Leif Randt erzählt vom Glück. Von Tanja und Jerome, von Wirklichkeit und Badminton, von idealen Zuständen und den Hochzeiten der anderen. Eine Lovestory aus den späten Zehnerjahren. Tanja Arnheim, deren Debütroman PanoptikumNeu Kultstatus genießt, wird in wenigen Wochen dreißig. Mit Blick auf den Berliner Volkspark Hasenheide wartet sie auf eine explosive Idee für ihr neues Buch. Ihr fünf Jahre älterer Freund, der gefragte Webdesigner Jerome Daimler, bewohnt in Maintal den Bungalow seiner Eltern und versucht sein Leben zunehmend als spirituelle Einkehr zu begreifen. Die Fernbeziehung der beiden wirkt makellos. Sie bleiben über Text und Bild eng miteinander verbunden und besuchen sich für lange Wochenenden in ihren jeweiligen Realitäten. Jogging durchs Naturschutzgebiet und Meditation im südhessischen Maintal, driftende Dauerkom-munikation und sexpositives Ausgehen in Berlin - Jerome und Tanja sind füreinander da, jedoch nicht aneinander verloren. Eltern, Freund*innen und depressive Geschwister spiegeln ihnen ein Leid, gegen das Tanja und Jerome weitgehend immun bleiben. Doch der Wunsch, ihre Zuneigung zu konservieren, ohne dass diese bieder oder schmerzhaft existenziell wird, stellt das Paar vor eine große Herausforderung.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Ijoma Mangold macht ein Fass auf. Aus Leif Randts neuem Roman könnte sogar eine Jugendbewegung entstehen, glaubt er. Geht's auch kleiner? Nein, meint Mangold im eineinhalbseitigen Aufmacher des Zeit-Feuilletons, denn das Buch hat einen Wirklichkeitseffekt, der sogar Rainald Goetz alt aussehen lässt und sich daraus speist, dass bei Randt "Zeitgeistdiagnose Form wird". Die Liebesgeschichte zweier nahezu perfekter Zeitgenossen, die Drogen, Liebe und Tee gleich achtsam und nachhaltig zu zelebrieren scheinen, erzählt der Autor laut Mangold als Pointenfeuerwerk, schimmernd und wohl konstruiert und stößt dabei in die Tiefenstrukturen unserer Kultur und Kommunikation vor.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2021Wir wollten nie wie unsere Eltern werden
Der Erzähler steht außerhalb und innerhalb der Figurenwelt: "Allegro Pastell" von Leif Randt erneuert den bürgerlichen Roman.
Bürgerlichkeit scheint gegenwärtig eine zweifelhafte Währung zu sein. Politische Parteien streiten um die bürgerliche Mitte, bezeichnen sich selbst als bürgerlich oder sprechen anderen die Bürgerlichkeit ab. Im jüngeren akademischen Milieu sorgt dagegen schon der Begriff "bürgerlich" für Stirnrunzeln. "Was zur Hölle soll 'bürgerlich' eigentlich heißen?", twitterte unlängst der Bonner Germanist Johannes Franzen. Seine Follower konnten hier nur spekulieren. Das müsse irgendetwas mit "Immobilienbesitz" zu tun haben. Oder sei einfach "Neusprech für AfD-kompatibel".
Gibt es die politisch beschworene Bürgerlichkeit also überhaupt? Historikerinnen und Soziologen sind sich darin einig, dass Bürgerlichkeit schon seit dem achtzehnten Jahrhundert kein fester sozialer und juristischer Status mehr ist. Bürger sind schlicht Menschen, die sich, ohne dass sie eine rechtliche Garantie dafür hätten, als ökonomische und kulturelle Mitte empfinden. Das Bürgerliche ist das Normale. Oder all jene Ideen, Stile und Lebensformen, die sich als gesellschaftlicher Standard etablieren. Doch was ist heutzutage Standard? Und kann man frei darüber bestimmen, ob man diesen Standard erfüllen will?
