Anrührend, tieftraurig und zum Brüllen komisch Zu seiner eigenen Überraschung wird Joachim Meyerhoff auf der Schauspielschule in München angenommen und zieht in die großbürgerliche Villa seiner Großeltern ein. Tagsüber wird er an der Schauspielschule in seine Einzelteile zerlegt, abends ertränkt er seine Verwirrung auf opulenten Möbeln in diversen Alkoholika. Aus dem Kontrast zwischen großelterlichem Irrsinn und ausbildungsbedingtem Ich-Zerfall entstehen Situationen, die den Erzähler oft überfordern und seinen Zuhörern Lach- und Rührungstränen in die Augen treiben. Leidenschaftlich live gelesen vom Autor (9 CDs, Laufzeit: 11h 15)
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»Mooah, ist das gut.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2015Ein Nilpferd für Effi Briest
Der Extremschauspieler Joachim Meyerhoff schreibt seit Jahren an einem furiosen Erinnerungsprojekt. In "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" bricht er ins Leben auf und landet in zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Von Sandra Kegel
Von gestischer Zurückhaltung beim Spielen hält Joachim Meyerhoff nichts. Der Schauspieler ist vielmehr ein Verausgabungskünstler, der sein Publikum, erst jüngst wieder in Herbert Fritschs Hamburger Inszenierung der "Schule der Frauen", buchstäblich von den Stühlen reißt. "Warum Maß halten, wenn Maßlosigkeit dasteht?", fragt der Einsneunzigmann. Als Arnolphe rast er drei Stunden lang durch ein anarchisches Lachtheater und lotet dabei all die Jämmerlichkeiten aus, die Molières lächerlich-tragischer Junggeselle aus dem Paris des Jahres 1662 in sich trägt. Dabei kombiniert Meyerhoff Drastik, Körperlichkeit, Rhythmus und Witz so explosiv, dass die Bühne während dieser One-Man-Show vor Intensität vibriert.
Längst steht der Stürmer und Dränger durch seine Auftritte in Wien, Zürich und Hamburg für ein neues, bedingungsloses Theater, das sich dennoch zur Dramenliteratur bekennt. Wie sehr der Achtundvierzigjährige mit seinem Starkstromspiel einst jedoch aneckte und seine Lehrer an der Schauspielschule zur Verzweiflung brachte, davon erzählt Meyerhoff im dritten Teil seines Erinnerungszyklus "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke".
"Du denkst nicht", giftet die Schauspiellehrerin, "guck mal, wie du dastehst." "Du musst jetzt mal raus aus diesem Sportlerkörper", mahnt der Direktor. Und als der Student eine Einsatzrolle beim Film ergattert, stöhnt der Kameramann: "Oh nee, schon wieder so ein Großer." Es gibt Sätze, schreibt Meyerhoff, die dringen ins Gehirn "wie Marder ins Elektrizitätswerk". Wochenlang hatte er seine Nervosität zu bannen versucht, alle Bedenken wie riesige Schneewehen beiseitegeräumt, doch dann genügt ein Satz, "und im ganzen System sprühten die Funken". Am Ende wird er bei der Filmpremiere erleben müssen, dass man seinen Rollentext von einem Schauspieler nachsynchronisieren ließ.
Alles ein Wahnsinn. Dabei ist Joachim Meyerhoff der Umgang mit Irrsinn nicht eben fremd. In den ersten beiden Teilen seiner autobiographischen Fiktion "Alle Toten fliegen hoch" aus dem Jahr 2011 und "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war" (2013) erzählte er von seiner Kindheit, die er als Sohn des Direktors einer psychiatrischen Einrichtung in Schleswig verbrachte. Die Familie lebte in einer Villa mitten auf dem Anstaltsgelände unter fünfzehnhundert Patienten. Mit Witz und Wärme und entspannter Selbstverständlichkeit schilderte er seine Kindheit unter Verrückten und zu Hause grassierendem Wahnsinn: Da gab es Krippenspiele mit einer Maria in Zwangsjacke und Ferdinand, der dem Jungen Katzen im Querschnitt malte. Da gab es zwei wilde ältere Brüder, einen Vater, klug, belesen und lebensuntüchtig, und eine Mutter, die tröstete und den Laden zusammenhielt.
Im zweiten wie im ersten Band, der von einem Austauschjahr in Amerika handelt, geht es um Lust und Verlust, um Sehnsucht und den Aberwitz des Lebens. Das unbeschwerte Dasein des Erzählers findet allerdings ein abruptes Ende, als sein mittlerer Bruder bei einem Unfall ums Leben kommt. Die verlässlich zugefrorene Fläche, auf der wohlbehütet Schlittschuh gefahren worden war, wie er schreibt, taute förmlich unter ihm weg: "Wie eine Guillotine war der Tod in meine heile Welt gefallen, hatte das Davor und das Danach in zwei Teile zerhackt." Er ist, umstellt von Todesgedanken, ein Mensch auf der Flucht. Vom Schmerz des Verlustes wund geworden, gerät er auf der Suche nach Trost durch Zufall an die berühmte Otto-Falckenberg-Schule in München, bei der er sich eher halbherzig beworben hatte.
Doch statt Ruhe und Linderung findet er sich aufs Neue im Bannkreis der Verrücktheit wieder, und das gleich in zweifacher Hinsicht. Denn seine Studienjahre verlebt der Erzähler im Haus seiner Großeltern im noblen Stadtteil Nymphenburg. Da prallen zwei Lebensentwürfe aufeinander, die unvereinbar scheinen. Vormittags in der Schule wird der junge Mann schonungslos getrieben, Überforderung, Chaos und Unberechenbarkeit sind an der Tagesordnung. Und abends strandet er in der vertrauten Welt seiner Großeltern, die, gesättigt mit Vergangenheit, "wie zwei wertvolle Uhren vor sich hin tickten". Alles hier ist Ritual und Verlässlichkeit, selbst der Alkohol fließt zuverlässig - morgens Champagner, mittags Rotwein, abends Whiskey und zum Abschluss Cointreau.
"Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" darf man sich nicht als eine weitere Biographie eines Prominenten vorstellen, und es ist auch kein Schlüsselbuch nach dem Motto "Wie haben Sie's gemacht, Herr Meyerhoff?". Meyerhoff tritt hier vielmehr als Beobachtungsvirtuose in Erscheinung, dessen Gedankenmaschine immer wieder aufs Neue, durch einen Schuh, einen Sesselüberwurf oder den Duft eines bestimmten Parfüms, in Gang gesetzt wird. Das engmaschige Erinnerungsnetz wirft Meyerhoff dabei insbesondere auf Zimmer und Interieurs. Häusern und ihren Eingängen kommen bei diesem Autor besondere Bedeutung zu, sie sind nicht bloß Staffage, sondern Ausdruck eines vielschichtigen Universums, ein Abbild dessen, wie einer sich einrichtet in dieser Welt. War es im Schleswig-Roman die alte Villa im Zentrum des Klinikgeländes, in der Ärzte, Patienten und Pfleger einund ausgingen, so erforscht Meyerhoff hier nun akribisch die Innenräume der Schauspielschule und des Großelternhauses.
Der Kontrast zwischen der verwinkelten, angstbesetzten Schule, die dem Neuling bald als bedrohliches Spiegellabyrinth erscheint, und der großelterlichen Villa der Stille könnte größer nicht sein. Die Welt der Großeltern, in deren Haus kein Möbelstück, keine Schale, kein Teppich je seinen Platz gewechselt hat, steht dabei nicht nur in einem faszinierenden Kontrast zur aufreibenden Schule, in der die Welt Tag für Tag aus den Fugen gerät, sondern wird vielmehr zum Antipoden des flüchtigen Moments der Bühne schlechthin. Während bei den Großeltern die Zeit stillsteht, was auch eine Art ist, der Vergänglichkeit etwas entgegenzusetzen, hat im Theater nur der Augenblick Bestand. Niemand weiß das besser als Joachim Meyerhoff selbst.
Die täglichen Rituale und Skurrilitäten der Großeltern haben dabei etwas Hochtheatralisches. Was nicht verwundert, wenn man erfährt, dass die Großmutter des Erzählers die Schauspielerin Inge Birkmann ist, die unter Otto Falckenberg einst zum Ensemble der Münchner Kammerspiele gehörte. Ihr Ehemann ist der Philosoph Hermann Krings. Auf exotische Weise kultiviert, wirkt das Paar auf faszinierende Weise weltfremd, das abgelaufene Medikamente ebenso massenhaft hortet, wie es nur selbstgemachte Marmeladen isst, auch wenn deren Hersteller seit Jahren tot sind.
Nicht chronologisch, sondern assoziativ wie in der Psychoanalyse arbeitet Meyerhoff sich in die Vergangenheit vor. Nicht anders als der Hausangestellte Moser, der Stunden am Nymphenburger Küchentisch damit verbringt, die winzigen Bruchstücke von zerschlagenem Porzellan mit Sekundenkleber zu etwas Neuem zusammenzufügen, kittet auch Meyerhoff erzählerisch eine Erinnerungsscherbe an die andere. Dass er als Schauspieler ein Gespür für das Situative und eine besondere Beobachtungsgabe hat, macht den Text so kraftvoll. Für die Ereignisse, die Meyerhoff schildert, findet er die entsprechende Temperatur.
Trifft man Joachim Meyerhoff am Tag nach seiner Molière-Vorstellung im Hamburger Schauspielhaus, hat der schlanke, kahle Mann in Jeans und schwarzer Brille alle Nervosität vom Vorabend abgelegt. Natürlich habe er andere autobiographische Erkundungen gelesen, erzählt er, ob von Karl Ove Knausgård, der gerade in aller Munde ist, oder von dem 2013 verstorbenen Peter Kurzeck. Trotzdem hält er es lieber mit dem großen Molière, der für Meyerhoff geradezu beispielhaft vorführt, dass in jeder gelungenen Komik immer schon das Tragische angelegt ist.
"Erinnern heißt erfinden", stellt in einem früheren Buch der Erstklässler Joachim fest, als er sich, um sich vor anderen interessanter zu machen, ein Ereignis so lange mit Details auflädt, bis er bald selbst nicht mehr zwischen dem Gewesenen und dem Dazuerfundenen unterscheiden kann. Auch der Roman versucht, indem er erfindend rekonstruiert, Nähe zur Vergangenheit zu erzeugen. Der Tod und das Sterben, mithin die Vergänglichkeit, stehen dabei an zentraler Stelle in all seinen Büchern, ob im ersten Heimatroman, im darauf folgenden Reiseroman oder in diesem historischen Roman, dem noch ein Künstlerroman über die Lehrjahre in Kassel und Bielefeld folgen wird.
Komisch-grotesk, aber nicht denunziatorisch legt der Erzähler die Demütigungsrituale an der Schauspielschule offen. Bezeichnenderweise findet die Eröffnungszeremonie für die Neuankömmlinge im verspiegelten Ballettsaal statt. Findet die Ichfindung des Kleinkindes nach Lacan während der ersten Monate statt, wird man in diesem Spiegelstadium alles daransetzen, das Ich zu demontieren und zu entmutigen. "Hinter jedem von euch neun sitzen mehr als hundert andere, die da auch gern sitzen würden", sagt der Direktor zur Begrüßung. Und statt sich kennenzulernen, müssen die Debütanten eine Stunde lang schweigend auf dem Boden sitzen.
Dass schon im Schneidersitz ein ungeheures Maß an Gelingen und Misslingen liegen kann, ist die quälende Erkenntnis der ersten Stunde. Die Introspektion des Schülers hat dabei etwas Beklemmendes, wenn er "wie ein Hausierer" ein Gesicht nach dem andern abklappert und um eine "Blick-Spende" bettelt. Als niemand reagiert, fühlt er sich gekränkt, leergeschaut "wie auf Zwangsurlaub am FKK-Strand". Und prompt stellt sich sein Größenkomplex ein, den er beim Basketballspielen in Amerika überwunden zu haben glaubte.
