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Karl Heinz Timm, geboren 1924 in Hamburg, gestorben 1943 in der Ukraine - Erst nach dem Tod von Mutter und Schwester fühlt Uwe Timm sich frei genug, über seinen älteren Bruder zu schreiben, der sich 1942 freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet hatte und nicht mehr zurückkehrte. Wie ging er mit der Verpflichtung zum Töten um? Welche Optionen hatte er, welche Möglichkeiten blieben ihm verschlossen?

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Produktbeschreibung
Karl Heinz Timm, geboren 1924 in Hamburg, gestorben 1943 in der Ukraine - Erst nach dem Tod von Mutter und Schwester fühlt Uwe Timm sich frei genug, über seinen älteren Bruder zu schreiben, der sich 1942 freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet hatte und nicht mehr zurückkehrte. Wie ging er mit der Verpflichtung zum Töten um? Welche Optionen hatte er, welche Möglichkeiten blieben ihm verschlossen?

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Autorenporträt
Uwe Timm, geboren 1940, freier Schriftsteller seit 1971. Sein literarisches Werk erscheint im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Uwe Timm wurde 2006 mit dem Premio Napoli sowie dem Premio Mondello ausgezeichnet, erhielt 2009 den Heinrich-Böll-Preis und 2012 die Carl-Zuckmayer-Medaille. Bei Random House Audio sind bisher unter anderem seine Romane „Am Beispiel meines Bruders”, „Der Freund und der Fremde”, „Halbschatten” und „Vogelweide” als Hörbuch erschienen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2003

Der Nachkömmling
Uwe Timm erzählt die Kriegsgeschichte der Bundesrepublik

Es ist eine typische deutsche Familiengeschichte. Normal, durchschnittlich, gewiß nicht einzigartig. Eine Familiengeschichte, wie sie sich tausendfach im Nachkriegsdeutschland zugetragen haben dürfte. Aber so, wie Uwe Timm sie erzählt, ist diese Geschichte noch nie erzählt worden. Man legt dieses Buch nach der Lektüre mit dem seltenen Gefühl aus der Hand, einen künftigen Klassiker seines Genres gelesen zu haben.

Was aber ist das Genre dieses Buches? Ein Roman ist es nicht. Timm erzählt die Geschichte seiner Familie als Erfahrungsbericht einer Erkundungsfahrt in die Vergangenheit. An ihrem Anfang steht die früheste Erinnerung, die das Gedächtnis des Schriftstellers bewahrt hat. Mit diesem Bild beginnt für Uwe Timm das "Wissen von mir selbst": "Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester." Den Jungen, gerade drei Jahre alt, erwartet eine Überraschung. Hinter einem Schrank hat sich jemand versteckt, ein Büschel blonder Haare, das hervorschaut, verrät den Unbekannten. Es ist der Bruder, sechzehn Jahre älter, der ganze Stolz der Vaters. Wenige Monate später, im September des Jahres 1943, wird er in der Ukraine schwer verwundet, beide Beine müssen amputiert werden. Vom Krankenlager aus schreibt er aufmunternde Zeilen nach Hause und kündigt die bevorstehende Heimkehr an. Dann kommt die Nachricht vom Tod im Feldlazarett. Von nun an ist Karl-Heinz Timm das leere Zentrum der Familie.

Eine deutsche Jugend: Kürschnerlehre, Jungvolk, Hitlerjugend. "Er wurde geschliffen." Mit achtzehn Arbeitsdienst, im Herbst 1942 wird Karl-Heinz Timm vor Stalingrad im Straßenbau eingesetzt. Er meldet sich freiwillig zur Waffen-SS, wird der Totenkopfdivision, einer Eliteeinheit, zugeteilt und in Frankreich ausgebildet. Im Januar 1943 erfolgt der Marschbefehl nach Rußland, wo er an der Rückeroberung von Charkow und der Schlacht von Kursk teilnimmt. Am 16. Oktober 1943 erliegt er seinen Verletzungen.

Eine andere deutsche Jugend: Unter nassen Handtüchern im Kinderwagen liegend, wird er durch das brennende Hamburg gefahren. Die Flämmchen, die durch die Luft fliegen, werden erst viel später als brennende Gardinenfetzen identifiziert. Der Bruder stirbt in Rußland, der Vater, Luftwaffenangehöriger, diskutiert noch in den fünfziger Jahren, wie der Krieg hätte gewonnen werden können. Der Fünfjährige entzückt die Verwandten, weil er so schön die Hacken zusammenschlagen kann, die erste Jeans, nach monatelangem Kampf errungen, verändert den Gang des Vierzehnjährigen, verleiht ihm etwas Lässiges. Kürschnerlehre, gegen den eigenen Wunsch, auf Drängen des Vaters, der sich Hilfe für den Familienbetrieb und einen Nachfolger wünscht.

