Wie die Familie Bach im Alltag lebte, Händel sich kurieren ließ und Telemann sein Geld anlegte
Bruno Preisendörfers Zeitreise führt in die Zeit der Fürstenfeste und Bauernhochzeiten, der Stadtpfeifer und Bierfiedler, der Kaffeehäuser und Kastraten - nämlich ins Barock. Das Deutschland, in das wir mit Bruno Preisendörfer reisen, war erfüllt von der Musik tausender Hoforchester, Kirchenorgeln und Chöre, ob zur Unterhaltung des Adels, zu jedem Gottesdienst oder auf den Dorffesten der einfachen Leute - immer wurde gefiedelt, geflötet und getrommelt. Und es wurde komponiert: Musik, die bis heute weltweit die Menschen beeindruckt und berührt. Bruno Preisendörfer nimmt uns mit in das Leben der Menschen im Barock, in die Zeit der großen Komponisten Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Der Glocken bebendes Getön
Kundig und detailverliebt führt Bruno Preisendörfer durch die Welt Johann Sebastian Bachs
Epochenpanoramen stehen hoch im Kurs. Ein Grund dafür mag die extreme Unübersichtlichkeit der Epoche sein, in der wir leben. Auch dürfte eine Rolle spielen, dass Recherche und Materialsammlung, sei es zu einem bestimmten Jahr, einem Jahrhundert oder einer kulturgeschichtlichen Periode, dank digitaler Werkzeuge so viel einfacher geworden sind.
Das Panorama schließt seiner Natur nach den Blick in die Tiefe aus, und Zeitreisen der panoramischen Art sind immer Pauschalreisen, bei denen man zwar einen kompetenten Führer mitbucht, die aber eigene Erkundungen und Erfahrungen nicht ersetzen. Sie können allerdings Stoff und Anregungen bieten, um sich von dem jeweiligen Zeitalter selbst ein Bild zu machen oder, im Idealfall, ein Gefühl dafür zu entwickeln.
Der Schriftsteller Bruno Preisendörfer betreibt seit einigen Jahren ein erfolgreiches Reiseunternehmen in diesem Sinne. Zunächst begab er sich in die Goethezeit („Als Deutschland noch nicht Deutschland war,“ 2015), dann ging es in die Epoche Martin Luthers („Als unser Deutsch erfunden wurde“, 2016), und nun, nach einem persönlich geprägten, dem technisch-medialen Fortschritt gewidmeten Ausflug in die jüngere Vergangenheit ( „Die Verwandlung der Dinge“, 2018), entführt er uns in die Ära Johann Sebastian Bachs.
Etwas unglücklich gewählt ist dafür der Titel „Als die Musik in Deutschland spielte“: Erstens spielte sie damals selbstverständlich genauso vernehmbar in Italien, Frankreich und England, und zweitens war das aus Fürstentümern bestehende „Deutschland“ auch schon vorher, zu Zeiten von Heinrich Schütz, Dietrich Buxtehude und den Bach-Vorfahren, eine klingende Landschaft und ein Nährboden musikalischer Kreativität.
Im Vorwort erfährt man, dass der Autor die Formulierung mit „nationaler Selbstironie“ verstanden wissen will, doch im Titel suggeriert sie ein Bild, das zu dem regen Austausch, der im 17. und 18. Jahrhundert unter den europäischen Musikern herrschte, so gar nicht passt.
Es geht aber in diesem Buch nicht eigentlich um Musik, sondern vielmehr um die politischen, ökonomischen und lebensweltlichen Bedingungen, unter denen zu Lebzeiten des bekanntesten Mitglieds der Bach-Familie (dessen Ruhm ja erst viel später in überirdische Höhen wuchs) in deutschen Landen komponiert und musiziert wurde. Wie schon im Falle Goethes und Luthers, so hat Bruno Preisendörfer sich auch hier eine prägende Gestalt der von ihm besichtigten Epoche zum Schutzpatron erkoren, ohne sich jedoch auf dessen Werk und Wirken intensiv einzulassen oder gar Kennerschaft vorzuspiegeln. Er nennt Bach zwar seinen „Lieblingskomponisten“, verhehlt aber nicht, dass er mit der Musik des Thomaskantors eher oberflächlich vertraut ist. Sonst würde er auch kaum das längst widerlegte Klischee aufwärmen, dass die zu Bachs Zeiten eingesetzten Orchester uns Heutigen „enttäuschend dünn besetzt“ vorkämen, „ebenso die Chöre mit nicht einmal zwei Dutzend Sängern“.