Was ihr Enkel an der Schule treibt, der etwa einen Auszug aus Fontanes "Effi Briest" als Nilpferd darstellen muss, hält man in Nymphenburg für Humbug. "Arme Effi", sagt die Großmutter, "armes Nilpferd", der Großvater. Als die Vorstellung schließlich zum grandiosen Desaster wird, denkt Meyerhoff nicht zum letzten Mal darüber nach, doch noch Medizin zu studieren. Die Schauspielschule hat sich für den angehenden Schauspieler längst zum Reaktor entwickelt, der ihn im grellen Scheinwerferlicht in seine Bestandteile aufspaltet. Meyerhoff erträgt sein Lachen, seine Stimme, ja seinen eigenen Atem nicht mehr. Wie er dann ausgerechnet im "Werther", Goethes Stürmer-und-Dränger, dessen Roman er auch den Titel entliehen hat, ein ureigenes darstellerisches Zuhause findet und den "Du bist nicht in der Situation"-Terror der Schule überwindet, auch davon handelt dieser komische, traurige, selbstironische, erschütternde und liebevolle Text.
"Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" ist nicht weniger intensiv und riskant als Joachim Meyerhoffs Bühnenpräsenz. Weil seine hemmungslose Kunst immer auch das Scheitern und die Angst davor in sich trägt. Bis heute hat er alle Rollenangebote in Filmen abgelehnt. Bis auf eine, die war stumm.
Joachim Meyerhoff: "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 352 S., geb. 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Extremschauspieler Joachim Meyerhoff schreibt seit Jahren an einem furiosen Erinnerungsprojekt. In "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" bricht er ins Leben auf und landet in zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Von Sandra Kegel
Von gestischer Zurückhaltung beim Spielen hält Joachim Meyerhoff nichts. Der Schauspieler ist vielmehr ein Verausgabungskünstler, der sein Publikum, erst jüngst wieder in Herbert Fritschs Hamburger Inszenierung der "Schule der Frauen", buchstäblich von den Stühlen reißt. "Warum Maß halten, wenn Maßlosigkeit dasteht?", fragt der Einsneunzigmann. Als Arnolphe rast er drei Stunden lang durch ein anarchisches Lachtheater und lotet dabei all die Jämmerlichkeiten aus, die Molières lächerlich-tragischer Junggeselle aus dem Paris des Jahres 1662 in sich trägt. Dabei kombiniert Meyerhoff Drastik, Körperlichkeit, Rhythmus und Witz so explosiv, dass die Bühne während dieser One-Man-Show vor Intensität vibriert.
Längst steht der Stürmer und Dränger durch seine Auftritte in Wien, Zürich und Hamburg für ein neues, bedingungsloses Theater, das sich dennoch zur Dramenliteratur bekennt. Wie sehr der Achtundvierzigjährige mit seinem Starkstromspiel einst jedoch aneckte und seine Lehrer an der Schauspielschule zur Verzweiflung brachte, davon erzählt Meyerhoff im dritten Teil seines Erinnerungszyklus "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke".
"Du denkst nicht", giftet die Schauspiellehrerin, "guck mal, wie du dastehst." "Du musst jetzt mal raus aus diesem Sportlerkörper", mahnt der Direktor. Und als der Student eine Einsatzrolle beim Film ergattert, stöhnt der Kameramann: "Oh nee, schon wieder so ein Großer." Es gibt Sätze, schreibt Meyerhoff, die dringen ins Gehirn "wie Marder ins Elektrizitätswerk". Wochenlang hatte er seine Nervosität zu bannen versucht, alle Bedenken wie riesige Schneewehen beiseitegeräumt, doch dann genügt ein Satz, "und im ganzen System sprühten die Funken". Am Ende wird er bei der Filmpremiere erleben müssen, dass man seinen Rollentext von einem Schauspieler nachsynchronisieren ließ.
Alles ein Wahnsinn. Dabei ist Joachim Meyerhoff der Umgang mit Irrsinn nicht eben fremd. In den ersten beiden Teilen seiner autobiographischen Fiktion "Alle Toten fliegen hoch" aus dem Jahr 2011 und "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war" (2013) erzählte er von seiner Kindheit, die er als Sohn des Direktors einer psychiatrischen Einrichtung in Schleswig verbrachte. Die Familie lebte in einer Villa mitten auf dem Anstaltsgelände unter fünfzehnhundert Patienten. Mit Witz und Wärme und entspannter Selbstverständlichkeit schilderte er seine Kindheit unter Verrückten und zu Hause grassierendem Wahnsinn: Da gab es Krippenspiele mit einer Maria in Zwangsjacke und Ferdinand, der dem Jungen Katzen im Querschnitt malte. Da gab es zwei wilde ältere Brüder, einen Vater, klug, belesen und lebensuntüchtig, und eine Mutter, die tröstete und den Laden zusammenhielt.
Im zweiten wie im ersten Band, der von einem Austauschjahr in Amerika handelt, geht es um Lust und Verlust, um Sehnsucht und den Aberwitz des Lebens. Das unbeschwerte Dasein des Erzählers findet allerdings ein abruptes Ende, als sein mittlerer Bruder bei einem Unfall ums Leben kommt. Die verlässlich zugefrorene Fläche, auf der wohlbehütet Schlittschuh gefahren worden war, wie er schreibt, taute förmlich unter ihm weg: "Wie eine Guillotine war der Tod in meine heile Welt gefallen, hatte das Davor und das Danach in zwei Teile zerhackt." Er ist, umstellt von Todesgedanken, ein Mensch auf der Flucht. Vom Schmerz des Verlustes wund geworden, gerät er auf der Suche nach Trost durch Zufall an die berühmte Otto-Falckenberg-Schule in München, bei der er sich eher halbherzig beworben hatte.