Leif Randts Roman "Allegro Pastell", der im vergangenen Jahr bei Kiepenheuer & Witsch erschien (F.A.Z. vom 12. März 2020), wirft diese Fragen auf. Das Buch erzählt von der Beziehung zwischen Jerome und Tanja, einem Grafikdesigner aus dem hessischen Maintal und einer Berliner Autorin. Die Denk- und Redeweise dieser beiden Kreativarbeiter verläuft entlang einer Weltdeutung, für die sich das Attribut "woke" eingebürgert hat. Tanja sagt in einem Interview, dass sie sich "zunehmend vor heterosexuellen Paaren ekele", Jerome verlässt genervt ein Café, weil ihm dort zu viele weiße Menschen sitzen, und in der binären Hochzeit eines Freundes kann er nichts anderes sehen als ein ultraspießiges "Shit-Event". Auch die ökonomischen Ansprüche der Mittelschicht torpedieren Jerome und Tanja, wenn sie das Geldverdienen als "Denkfehler" bezeichnen. Vieles, was man mit bürgerlich assoziiert, scheint hier durchkreuzt zu sein.
Sind Jerome und Tanja aber wirklich Antibürger? Die Kommunikation mit den mittelständischen Eltern verläuft "erstaunlich harmonisch". Konflikte gibt es nicht. Warum auch? Jeromes Vater, ein Ingenieur in Rente, findet es "löblich", dass sich der Sohn "kein eigenes Auto" kauft. Schließlich mache er "den Planeten damit nicht schlechter". Auch Tanja erlebt mit ihren Eltern alles andere als einen Generationenkonflikt. Immerhin ist es die Mutter (eine Psychologin), die "im Schneidersitz auf dem Teppich sitzend" dazu rät, dass Tanja ihre monogame Beziehung zu Jerome auflockern und mal einen Seitensprung wagen solle.
Selbst die Kritik am Geldverdienen wird von den Eltern unterstützt, wenn es für Tanja zu Weihnachten ein Buch über das bedingungslose Grundeinkommen gibt. Die Figuren wollen nicht bürgerlich sein. Aber das soziale und familiäre Umfeld hat ihr Werteschema längst als mittelschichtstauglichen Standard akzeptiert. So werden sie bürgerlich wider Willen.
Solche Verbürgerlichungsdynamiken lassen sich unterschiedlich darstellen. Triumphal im Ton ist Sahra Wagenknechts Sachbuch "Die Selbstgerechten" (F.A.Z. vom 21. April), das dem linksakademischen Milieu höhnisch seine Lifestyle-Bürgerlichkeit um die Ohren haut. In ihrer Beschreibung der Woke-Kultur greift Wagenknecht zu den Mitteln satirischer Überzeichnung. Satirische Techniken wurden schon immer dazu eingesetzt, dem Bürgertum seine Lebenslügen vorzuführen. Die Satire hat aber einen blinden Fleck: Denn woher bezieht die Sprecherin ihren moralischen Standpunkt? Kann es nicht sein, dass sie selbst Teil dessen ist, was sie beschreibt? Ist Wagenknecht vielleicht auch eine Selbstgerechte, eine Bürgerliche, die ihren Wohlstand mit ein bisschen Salonmarxismus drapiert?
Die satirische Falle umgeht Randt durch die ästhetische Form. In "Allegro Pastell" spricht kein außenstehender Satiriker, der die Figuren vorführt und von oben herab behandelt. Gleichzeitig wird bei ihm aber auch jene moralische Identifikation mit den Hauptfiguren vermieden, die der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler aus Münster soeben als typisch für den neuen "Midcult" der Gegenwartsliteratur beschrieben hat (F.A.Z. vom 9. Juli). Randts "feine und elegante Ironie" (Katrin Hillgruber) entsteht durch einen neutralen Erzähler, der seine normative Haltung zu den Figuren gerade in solchen Momenten in der Schwebe hält, in denen sie auf moralische Rückendeckung angewiesen sind. Man schmunzelt verwundert, wenn die Figuren eine Power-Point-Präsentation erstellen, um das ethische Für und Wider ihres Kinderwunsches zu diskutieren. Und die Komik solch forcierter Achtsamkeit wirkt umso stärker, als hier jeder solidarische Erzählerkommentar ausbleibt. Trotz solcher Distanzsignale verwendet der Erzähler die gleiche Gendersprache und ähnliche Lifestylevokabeln wie seine Protagonisten. Randts Erzähler steht gleichzeitig außerhalb und innerhalb der Figurenwelt. Er ist wie der Gast auf einem Popkonzert, der bei keinem der Songs applaudiert, während der After-Show-Party aber plaudernd zwischen den Musikern steht.