Wenn Bruno Preisendörfer seine persönlichen Ansichten und Vorlieben mitteilt, ist das manchmal, wie bei jedem Reiseführer, mit einem Körnchen Salz zu genießen. Unschlagbar sind jedoch der Fleiß und die Findigkeit, mit denen er den lesenden Epochentouristen Zutritt verschafft zu verborgenen Ecken und Winkeln, ihnen Räume aufschließt, von deren Existenz sie nichts ahnten, und ihnen die Rückseiten jener Fassaden zeigt, die sie bis dahin für das Ganze halten mochten. Herrschaftsverhältnisse und Trinkgewohnheiten, Kleiderordnung und Perückenpflege, Hofzeremoniell und Volksbildung, Kochrezepte und Kriegshandwerk, Folter und Gerichtsbarkeit, Ehe und Prostitution, Porzellanherstellung und Gartenbau, Medizin und Bestattungswesen: Zu gefühlt jedwedem Segment des historischen Alltags schüttet Preisendörfer ein Füllhorn an zeitgenössischen Quellen und Zitaten aus.
Und hier natürlich zu den Themen, die speziell den Musikerberuf betreffen, wie Bewerbungs-Odysseen und Zahlungs-Usancen, Gottesdienstpraxis und Notenschreiberei. Im Fokus stehen die drei Großen: Bach, oft mit Obrigkeiten im Clinch und von Familiensorgen geplagt, Händel, zur Völlerei neigend und bald nach England abgängig, und Telemann, Blumenliebhaber und immer etwas unterschätzt.
Aber auch kleinere Meister wie Quantz und die Graun-Brüder werden kurz belichtet. Es gibt Exkurse über Galanterie und Pietismus, über Leibniz als Urahn des Computers und Albrecht Haller als Leichensezierer, über den Theaterstreit zwischen Gottsched und der Neuberin, und es gibt gleich zu Beginn den Versuch einer Begriffserklärung für das „Barock“, zwischen dessen vielfältigen Erscheinungsformen der Autor, wie er bekennt, keine rechte Verbindung findet. Und so stellt er denn auch zwischen den zahllosen Facetten seines Epochenporträts zwar jede Menge Verknüpfungen her, aber keinen Zusammenhang. Alles hat den gleichen Stellenwert, die Abschnitte sind kurz, es wird vor- und zurückgesurft, gehupft und gesprungen, wie es der netzgewohnten Wahrnehmung entspricht.
Das hat den Vorteil, dass man portionsweise immer nur das lesen kann, was einen gerade interessiert. Dass Preisendörfer kein Freund von Aristokratie und Klerus ist und den Blick häufig auf soziale Missstände richtet, gehört zu seinem Profil; dass er Texte zu Bachs geistlichen Kantaten unter dem Niveau eines Kulturwissenschaftlers verspottet („Leidenskitsch“, „schmalzige Ergebenheit“), sei ihm nachgesehen.
Was man aber in seinem Buch vermisst hat, wird am Ende deutlich, wenn er über das Altus-Rezitativ „Der Glocken bebendes Getön“ in der Kantate BWV 198, der Trauerode auf den Tod der Kurfürstin von Sachsen, schreibt: „In Bachs Vertonung … simulieren an dieser Stelle für fünfzig Sekunden die Streicher, Flöten, Oboen und Lauten das Totengeläut, dass es einem beim Hören noch heute tatsächlich durch ‚Mark und Adern‘ geht.“ Hier öffnet sich, durch die Schilderung von wenigen Takten Musik, ganz kurz ein Fenster, das mehr über Bach und seine Zeit verrät, als es die detailreichste Darstellung von Lebensumständen vermag. Und der Hinweis auf „diese Stelle“ ist schon die ganze Lektüre wert.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Der Autor ist kein Freund von
Aristokratie und Klerus, er
prangert soziale Missstände an
Bruno Preisendörfer: Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
480 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kundig und detailverliebt führt Bruno Preisendörfer durch die Welt Johann Sebastian Bachs
Epochenpanoramen stehen hoch im Kurs. Ein Grund dafür mag die extreme Unübersichtlichkeit der Epoche sein, in der wir leben. Auch dürfte eine Rolle spielen, dass Recherche und Materialsammlung, sei es zu einem bestimmten Jahr, einem Jahrhundert oder einer kulturgeschichtlichen Periode, dank digitaler Werkzeuge so viel einfacher geworden sind.
