brachial durch alle Genres gezogen, erweisen sich seine Helden auch diesmal als robust." WELT "Virtuos wie immer zieht uns der japanische Kultautor in sein enigmatisches Universum und gönnt uns bis zur letzten Seite keine Atempause." SONNTAGSZEITUNG "Sogwirkung garantiert!" FREUNDIN DONNA "In seinem Opus Magnum "1Q84" entwirft der japanische Bestsellerautor Haruki Murakami eine faszinierende Parallelwelt." BUCHREPORT "Bizarr, dunkel, schön - ein Buch für die Herbsttage der Seele." ANNABELLE "So wollen wir das!" FRANKFURTER RUNDSCHAU "[...] ein weiterer Mosaikstein dieses Buches, das sich liest wie ein klirrend kalter, strahlend blauer, kaum endenwollender Wintertag." NÜRNBERGER ZEITUNG "Murakami vermischt eine Prise Kafka mit der Bitterkeit Dostojewskis und einem Schuss shakespearscher Liebesromantik. Ein unwiderstehlicher Roman, den man nur schwer aus der Hand legen kann." HANDELSBLATT.COM