Randts ironisch schillernde Ästhetik entspricht einer Gesellschaft, in der es schwieriger geworden ist, sich dem Sog der Bürgerlichkeit zu entziehen und einen autonomen Standpunkt einzunehmen. Zwar bilden sich in regelmäßigen Abständen neue Gegenkulturen heraus, die Lebensformen jenseits der Bürgerlichkeit postulieren. Doch in der von dem Soziologen Andreas Reckwitz auf den viel zitierten Begriff gebrachten "Gesellschaft der Singularitäten" ist das Alternative zum Common Sense geworden. Die Standardisierung des Außergewöhnlichen macht es für die Individuen schwer, die eigene Position gegenüber der Bürgerlichkeit zu bestimmen.
Die Ironie ist eine Form, die eigene Verstrickung in die Mittelschicht einzugestehen. Und gleichzeitig einen leichten Vorbehalt gegenüber den moralischen Routinen dieser Mittelschicht auszudrücken. In diesem Sinne beschrieb Hans Magnus Enzensberger seine Poetik einmal als "Verteidigung der Normalität" unter gleichzeitigem Verzicht auf ihre "Anbetung". Bei Randt klingt das in einem Interview mit der Internetzeitschrift Republik.ch ähnlich. In "Allegro Pastell" sei es ihm um die "Behauptung einer Normalität" gegangen, mit der er beim Schreiben aber nie ganz verschmolzen sei. Sein poetischer "Weltzugriff" bleibe die "Unentschiedenheit": eine dezente, doch unauflösliche "Halbdistanz". JENS OLE SCHNEIDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Erzähler steht außerhalb und innerhalb der Figurenwelt: "Allegro Pastell" von Leif Randt erneuert den bürgerlichen Roman.
Bürgerlichkeit scheint gegenwärtig eine zweifelhafte Währung zu sein. Politische Parteien streiten um die bürgerliche Mitte, bezeichnen sich selbst als bürgerlich oder sprechen anderen die Bürgerlichkeit ab. Im jüngeren akademischen Milieu sorgt dagegen schon der Begriff "bürgerlich" für Stirnrunzeln. "Was zur Hölle soll 'bürgerlich' eigentlich heißen?", twitterte unlängst der Bonner Germanist Johannes Franzen. Seine Follower konnten hier nur spekulieren. Das müsse irgendetwas mit "Immobilienbesitz" zu tun haben. Oder sei einfach "Neusprech für AfD-kompatibel".
Gibt es die politisch beschworene Bürgerlichkeit also überhaupt? Historikerinnen und Soziologen sind sich darin einig, dass Bürgerlichkeit schon seit dem achtzehnten Jahrhundert kein fester sozialer und juristischer Status mehr ist. Bürger sind schlicht Menschen, die sich, ohne dass sie eine rechtliche Garantie dafür hätten, als ökonomische und kulturelle Mitte empfinden. Das Bürgerliche ist das Normale. Oder all jene Ideen, Stile und Lebensformen, die sich als gesellschaftlicher Standard etablieren. Doch was ist heutzutage Standard? Und kann man frei darüber bestimmen, ob man diesen Standard erfüllen will?
Leif Randts Roman "Allegro Pastell", der im vergangenen Jahr bei Kiepenheuer & Witsch erschien (F.A.Z. vom 12. März 2020), wirft diese Fragen auf. Das Buch erzählt von der Beziehung zwischen Jerome und Tanja, einem Grafikdesigner aus dem hessischen Maintal und einer Berliner Autorin. Die Denk- und Redeweise dieser beiden Kreativarbeiter verläuft entlang einer Weltdeutung, für die sich das Attribut "woke" eingebürgert hat. Tanja sagt in einem Interview, dass sie sich "zunehmend vor heterosexuellen Paaren ekele", Jerome verlässt genervt ein Café, weil ihm dort zu viele weiße Menschen sitzen, und in der binären Hochzeit eines Freundes kann er nichts anderes sehen als ein ultraspießiges "Shit-Event". Auch die ökonomischen Ansprüche der Mittelschicht torpedieren Jerome und Tanja, wenn sie das Geldverdienen als "Denkfehler" bezeichnen. Vieles, was man mit bürgerlich assoziiert, scheint hier durchkreuzt zu sein.