Das Panorama schließt seiner Natur nach den Blick in die Tiefe aus, und Zeitreisen der panoramischen Art sind immer Pauschalreisen, bei denen man zwar einen kompetenten Führer mitbucht, die aber eigene Erkundungen und Erfahrungen nicht ersetzen. Sie können allerdings Stoff und Anregungen bieten, um sich von dem jeweiligen Zeitalter selbst ein Bild zu machen oder, im Idealfall, ein Gefühl dafür zu entwickeln.
Der Schriftsteller Bruno Preisendörfer betreibt seit einigen Jahren ein erfolgreiches Reiseunternehmen in diesem Sinne. Zunächst begab er sich in die Goethezeit („Als Deutschland noch nicht Deutschland war,“ 2015), dann ging es in die Epoche Martin Luthers („Als unser Deutsch erfunden wurde“, 2016), und nun, nach einem persönlich geprägten, dem technisch-medialen Fortschritt gewidmeten Ausflug in die jüngere Vergangenheit ( „Die Verwandlung der Dinge“, 2018), entführt er uns in die Ära Johann Sebastian Bachs.
Etwas unglücklich gewählt ist dafür der Titel „Als die Musik in Deutschland spielte“: Erstens spielte sie damals selbstverständlich genauso vernehmbar in Italien, Frankreich und England, und zweitens war das aus Fürstentümern bestehende „Deutschland“ auch schon vorher, zu Zeiten von Heinrich Schütz, Dietrich Buxtehude und den Bach-Vorfahren, eine klingende Landschaft und ein Nährboden musikalischer Kreativität.
Im Vorwort erfährt man, dass der Autor die Formulierung mit „nationaler Selbstironie“ verstanden wissen will, doch im Titel suggeriert sie ein Bild, das zu dem regen Austausch, der im 17. und 18. Jahrhundert unter den europäischen Musikern herrschte, so gar nicht passt.
Es geht aber in diesem Buch nicht eigentlich um Musik, sondern vielmehr um die politischen, ökonomischen und lebensweltlichen Bedingungen, unter denen zu Lebzeiten des bekanntesten Mitglieds der Bach-Familie (dessen Ruhm ja erst viel später in überirdische Höhen wuchs) in deutschen Landen komponiert und musiziert wurde. Wie schon im Falle Goethes und Luthers, so hat Bruno Preisendörfer sich auch hier eine prägende Gestalt der von ihm besichtigten Epoche zum Schutzpatron erkoren, ohne sich jedoch auf dessen Werk und Wirken intensiv einzulassen oder gar Kennerschaft vorzuspiegeln. Er nennt Bach zwar seinen „Lieblingskomponisten“, verhehlt aber nicht, dass er mit der Musik des Thomaskantors eher oberflächlich vertraut ist. Sonst würde er auch kaum das längst widerlegte Klischee aufwärmen, dass die zu Bachs Zeiten eingesetzten Orchester uns Heutigen „enttäuschend dünn besetzt“ vorkämen, „ebenso die Chöre mit nicht einmal zwei Dutzend Sängern“.
