Der Atlas eines ängstlichen Mannes ist eine einzigartige, in siebzig Episoden durch Kontinente, Zeiten und Seelenlandschaften führende Erzählung. "Ich sah ...", so beginnt der Erzähler nach kurzen Atempausen immer wieder und führt sein Publikum an die fernsten und nächsten Orte dieser Erde: in den Schatten der Vulkane Javas, an die Stromschnellen von Mekong und Donau, ins hocharktische Packeis und über die Passhöhen des Himalaya bis zu den entzauberten Inseln der Südsee.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2012Engel auf Erden
Christoph Ransmayr im Frankfurter Literaturhaus
Nicht jeder, der Bücher schreibt, kann seine Texte auch angemessen vortragen. Christoph Ransmayr kann es, und seine Leser wissen das. Sie füllten den Großen Saal des Frankfurter Literaturhauses bis auf den letzten Platz, als der österreichische Schriftsteller sein neues Buch vorstellte: "Atlas eines ängstlichen Mannes" (S. Fischer) versammelt 70 Miniaturen rund um den Globus. "Ängstlichkeit ist eines der vornehmsten Gefühle meines Lebens", bekannte der Autor vor seiner Lesung. Und: "Ängstlichkeit verbindet uns miteinander gegenüber der Welt." Einer Welt, in der Mord und Terror, Blutrausch und Zerstörungswut "die Arbeit der Engel" behindern. Sofern nicht Menschen wie Pawlik sie übernehmen und etwa einen jüdischen Friedhof Stein für Stein wiedererrichten.
"Die Arbeit der Engel" hieß eine der fünf Miniaturen, die Ransmayr seinem Publikum mit bühnenreifer Kunstfertigkeit vortrug. Er hatte sie offenbar mit Bedacht ausgewählt: den "Luftangriff" eines bolivianischen Kampfflugzeugs am Anfang und die "Flugversuche" eines jungen Königsalbatros am Ende. Die Maschinengewehrsalve des ersten Fliegers hätte ihn fast das Leben gekostet im Hochland zwischen westlichen und östlichen Anden. Ein Grasbüschel diente ihm in der Todesangst als Zuflucht, ein Käfer, der sich daraus befreite, übertönte plötzlich den Fluglärm - ein Gegensatz, wie er sich schroffer kaum denken lässt.
Fast neidvoll blickt der Autor in Neuseeland einem Albatros nach, der sich nach vergeblichen Versuchen endlich in die Lüfte erhebt, die Welt mit ihren Schreckensnachrichten unter sich lässt. Um "die Arbeit der Engel" zu verrichten, muss man aber nicht fliegen. Es genügt, um Gnade für einen Stier und ein Pferd zu bitten, auch wenn man in der Arena von Sevilla nicht erhört wird. Ransmayr hat sehr genau hingehört und hingesehen: Der "Tod in Sevilla" war in seiner Intensität als Text nur schwer auszuhalten. Auch "Die Übergabe" changiert zwischen hilfloser Empathie und einem fast zwanghaften Hinschauen auf die Vernichtung eines Landes und seiner Bewohner. Ein Bootsmann auf dem Mekong gibt sein Boot und damit seinen Lebensunterhalt an seinen Sohn weiter, um dahin zurückzukehren, wo nichts mehr ist. "Agent Orange" hat die laotischen Wälder entlaubt, Napalm die Familie verbrannt. Zwei Millionen Tonnen Bomben auf Laos konterkarieren hier die verhaltenen Gesten eines alternden Mannes.
Diesem Muster aus sentimentfreiem Blick und diskreter Einfühlung folgen die fünf Miniaturen. Blutrünstige Politik und gleichgültige Natur halten sich die Waage in den kontemplativen Texten. In den meisten aber tritt der Mensch als das Tier auf, das zur Bestie pervertiert. Wäre da nicht Pawlik, der wie ein tschechischer Sisyphus Steine zusammenträgt, um die Mauer um einen jahrhundertealten jüdischen Friedhof zu erneuern. Nur zehn Juden von Trebitsch hatten den Holocaust überlebt, dreihundert waren nach Theresienstadt deportiert worden. Pawlik legt Kiesel auf die Gräber der anderen, um dem Vergessen aller entgegenzuwirken. Es gibt also auch bei dem vielgereisten und dabei wenig abgebrühten Ransmayr Menschen, die ihrer Bestimmung folgen: mit den Engeln die Schöpfung zu behüten.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christoph Ransmayr im Frankfurter Literaturhaus
Nicht jeder, der Bücher schreibt, kann seine Texte auch angemessen vortragen. Christoph Ransmayr kann es, und seine Leser wissen das. Sie füllten den Großen Saal des Frankfurter Literaturhauses bis auf den letzten Platz, als der österreichische Schriftsteller sein neues Buch vorstellte: "Atlas eines ängstlichen Mannes" (S. Fischer) versammelt 70 Miniaturen rund um den Globus. "Ängstlichkeit ist eines der vornehmsten Gefühle meines Lebens", bekannte der Autor vor seiner Lesung. Und: "Ängstlichkeit verbindet uns miteinander gegenüber der Welt." Einer Welt, in der Mord und Terror, Blutrausch und Zerstörungswut "die Arbeit der Engel" behindern. Sofern nicht Menschen wie Pawlik sie übernehmen und etwa einen jüdischen Friedhof Stein für Stein wiedererrichten.