Sind Jerome und Tanja aber wirklich Antibürger? Die Kommunikation mit den mittelständischen Eltern verläuft "erstaunlich harmonisch". Konflikte gibt es nicht. Warum auch? Jeromes Vater, ein Ingenieur in Rente, findet es "löblich", dass sich der Sohn "kein eigenes Auto" kauft. Schließlich mache er "den Planeten damit nicht schlechter". Auch Tanja erlebt mit ihren Eltern alles andere als einen Generationenkonflikt. Immerhin ist es die Mutter (eine Psychologin), die "im Schneidersitz auf dem Teppich sitzend" dazu rät, dass Tanja ihre monogame Beziehung zu Jerome auflockern und mal einen Seitensprung wagen solle.
Selbst die Kritik am Geldverdienen wird von den Eltern unterstützt, wenn es für Tanja zu Weihnachten ein Buch über das bedingungslose Grundeinkommen gibt. Die Figuren wollen nicht bürgerlich sein. Aber das soziale und familiäre Umfeld hat ihr Werteschema längst als mittelschichtstauglichen Standard akzeptiert. So werden sie bürgerlich wider Willen.
Solche Verbürgerlichungsdynamiken lassen sich unterschiedlich darstellen. Triumphal im Ton ist Sahra Wagenknechts Sachbuch "Die Selbstgerechten" (F.A.Z. vom 21. April), das dem linksakademischen Milieu höhnisch seine Lifestyle-Bürgerlichkeit um die Ohren haut. In ihrer Beschreibung der Woke-Kultur greift Wagenknecht zu den Mitteln satirischer Überzeichnung. Satirische Techniken wurden schon immer dazu eingesetzt, dem Bürgertum seine Lebenslügen vorzuführen. Die Satire hat aber einen blinden Fleck: Denn woher bezieht die Sprecherin ihren moralischen Standpunkt? Kann es nicht sein, dass sie selbst Teil dessen ist, was sie beschreibt? Ist Wagenknecht vielleicht auch eine Selbstgerechte, eine Bürgerliche, die ihren Wohlstand mit ein bisschen Salonmarxismus drapiert?
Die satirische Falle umgeht Randt durch die ästhetische Form. In "Allegro Pastell" spricht kein außenstehender Satiriker, der die Figuren vorführt und von oben herab behandelt. Gleichzeitig wird bei ihm aber auch jene moralische Identifikation mit den Hauptfiguren vermieden, die der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler aus Münster soeben als typisch für den neuen "Midcult" der Gegenwartsliteratur beschrieben hat (F.A.Z. vom 9. Juli). Randts "feine und elegante Ironie" (Katrin Hillgruber) entsteht durch einen neutralen Erzähler, der seine normative Haltung zu den Figuren gerade in solchen Momenten in der Schwebe hält, in denen sie auf moralische Rückendeckung angewiesen sind. Man schmunzelt verwundert, wenn die Figuren eine Power-Point-Präsentation erstellen, um das ethische Für und Wider ihres Kinderwunsches zu diskutieren. Und die Komik solch forcierter Achtsamkeit wirkt umso stärker, als hier jeder solidarische Erzählerkommentar ausbleibt. Trotz solcher Distanzsignale verwendet der Erzähler die gleiche Gendersprache und ähnliche Lifestylevokabeln wie seine Protagonisten. Randts Erzähler steht gleichzeitig außerhalb und innerhalb der Figurenwelt. Er ist wie der Gast auf einem Popkonzert, der bei keinem der Songs applaudiert, während der After-Show-Party aber plaudernd zwischen den Musikern steht.
Randts ironisch schillernde Ästhetik entspricht einer Gesellschaft, in der es schwieriger geworden ist, sich dem Sog der Bürgerlichkeit zu entziehen und einen autonomen Standpunkt einzunehmen. Zwar bilden sich in regelmäßigen Abständen neue Gegenkulturen heraus, die Lebensformen jenseits der Bürgerlichkeit postulieren. Doch in der von dem Soziologen Andreas Reckwitz auf den viel zitierten Begriff gebrachten "Gesellschaft der Singularitäten" ist das Alternative zum Common Sense geworden. Die Standardisierung des Außergewöhnlichen macht es für die Individuen schwer, die eigene Position gegenüber der Bürgerlichkeit zu bestimmen.