Wenn Bruno Preisendörfer seine persönlichen Ansichten und Vorlieben mitteilt, ist das manchmal, wie bei jedem Reiseführer, mit einem Körnchen Salz zu genießen. Unschlagbar sind jedoch der Fleiß und die Findigkeit, mit denen er den lesenden Epochentouristen Zutritt verschafft zu verborgenen Ecken und Winkeln, ihnen Räume aufschließt, von deren Existenz sie nichts ahnten, und ihnen die Rückseiten jener Fassaden zeigt, die sie bis dahin für das Ganze halten mochten. Herrschaftsverhältnisse und Trinkgewohnheiten, Kleiderordnung und Perückenpflege, Hofzeremoniell und Volksbildung, Kochrezepte und Kriegshandwerk, Folter und Gerichtsbarkeit, Ehe und Prostitution, Porzellanherstellung und Gartenbau, Medizin und Bestattungswesen: Zu gefühlt jedwedem Segment des historischen Alltags schüttet Preisendörfer ein Füllhorn an zeitgenössischen Quellen und Zitaten aus.
Und hier natürlich zu den Themen, die speziell den Musikerberuf betreffen, wie Bewerbungs-Odysseen und Zahlungs-Usancen, Gottesdienstpraxis und Notenschreiberei. Im Fokus stehen die drei Großen: Bach, oft mit Obrigkeiten im Clinch und von Familiensorgen geplagt, Händel, zur Völlerei neigend und bald nach England abgängig, und Telemann, Blumenliebhaber und immer etwas unterschätzt.
Aber auch kleinere Meister wie Quantz und die Graun-Brüder werden kurz belichtet. Es gibt Exkurse über Galanterie und Pietismus, über Leibniz als Urahn des Computers und Albrecht Haller als Leichensezierer, über den Theaterstreit zwischen Gottsched und der Neuberin, und es gibt gleich zu Beginn den Versuch einer Begriffserklärung für das „Barock“, zwischen dessen vielfältigen Erscheinungsformen der Autor, wie er bekennt, keine rechte Verbindung findet. Und so stellt er denn auch zwischen den zahllosen Facetten seines Epochenporträts zwar jede Menge Verknüpfungen her, aber keinen Zusammenhang. Alles hat den gleichen Stellenwert, die Abschnitte sind kurz, es wird vor- und zurückgesurft, gehupft und gesprungen, wie es der netzgewohnten Wahrnehmung entspricht.
Das hat den Vorteil, dass man portionsweise immer nur das lesen kann, was einen gerade interessiert. Dass Preisendörfer kein Freund von Aristokratie und Klerus ist und den Blick häufig auf soziale Missstände richtet, gehört zu seinem Profil; dass er Texte zu Bachs geistlichen Kantaten unter dem Niveau eines Kulturwissenschaftlers verspottet („Leidenskitsch“, „schmalzige Ergebenheit“), sei ihm nachgesehen.
Was man aber in seinem Buch vermisst hat, wird am Ende deutlich, wenn er über das Altus-Rezitativ „Der Glocken bebendes Getön“ in der Kantate BWV 198, der Trauerode auf den Tod der Kurfürstin von Sachsen, schreibt: „In Bachs Vertonung … simulieren an dieser Stelle für fünfzig Sekunden die Streicher, Flöten, Oboen und Lauten das Totengeläut, dass es einem beim Hören noch heute tatsächlich durch ‚Mark und Adern‘ geht.“ Hier öffnet sich, durch die Schilderung von wenigen Takten Musik, ganz kurz ein Fenster, das mehr über Bach und seine Zeit verrät, als es die detailreichste Darstellung von Lebensumständen vermag. Und der Hinweis auf „diese Stelle“ ist schon die ganze Lektüre wert.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Der Autor ist kein Freund von
Aristokratie und Klerus, er
prangert soziale Missstände an
Bruno Preisendörfer: Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
480 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2019Der Doktor Eisenbarth kuriert auf eigene Art
Von der Perückensteuer bis zur Hebammenkunst: Bruno Preisendörfer erzählt sich durch die Bachzeit
Es gibt viel Amüsantes in diesem Buch, mit dem sich Bruno Preisendörfers populärhistorische Streifzüge nun nach der Luther- und Goethe-Zeit den Jahrzehnten um 1700 zuwenden. Da ist zum Beispiel das traurige Schicksal der brandenburgischen Perückensteuer von 1698, die auch im späteren Königreich Preußen hartnäckig weiterverfolgt wurde, aber nach zwanzigjährigem Ringen mit der Renitenz haarteiltragender Steuerbürger letztlich doch "allergnädigst cassiret und aboliret" werden musste. Erheiternd ist auch, wenn das "Küch- und Keller-Dictionarium" eines Paul Jacob Marperger nach dem letzten Eintrag, die Zwiebel behandelnd, mit ebenjenem "Soli Deo Gloria" schließt, das auch Johann Sebastian Bach ans Ende vieler seiner Werke setzte.