Doch statt Ruhe und Linderung findet er sich aufs Neue im Bannkreis der Verrücktheit wieder, und das gleich in zweifacher Hinsicht. Denn seine Studienjahre verlebt der Erzähler im Haus seiner Großeltern im noblen Stadtteil Nymphenburg. Da prallen zwei Lebensentwürfe aufeinander, die unvereinbar scheinen. Vormittags in der Schule wird der junge Mann schonungslos getrieben, Überforderung, Chaos und Unberechenbarkeit sind an der Tagesordnung. Und abends strandet er in der vertrauten Welt seiner Großeltern, die, gesättigt mit Vergangenheit, "wie zwei wertvolle Uhren vor sich hin tickten". Alles hier ist Ritual und Verlässlichkeit, selbst der Alkohol fließt zuverlässig - morgens Champagner, mittags Rotwein, abends Whiskey und zum Abschluss Cointreau.
"Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" darf man sich nicht als eine weitere Biographie eines Prominenten vorstellen, und es ist auch kein Schlüsselbuch nach dem Motto "Wie haben Sie's gemacht, Herr Meyerhoff?". Meyerhoff tritt hier vielmehr als Beobachtungsvirtuose in Erscheinung, dessen Gedankenmaschine immer wieder aufs Neue, durch einen Schuh, einen Sesselüberwurf oder den Duft eines bestimmten Parfüms, in Gang gesetzt wird. Das engmaschige Erinnerungsnetz wirft Meyerhoff dabei insbesondere auf Zimmer und Interieurs. Häusern und ihren Eingängen kommen bei diesem Autor besondere Bedeutung zu, sie sind nicht bloß Staffage, sondern Ausdruck eines vielschichtigen Universums, ein Abbild dessen, wie einer sich einrichtet in dieser Welt. War es im Schleswig-Roman die alte Villa im Zentrum des Klinikgeländes, in der Ärzte, Patienten und Pfleger einund ausgingen, so erforscht Meyerhoff hier nun akribisch die Innenräume der Schauspielschule und des Großelternhauses.
Der Kontrast zwischen der verwinkelten, angstbesetzten Schule, die dem Neuling bald als bedrohliches Spiegellabyrinth erscheint, und der großelterlichen Villa der Stille könnte größer nicht sein. Die Welt der Großeltern, in deren Haus kein Möbelstück, keine Schale, kein Teppich je seinen Platz gewechselt hat, steht dabei nicht nur in einem faszinierenden Kontrast zur aufreibenden Schule, in der die Welt Tag für Tag aus den Fugen gerät, sondern wird vielmehr zum Antipoden des flüchtigen Moments der Bühne schlechthin. Während bei den Großeltern die Zeit stillsteht, was auch eine Art ist, der Vergänglichkeit etwas entgegenzusetzen, hat im Theater nur der Augenblick Bestand. Niemand weiß das besser als Joachim Meyerhoff selbst.
Die täglichen Rituale und Skurrilitäten der Großeltern haben dabei etwas Hochtheatralisches. Was nicht verwundert, wenn man erfährt, dass die Großmutter des Erzählers die Schauspielerin Inge Birkmann ist, die unter Otto Falckenberg einst zum Ensemble der Münchner Kammerspiele gehörte. Ihr Ehemann ist der Philosoph Hermann Krings. Auf exotische Weise kultiviert, wirkt das Paar auf faszinierende Weise weltfremd, das abgelaufene Medikamente ebenso massenhaft hortet, wie es nur selbstgemachte Marmeladen isst, auch wenn deren Hersteller seit Jahren tot sind.
Nicht chronologisch, sondern assoziativ wie in der Psychoanalyse arbeitet Meyerhoff sich in die Vergangenheit vor. Nicht anders als der Hausangestellte Moser, der Stunden am Nymphenburger Küchentisch damit verbringt, die winzigen Bruchstücke von zerschlagenem Porzellan mit Sekundenkleber zu etwas Neuem zusammenzufügen, kittet auch Meyerhoff erzählerisch eine Erinnerungsscherbe an die andere. Dass er als Schauspieler ein Gespür für das Situative und eine besondere Beobachtungsgabe hat, macht den Text so kraftvoll. Für die Ereignisse, die Meyerhoff schildert, findet er die entsprechende Temperatur.
Trifft man Joachim Meyerhoff am Tag nach seiner Molière-Vorstellung im Hamburger Schauspielhaus, hat der schlanke, kahle Mann in Jeans und schwarzer Brille alle Nervosität vom Vorabend abgelegt. Natürlich habe er andere autobiographische Erkundungen gelesen, erzählt er, ob von Karl Ove Knausgård, der gerade in aller Munde ist, oder von dem 2013 verstorbenen Peter Kurzeck. Trotzdem hält er es lieber mit dem großen Molière, der für Meyerhoff geradezu beispielhaft vorführt, dass in jeder gelungenen Komik immer schon das Tragische angelegt ist.
"Erinnern heißt erfinden", stellt in einem früheren Buch der Erstklässler Joachim fest, als er sich, um sich vor anderen interessanter zu machen, ein Ereignis so lange mit Details auflädt, bis er bald selbst nicht mehr zwischen dem Gewesenen und dem Dazuerfundenen unterscheiden kann. Auch der Roman versucht, indem er erfindend rekonstruiert, Nähe zur Vergangenheit zu erzeugen. Der Tod und das Sterben, mithin die Vergänglichkeit, stehen dabei an zentraler Stelle in all seinen Büchern, ob im ersten Heimatroman, im darauf folgenden Reiseroman oder in diesem historischen Roman, dem noch ein Künstlerroman über die Lehrjahre in Kassel und Bielefeld folgen wird.
Komisch-grotesk, aber nicht denunziatorisch legt der Erzähler die Demütigungsrituale an der Schauspielschule offen. Bezeichnenderweise findet die Eröffnungszeremonie für die Neuankömmlinge im verspiegelten Ballettsaal statt. Findet die Ichfindung des Kleinkindes nach Lacan während der ersten Monate statt, wird man in diesem Spiegelstadium alles daransetzen, das Ich zu demontieren und zu entmutigen. "Hinter jedem von euch neun sitzen mehr als hundert andere, die da auch gern sitzen würden", sagt der Direktor zur Begrüßung. Und statt sich kennenzulernen, müssen die Debütanten eine Stunde lang schweigend auf dem Boden sitzen.