Die Ironie ist eine Form, die eigene Verstrickung in die Mittelschicht einzugestehen. Und gleichzeitig einen leichten Vorbehalt gegenüber den moralischen Routinen dieser Mittelschicht auszudrücken. In diesem Sinne beschrieb Hans Magnus Enzensberger seine Poetik einmal als "Verteidigung der Normalität" unter gleichzeitigem Verzicht auf ihre "Anbetung". Bei Randt klingt das in einem Interview mit der Internetzeitschrift Republik.ch ähnlich. In "Allegro Pastell" sei es ihm um die "Behauptung einer Normalität" gegangen, mit der er beim Schreiben aber nie ganz verschmolzen sei. Sein poetischer "Weltzugriff" bleibe die "Unentschiedenheit": eine dezente, doch unauflösliche "Halbdistanz". JENS OLE SCHNEIDER
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»'Allegro Pastell' ist eine Liebesgeschichte für das 21. Jahrhundert, die versucht, Romantik neu zu definieren und dabei allergisch gegen Konventionen ist.« Galore 20200326
Wir wollten nie wie unsere Eltern werden
Der Erzähler steht außerhalb und innerhalb der Figurenwelt: "Allegro Pastell" von Leif Randt erneuert den bürgerlichen Roman.
Bürgerlichkeit scheint gegenwärtig eine zweifelhafte Währung zu sein. Politische Parteien streiten um die bürgerliche Mitte, bezeichnen sich selbst als bürgerlich oder sprechen anderen die Bürgerlichkeit ab. Im jüngeren akademischen Milieu sorgt dagegen schon der Begriff "bürgerlich" für Stirnrunzeln. "Was zur Hölle soll 'bürgerlich' eigentlich heißen?", twitterte unlängst der Bonner Germanist Johannes Franzen. Seine Follower konnten hier nur spekulieren. Das müsse irgendetwas mit "Immobilienbesitz" zu tun haben. Oder sei einfach "Neusprech für AfD-kompatibel".
Gibt es die politisch beschworene Bürgerlichkeit also überhaupt? Historikerinnen und Soziologen sind sich darin einig, dass Bürgerlichkeit schon seit dem achtzehnten Jahrhundert kein fester sozialer und juristischer Status mehr ist. Bürger sind schlicht Menschen, die sich, ohne dass sie eine rechtliche Garantie dafür hätten, als ökonomische und kulturelle Mitte empfinden. Das Bürgerliche ist das Normale. Oder all jene Ideen, Stile und Lebensformen, die sich als gesellschaftlicher Standard etablieren. Doch was ist heutzutage Standard? Und kann man frei darüber bestimmen, ob man diesen Standard erfüllen will?
Leif Randts Roman "Allegro Pastell", der im vergangenen Jahr bei Kiepenheuer & Witsch erschien (F.A.Z. vom 12. März 2020), wirft diese Fragen auf. Das Buch erzählt von der Beziehung zwischen Jerome und Tanja, einem Grafikdesigner aus dem hessischen Maintal und einer Berliner Autorin. Die Denk- und Redeweise dieser beiden Kreativarbeiter verläuft entlang einer Weltdeutung, für die sich das Attribut "woke" eingebürgert hat. Tanja sagt in einem Interview, dass sie sich "zunehmend vor heterosexuellen Paaren ekele", Jerome verlässt genervt ein Café, weil ihm dort zu viele weiße Menschen sitzen, und in der binären Hochzeit eines Freundes kann er nichts anderes sehen als ein ultraspießiges "Shit-Event". Auch die ökonomischen Ansprüche der Mittelschicht torpedieren Jerome und Tanja, wenn sie das Geldverdienen als "Denkfehler" bezeichnen. Vieles, was man mit bürgerlich assoziiert, scheint hier durchkreuzt zu sein.