Der Autor entwickelt in vielen seiner Querschnittsüberblicke und Zitatkompilationen einen ausgesprochenen Sinn für solche Pointen. Eine von ihnen sieht indessen nach einer anderen Allmacht aus, nicht nach jener Gottes, sondern nach der Macht von des Autor Unbewussten. Im Kapitel über Leibniz disputiert der Universalgelehrte tatsächlich mit Helmut - und nicht etwa Isaac - Newton.
Vielleicht war das aber auch nur ein kleiner Test für das Lektorat, das in diesem Fall nicht bestanden hätte. Wie eine schwungvoll begeisterte Laxheit des Verfassers auf entsprechende Großzügigkeit im Verlag trifft, ist allerdings auch sonst gelegentlich zu sehen, sei es in einem wohlklingenden Wort wie "mathemisch", das wahrscheinlich trotzdem keine Neuschöpfung, sondern nur ein Silbenverschlucker ist, sei es in allerlei Sprunghaftigkeiten und stilistischen Disharmonien, unklaren Bezügen oder Missverständlichkeiten wie der, dass die "kontinentalen Schauplätze" des Spanischen Erbfolgekrieges in den deutschen Gebieten gelegen hätten - was in dieser Generalisierung rundum falsch ist und vom Autor selbst noch im gleichen Satz relativiert, aber dadurch leider nur noch unklarer gemacht wird.
Derartige Stolpersteine machen die Lektüre vor allem in den einleitenden politisch-ökonomischen Kapiteln unnötig holprig. Sobald es dann aber zur Alltagskultur geht, ist Preisendörfer - vom pompösen Prunk der großen Höfe bis zu den kargen Gebetsräumen der Herrnhuter Brüder - in seinem Element und präsentiert immer wieder Fakten oder Bezüge, die nicht nur amüsant, sondern durchaus auch aufschlussreich sind: So etwa zur Frage, wie sich damals pornographische Gelüste Befriedigung schaffen konnten: unter anderem, so erfährt man, durch heimliches Schmökern in illustrierten Hebammen-Lehrbüchern und Teilnahme an den Sektionen weiblicher Leichen.
Für solche Einsichten hat der Autor einen Fülle primärer wie sekundärer Quellen versammelt, die er großzügig über die Leser ausschüttet. Oder manchmal eher auslaufen lässt - denn Großes und Kleines, Gewichtiges und Banales stehen da nebeneinander. Etwa wenn das letzte Hauptkapitel vom Wetter zur Pest und dann weiter vom Doktor Eisenbarth über die damalige Pharmazie bis zu den - gleichermaßen vergeblichen - Augenoperationen Bachs und Händels durch denselben britischen Unglücksmedikus John Taylor springt.
Doch lockeren Assoziationsreihen sorgen auch für überraschende Querverbindungen und Abwechslungen. Am ehesten dann, wenn der Autor sich gut ergänzende oder sogar gegenseitig kommentierende Originalzitate zusammenfügt; am wenigsten, wenn er sich - so bei Kriminalitätsprävention oder Organentnahme - berufen fühlt, auf moralisierende Zeitreisen vom Damals ins Heute zu gehen oder, umgekehrt, damaliges Sozialverhalten an heutigen Maßstäben zu messen.
Bei alledem ist Preisendörfers Zeitpanorama - was man bedauern kann, aber akzeptieren muss - nordalpin geprägt: die katholische Welt scheint nur sporadisch von außen herein. Das mag damit zu tun haben, dass der gewählte Buchtitel sich vor allem auf die allesamt dem protestantischen Mitteldeutschland entsprossenen Leitfiguren Bach, Händel und Telemann und ihre späteren Wirkungsräume bezieht. Allerdings gab es auch Gemeinsamkeiten, die Rom, Leipzig und Hamburg (weniger Händels London) zusammenbanden wie jener Leidens-, Todes- und Vergänglichkeitskult, der eben nicht nur in spanischen oder italienischen Kirchen, sondern auch in vielen Bach-Kantaten Ausdruck findet.