"Die Arbeit der Engel" hieß eine der fünf Miniaturen, die Ransmayr seinem Publikum mit bühnenreifer Kunstfertigkeit vortrug. Er hatte sie offenbar mit Bedacht ausgewählt: den "Luftangriff" eines bolivianischen Kampfflugzeugs am Anfang und die "Flugversuche" eines jungen Königsalbatros am Ende. Die Maschinengewehrsalve des ersten Fliegers hätte ihn fast das Leben gekostet im Hochland zwischen westlichen und östlichen Anden. Ein Grasbüschel diente ihm in der Todesangst als Zuflucht, ein Käfer, der sich daraus befreite, übertönte plötzlich den Fluglärm - ein Gegensatz, wie er sich schroffer kaum denken lässt.
Fast neidvoll blickt der Autor in Neuseeland einem Albatros nach, der sich nach vergeblichen Versuchen endlich in die Lüfte erhebt, die Welt mit ihren Schreckensnachrichten unter sich lässt. Um "die Arbeit der Engel" zu verrichten, muss man aber nicht fliegen. Es genügt, um Gnade für einen Stier und ein Pferd zu bitten, auch wenn man in der Arena von Sevilla nicht erhört wird. Ransmayr hat sehr genau hingehört und hingesehen: Der "Tod in Sevilla" war in seiner Intensität als Text nur schwer auszuhalten. Auch "Die Übergabe" changiert zwischen hilfloser Empathie und einem fast zwanghaften Hinschauen auf die Vernichtung eines Landes und seiner Bewohner. Ein Bootsmann auf dem Mekong gibt sein Boot und damit seinen Lebensunterhalt an seinen Sohn weiter, um dahin zurückzukehren, wo nichts mehr ist. "Agent Orange" hat die laotischen Wälder entlaubt, Napalm die Familie verbrannt. Zwei Millionen Tonnen Bomben auf Laos konterkarieren hier die verhaltenen Gesten eines alternden Mannes.
Diesem Muster aus sentimentfreiem Blick und diskreter Einfühlung folgen die fünf Miniaturen. Blutrünstige Politik und gleichgültige Natur halten sich die Waage in den kontemplativen Texten. In den meisten aber tritt der Mensch als das Tier auf, das zur Bestie pervertiert. Wäre da nicht Pawlik, der wie ein tschechischer Sisyphus Steine zusammenträgt, um die Mauer um einen jahrhundertealten jüdischen Friedhof zu erneuern. Nur zehn Juden von Trebitsch hatten den Holocaust überlebt, dreihundert waren nach Theresienstadt deportiert worden. Pawlik legt Kiesel auf die Gräber der anderen, um dem Vergessen aller entgegenzuwirken. Es gibt also auch bei dem vielgereisten und dabei wenig abgebrühten Ransmayr Menschen, die ihrer Bestimmung folgen: mit den Engeln die Schöpfung zu behüten.