Dass schon im Schneidersitz ein ungeheures Maß an Gelingen und Misslingen liegen kann, ist die quälende Erkenntnis der ersten Stunde. Die Introspektion des Schülers hat dabei etwas Beklemmendes, wenn er "wie ein Hausierer" ein Gesicht nach dem andern abklappert und um eine "Blick-Spende" bettelt. Als niemand reagiert, fühlt er sich gekränkt, leergeschaut "wie auf Zwangsurlaub am FKK-Strand". Und prompt stellt sich sein Größenkomplex ein, den er beim Basketballspielen in Amerika überwunden zu haben glaubte.
Was ihr Enkel an der Schule treibt, der etwa einen Auszug aus Fontanes "Effi Briest" als Nilpferd darstellen muss, hält man in Nymphenburg für Humbug. "Arme Effi", sagt die Großmutter, "armes Nilpferd", der Großvater. Als die Vorstellung schließlich zum grandiosen Desaster wird, denkt Meyerhoff nicht zum letzten Mal darüber nach, doch noch Medizin zu studieren. Die Schauspielschule hat sich für den angehenden Schauspieler längst zum Reaktor entwickelt, der ihn im grellen Scheinwerferlicht in seine Bestandteile aufspaltet. Meyerhoff erträgt sein Lachen, seine Stimme, ja seinen eigenen Atem nicht mehr. Wie er dann ausgerechnet im "Werther", Goethes Stürmer-und-Dränger, dessen Roman er auch den Titel entliehen hat, ein ureigenes darstellerisches Zuhause findet und den "Du bist nicht in der Situation"-Terror der Schule überwindet, auch davon handelt dieser komische, traurige, selbstironische, erschütternde und liebevolle Text.
"Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" ist nicht weniger intensiv und riskant als Joachim Meyerhoffs Bühnenpräsenz. Weil seine hemmungslose Kunst immer auch das Scheitern und die Angst davor in sich trägt. Bis heute hat er alle Rollenangebote in Filmen abgelehnt. Bis auf eine, die war stumm.
Joachim Meyerhoff: "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 352 S., geb. 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sandra Kegel ist hin und weg vom dritten Band des Meyerhoffschen Erinnerungsprojekts. In den ersten beide Bänden erzählte der Schauspieler vom Aufwachsen in einer psychiatrischen Klinik, in der der Vater Direktor war, und vom Austauschjahr in Amerika. In diesem dritten Band nun schildert er seine Jahre an der Otto-Falckenberg-Schauspielschule in München. Dort machte er sich mit seinem "Starkstromspiel", so Kegel, keine Freunde. Die Demütigungen, Unsicherheiten und Ängste in der Schule konterkariert er mit der Wohnung seiner Großeltern, in der er in dieser Zeit unterkommt. Hier werden hochtheatralie Rituale gepflegt und die Zeit steht still, lesen wir. Wie Meyerhoff Situationen erspüren und Räume beschreiben kann, wie er Vergangheit assoziativ und "erfindend rekonstruiert", erweckt in Kegel höchste Bewunderung. Schreiben als Hochseilakt ohne Netz, intensiver geht nicht, versichert die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2015Glanzrolle
Joachim Meyerhoff
erzählt von seinen steinigen Anfängen
als Schauspieler – und vom puren
Gold der Familienwerte
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Kurz nach dem Tod der Großmutter, das Haus ist schon leer geräumt, jedes Zimmer frisch gestrichen, erinnert sich ihr Lieblingsenkel Joachim, der „Lieberling“, wie sie ihn stets nannte, dass es da doch irgendwo einen eingebauten Tresor gegeben habe, versteckt hinter einem Wandschrank. Die Familie trifft sich in München zur gemeinsamen Schatzsuche. Und richtig, mit einem geheimen Mechanismus lässt sich die Rückwand des Schranks öffnen, der passende Schlüssel findet sich bei Großvaters Manschettenknöpfen, und zum Vorschein kommt der Schmuck der Großmutter, darunter ein Ring mit einer schadhaften Perle, von der ein feiner Splitter abgesprungen ist.
Diesen Ring hatte die Großmutter zum letzten Mal 1946 getragen und danach nie wieder. An jenem Tag war sie von einem mit betrunkenen GIs besetzten Jeep in der Ismaninger Straße überfahren worden. Seit dem verhängnisvollen Unfall, bei dem die Knochen der bildschönen Frau und gefeierten Schauspielerin zerbrachen und an dem sie beinahe ganz zerbrochen wäre, war eines ihrer Beine kürzer als das andere. Aber ihren Schmerz darüber hatte sie weggeschlossen im Tresor. Und wenn man so will, dann hat ihr Enkel Joachim die Perle des beschädigten Großmutterlebens nun von der Samtschatulle umgebettet in den größeren Tresor eines Romans.
„Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ heißt dieser Roman. Der Titel ist ein Zitat aus Goethes „Werther“, doch gemeint ist die Lücke, die all die Menschen hinterlassen haben, die Meyerhoff früh verloren hat: erst einen Bruder, dann den Vater, schließlich die geliebten Großeltern. Erstmals hatte Joachim Meyerhoff öffentlich davon auf der Theaterbühne erzählt. Dass aus der Solo-Performance „Alle Toten fliegen hoch“, die er von 2007 an am Wiener Burgtheater spielte, irgendwann ein Roman herauswächst, erschien geradezu zwingend angesichts der staunenswerten Erzählkunst, die sich in seiner Verwandlungskunst wie ein ungehobener Schatz verbarg. Und weil Meyerhoff das ist, was man einen Extremschauspieler nennt, war zu erwarten, dass Mäßigung auch als Buchautor nicht seine Sache sein würde. Mittlerweile haben sich die Ausfaltungen seines Erzählkontinuums in drei Roman-Backsteinen verfestigt. Zusammen erinnern diese fast 1000-Seiten an die Echtzeit-Lebensmitschriften Karl Ove Knausgårds – und sie sind ähnlich erfolgreich.