Sind Jerome und Tanja aber wirklich Antibürger? Die Kommunikation mit den mittelständischen Eltern verläuft "erstaunlich harmonisch". Konflikte gibt es nicht. Warum auch? Jeromes Vater, ein Ingenieur in Rente, findet es "löblich", dass sich der Sohn "kein eigenes Auto" kauft. Schließlich mache er "den Planeten damit nicht schlechter". Auch Tanja erlebt mit ihren Eltern alles andere als einen Generationenkonflikt. Immerhin ist es die Mutter (eine Psychologin), die "im Schneidersitz auf dem Teppich sitzend" dazu rät, dass Tanja ihre monogame Beziehung zu Jerome auflockern und mal einen Seitensprung wagen solle.
Selbst die Kritik am Geldverdienen wird von den Eltern unterstützt, wenn es für Tanja zu Weihnachten ein Buch über das bedingungslose Grundeinkommen gibt. Die Figuren wollen nicht bürgerlich sein. Aber das soziale und familiäre Umfeld hat ihr Werteschema längst als mittelschichtstauglichen Standard akzeptiert. So werden sie bürgerlich wider Willen.
Solche Verbürgerlichungsdynamiken lassen sich unterschiedlich darstellen. Triumphal im Ton ist Sahra Wagenknechts Sachbuch "Die Selbstgerechten" (F.A.Z. vom 21. April), das dem linksakademischen Milieu höhnisch seine Lifestyle-Bürgerlichkeit um die Ohren haut. In ihrer Beschreibung der Woke-Kultur greift Wagenknecht zu den Mitteln satirischer Überzeichnung. Satirische Techniken wurden schon immer dazu eingesetzt, dem Bürgertum seine Lebenslügen vorzuführen. Die Satire hat aber einen blinden Fleck: Denn woher bezieht die Sprecherin ihren moralischen Standpunkt? Kann es nicht sein, dass sie selbst Teil dessen ist, was sie beschreibt? Ist Wagenknecht vielleicht auch eine Selbstgerechte, eine Bürgerliche, die ihren Wohlstand mit ein bisschen Salonmarxismus drapiert?
Die satirische Falle umgeht Randt durch die ästhetische Form. In "Allegro Pastell" spricht kein außenstehender Satiriker, der die Figuren vorführt und von oben herab behandelt. Gleichzeitig wird bei ihm aber auch jene moralische Identifikation mit den Hauptfiguren vermieden, die der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler aus Münster soeben als typisch für den neuen "Midcult" der Gegenwartsliteratur beschrieben hat (F.A.Z. vom 9. Juli). Randts "feine und elegante Ironie" (Katrin Hillgruber) entsteht durch einen neutralen Erzähler, der seine normative Haltung zu den Figuren gerade in solchen Momenten in der Schwebe hält, in denen sie auf moralische Rückendeckung angewiesen sind. Man schmunzelt verwundert, wenn die Figuren eine Power-Point-Präsentation erstellen, um das ethische Für und Wider ihres Kinderwunsches zu diskutieren. Und die Komik solch forcierter Achtsamkeit wirkt umso stärker, als hier jeder solidarische Erzählerkommentar ausbleibt. Trotz solcher Distanzsignale verwendet der Erzähler die gleiche Gendersprache und ähnliche Lifestylevokabeln wie seine Protagonisten. Randts Erzähler steht gleichzeitig außerhalb und innerhalb der Figurenwelt. Er ist wie der Gast auf einem Popkonzert, der bei keinem der Songs applaudiert, während der After-Show-Party aber plaudernd zwischen den Musikern steht.
Randts ironisch schillernde Ästhetik entspricht einer Gesellschaft, in der es schwieriger geworden ist, sich dem Sog der Bürgerlichkeit zu entziehen und einen autonomen Standpunkt einzunehmen. Zwar bilden sich in regelmäßigen Abständen neue Gegenkulturen heraus, die Lebensformen jenseits der Bürgerlichkeit postulieren. Doch in der von dem Soziologen Andreas Reckwitz auf den viel zitierten Begriff gebrachten "Gesellschaft der Singularitäten" ist das Alternative zum Common Sense geworden. Die Standardisierung des Außergewöhnlichen macht es für die Individuen schwer, die eigene Position gegenüber der Bürgerlichkeit zu bestimmen.