An solchen Stellen wäre, um es salopp zu sagen, mehr drin gewesen. Denn selbst wenn man, wie der Autor, die konkreten musikalischen Beispiele eher von ihren Entstehungsumständen und Texten als von den Noten und Klängen her auffährt, hätten sich Chancen ergeben, über die vielen Alltagsbilder des Buches hinaus auch noch etwas tiefer in die geistige Verfasstheit der Jahre zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Durchmarsch der Aufklärung einzudringen. Jene Zänkereien zwischen der lutherisch-orthodoxen, reformierten und pietistisch geprägten Geistlichkeit etwa, die Preisendörfer durchaus bedenkt, mögen dem Thomaskantor Bach persönlich vielleicht gleichgültig gewesen sein, aber sie hatten, gerade durch die Texte seiner Kirchenkompositionen, handfeste Auswirkungen auf seine konkrete Arbeit. Das sind verschenkte Chancen in einer dennoch beeindruckenden und unterhaltsam aufbereiteten Materialfülle.
GERALD FELBER
Bruno Preisendörfer: "Als die Musik in Deutschland spielte". Reise in die Bachzeit.
Galiani Verlag, Berlin 2019. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Perückensteuer bis zur Hebammenkunst: Bruno Preisendörfer erzählt sich durch die Bachzeit
Es gibt viel Amüsantes in diesem Buch, mit dem sich Bruno Preisendörfers populärhistorische Streifzüge nun nach der Luther- und Goethe-Zeit den Jahrzehnten um 1700 zuwenden. Da ist zum Beispiel das traurige Schicksal der brandenburgischen Perückensteuer von 1698, die auch im späteren Königreich Preußen hartnäckig weiterverfolgt wurde, aber nach zwanzigjährigem Ringen mit der Renitenz haarteiltragender Steuerbürger letztlich doch "allergnädigst cassiret und aboliret" werden musste. Erheiternd ist auch, wenn das "Küch- und Keller-Dictionarium" eines Paul Jacob Marperger nach dem letzten Eintrag, die Zwiebel behandelnd, mit ebenjenem "Soli Deo Gloria" schließt, das auch Johann Sebastian Bach ans Ende vieler seiner Werke setzte.
Der Autor entwickelt in vielen seiner Querschnittsüberblicke und Zitatkompilationen einen ausgesprochenen Sinn für solche Pointen. Eine von ihnen sieht indessen nach einer anderen Allmacht aus, nicht nach jener Gottes, sondern nach der Macht von des Autor Unbewussten. Im Kapitel über Leibniz disputiert der Universalgelehrte tatsächlich mit Helmut - und nicht etwa Isaac - Newton.
Vielleicht war das aber auch nur ein kleiner Test für das Lektorat, das in diesem Fall nicht bestanden hätte. Wie eine schwungvoll begeisterte Laxheit des Verfassers auf entsprechende Großzügigkeit im Verlag trifft, ist allerdings auch sonst gelegentlich zu sehen, sei es in einem wohlklingenden Wort wie "mathemisch", das wahrscheinlich trotzdem keine Neuschöpfung, sondern nur ein Silbenverschlucker ist, sei es in allerlei Sprunghaftigkeiten und stilistischen Disharmonien, unklaren Bezügen oder Missverständlichkeiten wie der, dass die "kontinentalen Schauplätze" des Spanischen Erbfolgekrieges in den deutschen Gebieten gelegen hätten - was in dieser Generalisierung rundum falsch ist und vom Autor selbst noch im gleichen Satz relativiert, aber dadurch leider nur noch unklarer gemacht wird.