Der Gang ins Amerikahaus, der Gedanke an Auswanderung. Die Amerikanisierung vieler Lebensbereiche wird als befreiend empfunden, aber für viele in der Generation der Eltern ist sie eine Demütigung. Das Schweigen der Alten über die Vergangenheit ist ihm genauso unerträglich wie ihr Schwadronieren vom Krieg oder die Verkleinerung des Grauens in der Anekdote. Eigenes und fremdes Leid findet nur in Form der Schnurre zur Sprache. Der Widerwille gegen die Relikte einer militaristischen Gesellschaft, der Traum von Amerika und zugleich von einer gerechten sozialistischen Gesellschaft, die immer härter werdenden Auseinandersetzungen mit dem Vater, dem Repräsentanten eines Landes, das weit stärker vom verlorenen Krieg geprägt ist, als den meisten bewußt war. Eintritt in die DKP. Im Jahr 1971, mit 31, beschließt Uwe Timm, künftig als freier Schriftsteller zu leben.

Zwei exemplarische deutsche Lebensläufe. Uwe Timm führt die so unterschiedlichen Schicksale zusammen und zeigt, wie die Suche nach dem unbekannten Bruder und die Frage nach der Schuld, die dieser möglicherweise auf sich geladen hat, immer weitere Kreise ziehen. Nacheinander werden die Schicksale des Vaters, der Mutter, der Schwester enthüllt. Am Ende der Familienrecherche, die auch eine Selbstbegegnung ist, hat Timm den Tod seiner vier engsten Familienangehörigen beschrieben. Der "Nachkömmling", achtzehn und sechzehn Jahre jünger als Schwester und Bruder, ist allein, ein Chronist, dem die Augenzeugen gestorben sind.

Wo das Gespräch unmöglich ist, hilft die Lektüre. Timm liest: Christopher R. Brownings Studie "Ganz normale Männer" über die Untaten des Reserve-Polizeibataillons 101 in Polen, die Bücher Primo Levis, Aufzeichnungen deutscher Generäle. Aber vor allem liest er die Feldpostbriefe und das Tagebuch seines Bruders. Lange Zeit scheitert er an der Lektüre. So wie er als Kind das Märchen vom Ritter Blaubart nicht zu Ende anhören kann, und erst als Erwachsener vom Blut in der Kammer liest, das das Kind geahnt hatte, kann er nun das Heft seines Bruders nicht lesen. Am Ende findet er dort jedoch weder, was er erhofft, noch, was er befürchtet hatte.

In denkbar knappen, emotionslosen Notizen hält der Bruder Stationen des Vormarschs, Gefechte, Verwundungen, Verluste und kleine Ereignisse fest. Die Eintragungen müssen im geheimen gemacht werden, denn den Angehörigen der Waffen-SS ist das Führen eines Tagebuchs verboten. In den Händen des Feindes könnten wertvolle Informationen daraus geschöpft werden. In den Händen des Bruders erweisen sich drei Eintragungen als zentral: "75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG." Ein anderes Mal ist von einem durchkämmten Gelände und "viel Beute" die Rede. Mit der dritten Eintragung enden die Aufzeichnungen: "Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich es für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen."

Die Gefühllosigkeit, mit der sein Bruder festhielt, daß er einen Russen erschossen hat, verstört Timm. Das Wort Beute schürt den Verdacht, der Bruder könne wie so viele Angehörige der Waffen-SS an der Ermordung von Juden und anderen Zivilisten beteiligt gewesen sein. Indizien dafür finden sich kaum. Einmal notiert der Bruder seine Verwunderung, als seine Division in einem russischen Dorf freudig begrüßt wird. Erfahrungen mit der SS könne man dort wohl nicht haben. Die letzte Eintragung gibt Rätsel auf. War der Bruder an Greueltaten beteiligt, die ihn verstummen ließen? Hat sich doch Widerstand geregt in dem offenbar musterhaften Befehlsempfänger?

"Ich habe diese Stelle während des Schreibens wieder und wieder aufgeblättert und gelesen - es war, als fiele ein Lichtstrahl in diese Finsternis." Nüchtern beschreibt Timm das auffälligste Merkmal der Aufzeichnungen seines Bruders, die "Abwesenheit von jedem Mitempfinden". Und ergreifend enthüllt er seinen sehnlichsten Wunsch, die letzte Aufzeichnung möge "für ein Nein stehen, für das non servo, das am Anfang der Aufkündigung des Gehorsams steht und mehr Mut erfordert, als für die vorstoßenden Panzer Breschen in Gräben zu sprengen." Nüchterner und liebevoller, zarter und unerbittlicher ist über die deutsche Vergangenheit selten geschrieben worden.

Uwe Timm: "Am Beispiel meines Bruders". Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 159 S., geb., 16,90 [Euro].

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Lesenswert - für alle, die wissen wollen, was ein Krieg mit Familien anstellen kann und wie lange er wirklich nachwirkt. Oldenburgische Volkszeitung 20110923