Damals jedoch, im Larvenstadium der Bühnenshow, wunderten sich manche in der Theaterwelt über den Ausfallschritt des Schauspielers ins erzählende Fach. Dass der 1967 geborene Meyerhoff aus seinem gerade mal vierzigjährigen Leben eine autobiografische Totenwache machte, hielten einige für ebenso morbide wie megaloman, für einen Fall von narzisstischem Overacting, für eine überzogene selbsttherapeutische Dehnübung. Und als er vor zwei Jahren ein Kapitel aus der dritten Lieferung seiner Lebensgeschichte in Klagenfurt las, bekam er die Streicheleinheiten des Fallbeils zu spüren. Die Jury erkannte auf „anekdotisches Erzählen“ – eine niedere Lebensform des Schreibens, mit der man so ungute Dinge verbindet wie gefälliges Dekorationsgewerbe, süffige Ausschmückungsprosa, eitle Kulissenschieberei. Wer eine Geschichte ungebrochen geradeaus erzählt und sie darüber hinaus so erzählt, dass sie zu Herzen geht und dabei auch noch rasend komisch ist, gilt im Literaturbetrieb als Kitschnudel und hat die Höchststrafe verdient.
Beide Vorwürfe gehen jedoch ins Leere. Denn zur Anekdote gehört die Verniedlichung, der Verrat des Schreckens an die Pointe. Bei Meyerhoff aber geschieht das Gegenteil: Wenn er mit dem Schauspieler Horst Tappert zusammen in der Sauna sitzt und fürchtet, nach dem letzten Aufguss könnte er von Derrick verhaftet werden, oder wenn er beim Italiener vor lauter Verklemmtheit die Bestellung „Frutti di mare“ so auszusprechen versucht, dass es für die hübsche Kellnerin klingt wie „Du hast tolle Haare“ – dann schlägt im Witz immer noch die Wunde durch. Jede Pointe ist hier nur die Sprungschanze über einem Abgrund. Und das Ich, das im Roman spricht, ist weniger dessen selbstverliebter Hauptdarsteller als vielmehr ein Conférencier, der die schmerzlich vermisstenToten aus dem Hades zurück ins Licht führt, ein Orpheus und Bergungsunternehmer der verlorenen Zeit. „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, heißt es bei William Faulkner.
Verwundet, nach Heilung lechzend, aus der Bahn geworfen durch den frühen Tod des Bruders, kommt der junge Meyerhoff Ende der Achtzigerjahre nach München und zieht ins Haus der Großeltern am Nymphenburger Schlosspark ein. Die Villa ist selbst so etwas wie eine Burg der Nymphen, ein heiteres bildungsbürgerliches Geisterhaus. Nach einem wackligen Vorsprechen ist er akzeptiert worden an der berühmten Otto-Falckenberg-Schule und gerät als Schauspieleleve in eine Welt, die so gar nicht zu seiner inneren Welt passen will. Er, der doch ohnehin schon jeden Halt verloren hat durch die Auflösung der Familie, die Trennung der Eltern, den tödlichen Unfall des Bruders, soll sich auf einmal fallen lassen, emotionale Verkrustungen aufbrechen, Blockaden wegatmen. Im Gegensatz zu den anderen im Stuhlkreis seines Jahrgangs hat er jedoch zu viel erlebt, um unter Anleitung eines wahren Skurrilitätenkabinetts von Lehrern in immer neuen Sandkasten-Improvisationen das freizulegen, von dem er als einziger zu viel besitzt: authentisches Gefühl. Im Grunde ist er bereits zu alt für seine eigene Jugend.
„An diesem Ort sollte man sich häuten, zu sich kommen, ganz man selbst sein“, schreibt Meyerhoff über das Selbsterfahrungsunwesen. Er aber will sich nicht häuten, er will das Gegenteil: sich verpuppen, verwandeln, verkleiden, nur das nimmt ihm die Angst vor dem Spielen. So wie das eine Mal bei einer Kostüm-Versteigerung, als er seinen muskelbepackten 1,90-Meter-Körper in eine mit Pailletten besetzte Damenrobe hüllt und sich plötzlich wie befreit fühlt. Nach dem schillernden Auftritt als „lebendige Discokugel“ stellt Meyerhoff fest: „Ich habe geleuchtet“. Im trüben Schulalltag aber lernt er vor allem, wie man sich auf offener Bühne versteckt.
Von den Niederlagen und Demütigungen des Tages erholt er sich abends bei den Großeltern. In ihrem Haus, in dem die Zeit in einem ewigen Kindheitsglück vor allen Katastrophen eingefroren zu sein scheint, kommt er zur Ruhe. Gerade weil das Leben in diesem Mausoleum der Marotten aus den immer gleichen Ritualen besteht, unverrückbar wie die Möbelstücke, die in ihren Druckstellen ruhen, als wären sie in unsichtbare Verankerungen eingerastet. Zu diesen Ritualen gehört, dass jede Etappe im Tagesablauf alkoholisch begleitet wird, bis auch der volltrunkene Enkel den Treppenlift benutzen muss, um ins Bett zu kommen. In der Frühe geht es wieder von vorne los, eine Endlosschleife „Dinner for One“.
Die mondäne Großmutter, einst selbst Lehrerin an der Otto-Falckenberg-Schule, hat sich den Hang zur großen Pose auch auf der häuslichen Bühne erhalten. Banalste Sätze lädt sie, ganz alte Diven-Schule, mit maximalem Pathos auf: „Moooahhh. . . der Brie ist ja ein Gedicht heute Abend.“ Einmal lässt sie sich noch zu einem Filmprojekt überreden und bringt den „armen Lieberling“ als ihren Partner unter. Ein Fiasko. Bei der Vorführung erfährt der Enkel beiläufig, dass er synchronisiert worden ist.