CLAUDIA SCHÜLKE
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein "Lebensbuch" sei das. Vierzig Jahre Reiseerfahrung hat Ransmayr hier verdichtet. Besprochen wird der Band in der SZ-Literaturbeilage vom Reiseautor Karl-Markus Gauß, der beurteilen kann, ob Ransmayrs Projekt geglückt ist. Es klingt ambitioniert: Siebzig Schilderungen von Begebenheiten aus den entlegensten Orten der Welt, stets beginnend mit der etwas hochtrabenden Formel "Ich sah...", die aus der Apokalypse des Johannes stammt und laut Gauß dem zuweilen leichten und heiteren Geschehen in Ransmayrs Aperçus reizvoll widerspricht. Manche der Erzählungen liest Gauß als "ungemein dichtes Textgewebe", andere scheinen ihm weniger gelungen, manchmal künstlich und nicht ganz glaubhaft, obwohl alle beanspruchen, auf wahren Begebenheiten zu beruhen. Gauß empfiehlt eine Lektüre in kleinen Portionen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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erfahrungssatt und tiefgründig. Florian Welle Süddeutsche Zeitung 20140805
Weder Jets noch Internet können dem Erzählen dieses vielreisenden Autors etwas anhaben, versichert Andreas Breitenstein. Bis auf wenige Ausnahmen, wo die Dramaturgie den Text etwas zu forciert erscheinen lässt, ist Breitenstein tief gerührt von den hier zusammengefassten siebzig Episoden, die Christoph Ransmayr von den Lachswasserfällen Ontarios, vom Stierkampf in Sevilla, aus Kambodscha oder vom Ramschflohmarkt in Warschau sendet. Immer kann sich Breistenstein auf die Genauigkeit und den Seelengehalt der durch Langsamkeit und Ausrichtung am inneren Kompass des Autors unter Zuhilfenahme von Recherchen, Begegnungen, Mythen und Legenden entstehenden in sich geschlossenen und doch ein ganzes Welttheater ergebenden Geschichten verlassen. Fremdheit bekommt für den Rezensenten einen ganz neuen Klang, hat bei diesem Autor, wie er erklärt, nichts Exotisches an sich, kein Abenteurertum, sondern lebt vom Zögern und Zweifeln, vom Suchen und Bedenken des Autors und von einem Gespür sowohl für das Utopische wie für das Prekäre unserer Existenz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Die Welt sehen
als Rettung
Fortgehen, um anzukommen: Das ist ein Topos der Ichfindung. Christoph Ransmayr geht seit mehr als 40 Jahren fort. Es hat ihn bis ans Ende der Welt geführt, in die russische Arktis ebenso wie auf die Osterinsel. Was er dabei gesehen hat, erzählt er im „Atlas eines ängstlichen Mannes“. In der letzten von insgesamt 70 Episoden befindet er sich in Nepal. Gemeinsam mit einem Freund und betenden Mönchen sitzt er in einer Höhle, es ist Nacht und eisigkalt, aber die Schrecken der Finsternis, die den Schriftsteller von Kindestagen an plagten, finden hier ihr Ende. Am Feuer übermannt ihn ein Gefühl tiefer Geborgenheit. Der Schlusssatz, und damit der letzte Satz des Buches, lautet: „Nun war ich angekommen.“
Jede Geschichte beginnt mit den Worten „Ich sah . . .“ Ransmayr sieht „einen schwarzen andalusischen Kampfstier“ und „die schmale Hand des Bootsmannes Sang“. Er ist ein Augenmensch, häufig stellt ein Fernrohr die Szenen zusätzlich scharf. Aus der Eingangsbeobachtung entfalten sich die nur wenige Seiten langen Miniaturen über Menschen, Tiere, Orte. Sie sind erfahrungssatt und tiefgründig. Die zentrale Rolle in ihnen spielt: der Tod. FLORIAN WELLE
Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes. S. Fischer Verlag, Frankfurt/ M. 2014.
456 Seiten, 10,99 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
als Rettung
Fortgehen, um anzukommen: Das ist ein Topos der Ichfindung. Christoph Ransmayr geht seit mehr als 40 Jahren fort. Es hat ihn bis ans Ende der Welt geführt, in die russische Arktis ebenso wie auf die Osterinsel. Was er dabei gesehen hat, erzählt er im „Atlas eines ängstlichen Mannes“. In der letzten von insgesamt 70 Episoden befindet er sich in Nepal. Gemeinsam mit einem Freund und betenden Mönchen sitzt er in einer Höhle, es ist Nacht und eisigkalt, aber die Schrecken der Finsternis, die den Schriftsteller von Kindestagen an plagten, finden hier ihr Ende. Am Feuer übermannt ihn ein Gefühl tiefer Geborgenheit. Der Schlusssatz, und damit der letzte Satz des Buches, lautet: „Nun war ich angekommen.“
Jede Geschichte beginnt mit den Worten „Ich sah . . .“ Ransmayr sieht „einen schwarzen andalusischen Kampfstier“ und „die schmale Hand des Bootsmannes Sang“. Er ist ein Augenmensch, häufig stellt ein Fernrohr die Szenen zusätzlich scharf. Aus der Eingangsbeobachtung entfalten sich die nur wenige Seiten langen Miniaturen über Menschen, Tiere, Orte. Sie sind erfahrungssatt und tiefgründig. Die zentrale Rolle in ihnen spielt: der Tod. FLORIAN WELLE
Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes. S. Fischer Verlag, Frankfurt/ M. 2014.
456 Seiten, 10,99 Euro.
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