Die britisch-deutsche Doktorandin Sarah forscht in Wien für ihre Doktorarbeit über Dr. Hans Asperger (1906-1980), jenen Kinderarzt und Heilpädagogen, der als erstes die nach ihm benannte Form des Autismus beschrieben hat.
Man schreibt das Jahr 1986 und die Diskussionen über den
Bundespräsidenten Kurt Waldheim, der wegen seiner NS-Vergangenheit nur mehr von Diktatoren empfangen wird und dessen…mehrDie britisch-deutsche Doktorandin Sarah forscht in Wien für ihre Doktorarbeit über Dr. Hans Asperger (1906-1980), jenen Kinderarzt und Heilpädagogen, der als erstes die nach ihm benannte Form des Autismus beschrieben hat.
Man schreibt das Jahr 1986 und die Diskussionen über den Bundespräsidenten Kurt Waldheim, der wegen seiner NS-Vergangenheit nur mehr von Diktatoren empfangen wird und dessen Name auf der „Watch-List“ der USA steht, ist erst vor Kurzem abgeflaut.
An der Uni Wien trifft Sarah auf Stefan, einen Publizistik-Studenten, der einen Zeitungsartikel über den „Spiegelgrund“schreibt. An jener psychiatrischen Einrichtung, die in der NS-Zeit, Hunderte Kinder ermordet hat, hat auch Asperger gearbeitet. Grund genug für Sarah, sich mit dem Thema näher auseinanderzusetzen. Doch das, was die gemeinsamen Recherchen mit Stefan ergeben, bringt ihre Verehrung für Hans Asperger gehörig ins Wanken. War der Arzt für den grausamen Tod der Kinder verantwortlich?
Meine Meinung:
Dieser historische Roman basiert auf wahren Begebenheiten und wird in zwei Zeitebenen erzählt. Zum einen in der Vergangenheit zwischen 1932 bis 1945 und in der Gegenwart von 1986. Hauptfigur der Vergangenheit ist der kleine Erich, dessen Figur aus mehreren realen Vorbildern, deren Krankenakten im Archiv des „Spiegelgrunds“ erhalten sind. Wir lesen die Gedanken des fiktiven Erichs und müssen mehrmals den Atem anhalten, ob der grausamen Behandlung durch die Ärzte. Einer davon, Heinrich Gross, war maßgeblich an den Tötungen beteiligt, und hat nach der NS-Zeit weiter als Psychiater und Gerichtsgutachter gearbeitet. Ihm wird erst 1997 der Prozess gemacht. Maßgeblichen Anteil am Zustandekommen dieses Prozesses und der Aufarbeitung haben Friedrich Zawrel (1929-2015), der damals als Kind zahlreichen unmenschlichen medizinischen Experimenten ausgesetzt war und später durch ein psychiatrisches Gutachten von Gross Jahrzehnte in Haft verbringen musste, sowie engagierte Journalisten und Dr. Werner Vogt.
Autorin Laura Baldini, hinter diesem Pseudonym steckt niemand anderer als Beate Maly, die als Kleinkindpädagogin und Frühförderin Erfahrung mit Kleinkindern hat, wie wir es von ihr gewöhnt sind, umfassend recherchiert. Dieser historische Roman steckt voller Zeitgeschichte, denn es wird nicht nur die NS-Zeit beleuchtet sondern auch die Zeit des Bürgerkrieges und des Ständestandes davor. Dies wird durch die Rückblenden und Erzählungen zahlreicher Personen elegant in die Handlung eingeflochten. Nie hat der Leser den Eindruck mittels Infodumpf über die Ereignisse informiert zu werden.
Die Charaktere sind gut ausgefeilt, doch Sarah kommt mir allerdings ziemlich naiv vor. Okay, 1986 stehen zahlreiche Informationsquellen noch nicht zur Verfügung. Aber, es scheint, dass sie Hans Asperger als Idol sieht. Die Recherchen kratzen allerdings an seinem Saubermannimage, was Sarah doch zu schaffen macht. Ich habe recht bald entdeckt, dass Sarah ein höchst persönliches Interesse an Asperger und seiner Arbeit hat. Sarah ist nicht nur naiv, sondern hat auch einige Vorurteile. Als sie hört, dass ihre Vermieterin seit 1938 in der Jugendstil-Villa lebt, hat sie das Fräulein Weichsel sofort in Verdacht, eine Nutznießerin der NS-Zeit zu sein, zumal die alte Dame Gespräche über diese Zeit total abblockt. Ein typisches Verhalten in diesen Jahren. Was aber Sarah betroffen macht, ist die Tasache, dass diese Morde bereits recht früh bei den Alliierten bekannt war. Die Royal Airforce hat im September 1941 Flugblätter abgeworfen, die über die Mordtaten von Dr. Erwin Jekelius aufklärten, der von 1940-1942 Leiter der Nervenklinik war. Mehr war, so scheint es, „nicht drinnen“.
Laura Baldini hat hier einen aufwühlenden Roman geschrieben, der den erlittenen Qualen der Kinder vom Spiegelgrund gedenkt. Spät, aber doch haben diese rund 800 Kinder im Jahr 2002 ein Mahnmal vor dem Jugendstiltheater auf den „Steinhof-Gründen“ erhalten. Die sterblichen Überreste (Feuchtpräparate, histologische Schnitte, Paraffinblöcke) von mehr als 600 Kindern wurden im April 2002 auf dem Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab beigesetzt.
Fazit:
Gerne gebe ich diesem aufwühlenden, aber dennoch feinfühlig verfassten historischen Roman 5 Sterne.