Seine geraubte Stimme hat sich Joachim Meyerhoff längst zurückgeholt. Der neue Roman ist eine Liebeserklärung an die größtmöglichen Großeltern überhaupt, einen „Gedankenbesuch“ nennt er das. Mit ihrer Güte, ihrer Grandezza und ihren sanften Spleens waren sie für ihn die Rettung. Ein einziges Mal hatte der zauselige Großvater und strenge Philosophieprofessor Joachim kritisiert: Er begnüge sich damit, die Welt anzustaunen, anstatt um Teilhabe zu ringen. Auch auf der Schauspielschule hatte er schon zu hören bekommen, er müsse aufpassen, dass Enthusiasmus nicht sein einziges Talent bleibe. Und er stimmt sogar zu: „Ich kann nichts, außer begeistert sein.“ Mit seinen Romanen aber beweist Joachim Meyerhoff, wie unrecht sie hatten. Denn sein Staunen ist eine Gabe – das Beste, was Kunst vermag, um Teilhabe an dieser Welt zu erringen.
Joachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke. Alle Toten fliegen hoch, Teil 3. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 352 Seiten, 21,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.
Wer so gut schreiben kann,
hat für die literarische Kritik
alles falsch gemacht
Dieser Roman ist eine
Liebeserklärung an die größten
Großeltern der Welt
Abermals lockt
Joachim Meyerhoff
die Leser in das
Spiegelkabinett der
frühen Jahre.
Und gibt ein leuchtendes Beispiel seiner
Einflüsterungskunst.
Foto: Peter Rigaud/laif
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Joachim Meyerhoff
erzählt von seinen steinigen Anfängen
als Schauspieler – und vom puren
Gold der Familienwerte
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Kurz nach dem Tod der Großmutter, das Haus ist schon leer geräumt, jedes Zimmer frisch gestrichen, erinnert sich ihr Lieblingsenkel Joachim, der „Lieberling“, wie sie ihn stets nannte, dass es da doch irgendwo einen eingebauten Tresor gegeben habe, versteckt hinter einem Wandschrank. Die Familie trifft sich in München zur gemeinsamen Schatzsuche. Und richtig, mit einem geheimen Mechanismus lässt sich die Rückwand des Schranks öffnen, der passende Schlüssel findet sich bei Großvaters Manschettenknöpfen, und zum Vorschein kommt der Schmuck der Großmutter, darunter ein Ring mit einer schadhaften Perle, von der ein feiner Splitter abgesprungen ist.
Diesen Ring hatte die Großmutter zum letzten Mal 1946 getragen und danach nie wieder. An jenem Tag war sie von einem mit betrunkenen GIs besetzten Jeep in der Ismaninger Straße überfahren worden. Seit dem verhängnisvollen Unfall, bei dem die Knochen der bildschönen Frau und gefeierten Schauspielerin zerbrachen und an dem sie beinahe ganz zerbrochen wäre, war eines ihrer Beine kürzer als das andere. Aber ihren Schmerz darüber hatte sie weggeschlossen im Tresor. Und wenn man so will, dann hat ihr Enkel Joachim die Perle des beschädigten Großmutterlebens nun von der Samtschatulle umgebettet in den größeren Tresor eines Romans.
„Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ heißt dieser Roman. Der Titel ist ein Zitat aus Goethes „Werther“, doch gemeint ist die Lücke, die all die Menschen hinterlassen haben, die Meyerhoff früh verloren hat: erst einen Bruder, dann den Vater, schließlich die geliebten Großeltern. Erstmals hatte Joachim Meyerhoff öffentlich davon auf der Theaterbühne erzählt. Dass aus der Solo-Performance „Alle Toten fliegen hoch“, die er von 2007 an am Wiener Burgtheater spielte, irgendwann ein Roman herauswächst, erschien geradezu zwingend angesichts der staunenswerten Erzählkunst, die sich in seiner Verwandlungskunst wie ein ungehobener Schatz verbarg. Und weil Meyerhoff das ist, was man einen Extremschauspieler nennt, war zu erwarten, dass Mäßigung auch als Buchautor nicht seine Sache sein würde. Mittlerweile haben sich die Ausfaltungen seines Erzählkontinuums in drei Roman-Backsteinen verfestigt. Zusammen erinnern diese fast 1000-Seiten an die Echtzeit-Lebensmitschriften Karl Ove Knausgårds – und sie sind ähnlich erfolgreich.
Damals jedoch, im Larvenstadium der Bühnenshow, wunderten sich manche in der Theaterwelt über den Ausfallschritt des Schauspielers ins erzählende Fach. Dass der 1967 geborene Meyerhoff aus seinem gerade mal vierzigjährigen Leben eine autobiografische Totenwache machte, hielten einige für ebenso morbide wie megaloman, für einen Fall von narzisstischem Overacting, für eine überzogene selbsttherapeutische Dehnübung. Und als er vor zwei Jahren ein Kapitel aus der dritten Lieferung seiner Lebensgeschichte in Klagenfurt las, bekam er die Streicheleinheiten des Fallbeils zu spüren. Die Jury erkannte auf „anekdotisches Erzählen“ – eine niedere Lebensform des Schreibens, mit der man so ungute Dinge verbindet wie gefälliges Dekorationsgewerbe, süffige Ausschmückungsprosa, eitle Kulissenschieberei. Wer eine Geschichte ungebrochen geradeaus erzählt und sie darüber hinaus so erzählt, dass sie zu Herzen geht und dabei auch noch rasend komisch ist, gilt im Literaturbetrieb als Kitschnudel und hat die Höchststrafe verdient.