Die Ironie ist eine Form, die eigene Verstrickung in die Mittelschicht einzugestehen. Und gleichzeitig einen leichten Vorbehalt gegenüber den moralischen Routinen dieser Mittelschicht auszudrücken. In diesem Sinne beschrieb Hans Magnus Enzensberger seine Poetik einmal als "Verteidigung der Normalität" unter gleichzeitigem Verzicht auf ihre "Anbetung". Bei Randt klingt das in einem Interview mit der Internetzeitschrift Republik.ch ähnlich. In "Allegro Pastell" sei es ihm um die "Behauptung einer Normalität" gegangen, mit der er beim Schreiben aber nie ganz verschmolzen sei. Sein poetischer "Weltzugriff" bleibe die "Unentschiedenheit": eine dezente, doch unauflösliche "Halbdistanz". JENS OLE SCHNEIDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Erzähler steht außerhalb und innerhalb der Figurenwelt: "Allegro Pastell" von Leif Randt erneuert den bürgerlichen Roman.
Bürgerlichkeit scheint gegenwärtig eine zweifelhafte Währung zu sein. Politische Parteien streiten um die bürgerliche Mitte, bezeichnen sich selbst als bürgerlich oder sprechen anderen die Bürgerlichkeit ab. Im jüngeren akademischen Milieu sorgt dagegen schon der Begriff "bürgerlich" für Stirnrunzeln. "Was zur Hölle soll 'bürgerlich' eigentlich heißen?", twitterte unlängst der Bonner Germanist Johannes Franzen. Seine Follower konnten hier nur spekulieren. Das müsse irgendetwas mit "Immobilienbesitz" zu tun haben. Oder sei einfach "Neusprech für AfD-kompatibel".
Gibt es die politisch beschworene Bürgerlichkeit also überhaupt? Historikerinnen und Soziologen sind sich darin einig, dass Bürgerlichkeit schon seit dem achtzehnten Jahrhundert kein fester sozialer und juristischer Status mehr ist. Bürger sind schlicht Menschen, die sich, ohne dass sie eine rechtliche Garantie dafür hätten, als ökonomische und kulturelle Mitte empfinden. Das Bürgerliche ist das Normale. Oder all jene Ideen, Stile und Lebensformen, die sich als gesellschaftlicher Standard etablieren. Doch was ist heutzutage Standard? Und kann man frei darüber bestimmen, ob man diesen Standard erfüllen will?
Leif Randts Roman "Allegro Pastell", der im vergangenen Jahr bei Kiepenheuer & Witsch erschien (F.A.Z. vom 12. März 2020), wirft diese Fragen auf. Das Buch erzählt von der Beziehung zwischen Jerome und Tanja, einem Grafikdesigner aus dem hessischen Maintal und einer Berliner Autorin. Die Denk- und Redeweise dieser beiden Kreativarbeiter verläuft entlang einer Weltdeutung, für die sich das Attribut "woke" eingebürgert hat. Tanja sagt in einem Interview, dass sie sich "zunehmend vor heterosexuellen Paaren ekele", Jerome verlässt genervt ein Café, weil ihm dort zu viele weiße Menschen sitzen, und in der binären Hochzeit eines Freundes kann er nichts anderes sehen als ein ultraspießiges "Shit-Event". Auch die ökonomischen Ansprüche der Mittelschicht torpedieren Jerome und Tanja, wenn sie das Geldverdienen als "Denkfehler" bezeichnen. Vieles, was man mit bürgerlich assoziiert, scheint hier durchkreuzt zu sein.
Sind Jerome und Tanja aber wirklich Antibürger? Die Kommunikation mit den mittelständischen Eltern verläuft "erstaunlich harmonisch". Konflikte gibt es nicht. Warum auch? Jeromes Vater, ein Ingenieur in Rente, findet es "löblich", dass sich der Sohn "kein eigenes Auto" kauft. Schließlich mache er "den Planeten damit nicht schlechter". Auch Tanja erlebt mit ihren Eltern alles andere als einen Generationenkonflikt. Immerhin ist es die Mutter (eine Psychologin), die "im Schneidersitz auf dem Teppich sitzend" dazu rät, dass Tanja ihre monogame Beziehung zu Jerome auflockern und mal einen Seitensprung wagen solle.