Derartige Stolpersteine machen die Lektüre vor allem in den einleitenden politisch-ökonomischen Kapiteln unnötig holprig. Sobald es dann aber zur Alltagskultur geht, ist Preisendörfer - vom pompösen Prunk der großen Höfe bis zu den kargen Gebetsräumen der Herrnhuter Brüder - in seinem Element und präsentiert immer wieder Fakten oder Bezüge, die nicht nur amüsant, sondern durchaus auch aufschlussreich sind: So etwa zur Frage, wie sich damals pornographische Gelüste Befriedigung schaffen konnten: unter anderem, so erfährt man, durch heimliches Schmökern in illustrierten Hebammen-Lehrbüchern und Teilnahme an den Sektionen weiblicher Leichen.
Für solche Einsichten hat der Autor einen Fülle primärer wie sekundärer Quellen versammelt, die er großzügig über die Leser ausschüttet. Oder manchmal eher auslaufen lässt - denn Großes und Kleines, Gewichtiges und Banales stehen da nebeneinander. Etwa wenn das letzte Hauptkapitel vom Wetter zur Pest und dann weiter vom Doktor Eisenbarth über die damalige Pharmazie bis zu den - gleichermaßen vergeblichen - Augenoperationen Bachs und Händels durch denselben britischen Unglücksmedikus John Taylor springt.
Doch lockeren Assoziationsreihen sorgen auch für überraschende Querverbindungen und Abwechslungen. Am ehesten dann, wenn der Autor sich gut ergänzende oder sogar gegenseitig kommentierende Originalzitate zusammenfügt; am wenigsten, wenn er sich - so bei Kriminalitätsprävention oder Organentnahme - berufen fühlt, auf moralisierende Zeitreisen vom Damals ins Heute zu gehen oder, umgekehrt, damaliges Sozialverhalten an heutigen Maßstäben zu messen.
Bei alledem ist Preisendörfers Zeitpanorama - was man bedauern kann, aber akzeptieren muss - nordalpin geprägt: die katholische Welt scheint nur sporadisch von außen herein. Das mag damit zu tun haben, dass der gewählte Buchtitel sich vor allem auf die allesamt dem protestantischen Mitteldeutschland entsprossenen Leitfiguren Bach, Händel und Telemann und ihre späteren Wirkungsräume bezieht. Allerdings gab es auch Gemeinsamkeiten, die Rom, Leipzig und Hamburg (weniger Händels London) zusammenbanden wie jener Leidens-, Todes- und Vergänglichkeitskult, der eben nicht nur in spanischen oder italienischen Kirchen, sondern auch in vielen Bach-Kantaten Ausdruck findet.
An solchen Stellen wäre, um es salopp zu sagen, mehr drin gewesen. Denn selbst wenn man, wie der Autor, die konkreten musikalischen Beispiele eher von ihren Entstehungsumständen und Texten als von den Noten und Klängen her auffährt, hätten sich Chancen ergeben, über die vielen Alltagsbilder des Buches hinaus auch noch etwas tiefer in die geistige Verfasstheit der Jahre zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Durchmarsch der Aufklärung einzudringen. Jene Zänkereien zwischen der lutherisch-orthodoxen, reformierten und pietistisch geprägten Geistlichkeit etwa, die Preisendörfer durchaus bedenkt, mögen dem Thomaskantor Bach persönlich vielleicht gleichgültig gewesen sein, aber sie hatten, gerade durch die Texte seiner Kirchenkompositionen, handfeste Auswirkungen auf seine konkrete Arbeit. Das sind verschenkte Chancen in einer dennoch beeindruckenden und unterhaltsam aufbereiteten Materialfülle.
GERALD FELBER
Bruno Preisendörfer: "Als die Musik in Deutschland spielte". Reise in die Bachzeit.
Galiani Verlag, Berlin 2019. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es ist das dritte Mal, dass er [Bruno Preisendörfer] eine ganze Epoche durchwandert und sie in einem Buch zum Entzücken der Leser fassbar macht.(...) Es ist ein erstaunliches und fesselndes Buch auch diesmal, ein buntes, frappierendes Epochenbild. Preisendörfer hat gesammelt und sortiert und seine Entdeckungen, klug und sorgfältig gegliedert, in einem Bericht ausgebreitet, der seine ungeheure Farbigkeit aus dem Detailreichtum bezieht, aus zusammengetragenen Zitaten, Episoden und Zeugnissen der Epoche. neues deutschland 20200124