Beide Vorwürfe gehen jedoch ins Leere. Denn zur Anekdote gehört die Verniedlichung, der Verrat des Schreckens an die Pointe. Bei Meyerhoff aber geschieht das Gegenteil: Wenn er mit dem Schauspieler Horst Tappert zusammen in der Sauna sitzt und fürchtet, nach dem letzten Aufguss könnte er von Derrick verhaftet werden, oder wenn er beim Italiener vor lauter Verklemmtheit die Bestellung „Frutti di mare“ so auszusprechen versucht, dass es für die hübsche Kellnerin klingt wie „Du hast tolle Haare“ – dann schlägt im Witz immer noch die Wunde durch. Jede Pointe ist hier nur die Sprungschanze über einem Abgrund. Und das Ich, das im Roman spricht, ist weniger dessen selbstverliebter Hauptdarsteller als vielmehr ein Conférencier, der die schmerzlich vermisstenToten aus dem Hades zurück ins Licht führt, ein Orpheus und Bergungsunternehmer der verlorenen Zeit. „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, heißt es bei William Faulkner.
Verwundet, nach Heilung lechzend, aus der Bahn geworfen durch den frühen Tod des Bruders, kommt der junge Meyerhoff Ende der Achtzigerjahre nach München und zieht ins Haus der Großeltern am Nymphenburger Schlosspark ein. Die Villa ist selbst so etwas wie eine Burg der Nymphen, ein heiteres bildungsbürgerliches Geisterhaus. Nach einem wackligen Vorsprechen ist er akzeptiert worden an der berühmten Otto-Falckenberg-Schule und gerät als Schauspieleleve in eine Welt, die so gar nicht zu seiner inneren Welt passen will. Er, der doch ohnehin schon jeden Halt verloren hat durch die Auflösung der Familie, die Trennung der Eltern, den tödlichen Unfall des Bruders, soll sich auf einmal fallen lassen, emotionale Verkrustungen aufbrechen, Blockaden wegatmen. Im Gegensatz zu den anderen im Stuhlkreis seines Jahrgangs hat er jedoch zu viel erlebt, um unter Anleitung eines wahren Skurrilitätenkabinetts von Lehrern in immer neuen Sandkasten-Improvisationen das freizulegen, von dem er als einziger zu viel besitzt: authentisches Gefühl. Im Grunde ist er bereits zu alt für seine eigene Jugend.
„An diesem Ort sollte man sich häuten, zu sich kommen, ganz man selbst sein“, schreibt Meyerhoff über das Selbsterfahrungsunwesen. Er aber will sich nicht häuten, er will das Gegenteil: sich verpuppen, verwandeln, verkleiden, nur das nimmt ihm die Angst vor dem Spielen. So wie das eine Mal bei einer Kostüm-Versteigerung, als er seinen muskelbepackten 1,90-Meter-Körper in eine mit Pailletten besetzte Damenrobe hüllt und sich plötzlich wie befreit fühlt. Nach dem schillernden Auftritt als „lebendige Discokugel“ stellt Meyerhoff fest: „Ich habe geleuchtet“. Im trüben Schulalltag aber lernt er vor allem, wie man sich auf offener Bühne versteckt.
Von den Niederlagen und Demütigungen des Tages erholt er sich abends bei den Großeltern. In ihrem Haus, in dem die Zeit in einem ewigen Kindheitsglück vor allen Katastrophen eingefroren zu sein scheint, kommt er zur Ruhe. Gerade weil das Leben in diesem Mausoleum der Marotten aus den immer gleichen Ritualen besteht, unverrückbar wie die Möbelstücke, die in ihren Druckstellen ruhen, als wären sie in unsichtbare Verankerungen eingerastet. Zu diesen Ritualen gehört, dass jede Etappe im Tagesablauf alkoholisch begleitet wird, bis auch der volltrunkene Enkel den Treppenlift benutzen muss, um ins Bett zu kommen. In der Frühe geht es wieder von vorne los, eine Endlosschleife „Dinner for One“.
Die mondäne Großmutter, einst selbst Lehrerin an der Otto-Falckenberg-Schule, hat sich den Hang zur großen Pose auch auf der häuslichen Bühne erhalten. Banalste Sätze lädt sie, ganz alte Diven-Schule, mit maximalem Pathos auf: „Moooahhh. . . der Brie ist ja ein Gedicht heute Abend.“ Einmal lässt sie sich noch zu einem Filmprojekt überreden und bringt den „armen Lieberling“ als ihren Partner unter. Ein Fiasko. Bei der Vorführung erfährt der Enkel beiläufig, dass er synchronisiert worden ist.
Seine geraubte Stimme hat sich Joachim Meyerhoff längst zurückgeholt. Der neue Roman ist eine Liebeserklärung an die größtmöglichen Großeltern überhaupt, einen „Gedankenbesuch“ nennt er das. Mit ihrer Güte, ihrer Grandezza und ihren sanften Spleens waren sie für ihn die Rettung. Ein einziges Mal hatte der zauselige Großvater und strenge Philosophieprofessor Joachim kritisiert: Er begnüge sich damit, die Welt anzustaunen, anstatt um Teilhabe zu ringen. Auch auf der Schauspielschule hatte er schon zu hören bekommen, er müsse aufpassen, dass Enthusiasmus nicht sein einziges Talent bleibe. Und er stimmt sogar zu: „Ich kann nichts, außer begeistert sein.“ Mit seinen Romanen aber beweist Joachim Meyerhoff, wie unrecht sie hatten. Denn sein Staunen ist eine Gabe – das Beste, was Kunst vermag, um Teilhabe an dieser Welt zu erringen.
Joachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke. Alle Toten fliegen hoch, Teil 3. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 352 Seiten, 21,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.
Wer so gut schreiben kann,
hat für die literarische Kritik
alles falsch gemacht
Dieser Roman ist eine
Liebeserklärung an die größten
Großeltern der Welt
Abermals lockt
Joachim Meyerhoff
die Leser in das
Spiegelkabinett der
frühen Jahre.
Und gibt ein leuchtendes Beispiel seiner
Einflüsterungskunst.
Foto: Peter Rigaud/laif
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» Ach, diese Lücke ... ist nicht weniger intensiv und riskant als Joachim Meyerhoffs Bühnenpräsenz.« FAZ