Selbst die Kritik am Geldverdienen wird von den Eltern unterstützt, wenn es für Tanja zu Weihnachten ein Buch über das bedingungslose Grundeinkommen gibt. Die Figuren wollen nicht bürgerlich sein. Aber das soziale und familiäre Umfeld hat ihr Werteschema längst als mittelschichtstauglichen Standard akzeptiert. So werden sie bürgerlich wider Willen.
Solche Verbürgerlichungsdynamiken lassen sich unterschiedlich darstellen. Triumphal im Ton ist Sahra Wagenknechts Sachbuch "Die Selbstgerechten" (F.A.Z. vom 21. April), das dem linksakademischen Milieu höhnisch seine Lifestyle-Bürgerlichkeit um die Ohren haut. In ihrer Beschreibung der Woke-Kultur greift Wagenknecht zu den Mitteln satirischer Überzeichnung. Satirische Techniken wurden schon immer dazu eingesetzt, dem Bürgertum seine Lebenslügen vorzuführen. Die Satire hat aber einen blinden Fleck: Denn woher bezieht die Sprecherin ihren moralischen Standpunkt? Kann es nicht sein, dass sie selbst Teil dessen ist, was sie beschreibt? Ist Wagenknecht vielleicht auch eine Selbstgerechte, eine Bürgerliche, die ihren Wohlstand mit ein bisschen Salonmarxismus drapiert?
Die satirische Falle umgeht Randt durch die ästhetische Form. In "Allegro Pastell" spricht kein außenstehender Satiriker, der die Figuren vorführt und von oben herab behandelt. Gleichzeitig wird bei ihm aber auch jene moralische Identifikation mit den Hauptfiguren vermieden, die der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler aus Münster soeben als typisch für den neuen "Midcult" der Gegenwartsliteratur beschrieben hat (F.A.Z. vom 9. Juli). Randts "feine und elegante Ironie" (Katrin Hillgruber) entsteht durch einen neutralen Erzähler, der seine normative Haltung zu den Figuren gerade in solchen Momenten in der Schwebe hält, in denen sie auf moralische Rückendeckung angewiesen sind. Man schmunzelt verwundert, wenn die Figuren eine Power-Point-Präsentation erstellen, um das ethische Für und Wider ihres Kinderwunsches zu diskutieren. Und die Komik solch forcierter Achtsamkeit wirkt umso stärker, als hier jeder solidarische Erzählerkommentar ausbleibt. Trotz solcher Distanzsignale verwendet der Erzähler die gleiche Gendersprache und ähnliche Lifestylevokabeln wie seine Protagonisten. Randts Erzähler steht gleichzeitig außerhalb und innerhalb der Figurenwelt. Er ist wie der Gast auf einem Popkonzert, der bei keinem der Songs applaudiert, während der After-Show-Party aber plaudernd zwischen den Musikern steht.
Randts ironisch schillernde Ästhetik entspricht einer Gesellschaft, in der es schwieriger geworden ist, sich dem Sog der Bürgerlichkeit zu entziehen und einen autonomen Standpunkt einzunehmen. Zwar bilden sich in regelmäßigen Abständen neue Gegenkulturen heraus, die Lebensformen jenseits der Bürgerlichkeit postulieren. Doch in der von dem Soziologen Andreas Reckwitz auf den viel zitierten Begriff gebrachten "Gesellschaft der Singularitäten" ist das Alternative zum Common Sense geworden. Die Standardisierung des Außergewöhnlichen macht es für die Individuen schwer, die eigene Position gegenüber der Bürgerlichkeit zu bestimmen.
Die Ironie ist eine Form, die eigene Verstrickung in die Mittelschicht einzugestehen. Und gleichzeitig einen leichten Vorbehalt gegenüber den moralischen Routinen dieser Mittelschicht auszudrücken. In diesem Sinne beschrieb Hans Magnus Enzensberger seine Poetik einmal als "Verteidigung der Normalität" unter gleichzeitigem Verzicht auf ihre "Anbetung". Bei Randt klingt das in einem Interview mit der Internetzeitschrift Republik.ch ähnlich. In "Allegro Pastell" sei es ihm um die "Behauptung einer Normalität" gegangen, mit der er beim Schreiben aber nie ganz verschmolzen sei. Sein poetischer "Weltzugriff" bleibe die "Unentschiedenheit": eine dezente, doch unauflösliche "Halbdistanz". JENS OLE SCHNEIDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main