»Mein erstes Lesebuch war ein Zettel, auf dem die Prinzipien der Rassengesetze abgedruckt waren, deren Bedeutung mir ein jüdischer Lehrer erklärte … Während ich sie las, wurde mir klar, dass es keine guten und schlechten Wörter gab. Alles hing von den Taten ab.« S.127
Das Leben in Tora e Piccilli
scheint für alle vorbestimmt, so auch für Davide, Sohn eines Schweinehirten und Faschisten. Davide…mehr»Mein erstes Lesebuch war ein Zettel, auf dem die Prinzipien der Rassengesetze abgedruckt waren, deren Bedeutung mir ein jüdischer Lehrer erklärte … Während ich sie las, wurde mir klar, dass es keine guten und schlechten Wörter gab. Alles hing von den Taten ab.« S.127
Das Leben in Tora e Piccilli scheint für alle vorbestimmt, so auch für Davide, Sohn eines Schweinehirten und Faschisten. Davide wäre gern wie die anderen Kinder, doch er wird von ihnen ausgeschlossen und verspottet, weil er den Gestank der Schweine nicht loswird und einen Gehfehler hat. Teresa, die Tochter eines Seilers, ist die Einzige, die zu ihm hält, ihn verteidigt und ihm das geben kann, wonach er sich am meisten sehnt – schreiben zu lernen. Sie ist ein willenstarkes Mädchen, sie weiß, dass sie die Enge des Dorfes eines Tages verlassen wird. Je mehr Zeit Davide mit ihr verbringt, umso deutlicher spürt er die Magie der Worte, die er lernt, die er heimlich in gestohlene Hefte schreibt. Schreiben wird für ihn zum Akt der Rebellion gegen seinen despotischen Vater, denn er fühlt, dass in den Worten eine andere Zukunft für ihn liegt.
Im Sommer 1942 wird sich das Leben im Dorf verändern, als 36 Juden aus Neapel auf Anordnung des Duce zur Zwangsarbeit umgesiedelt werden. Davide ist von dem gleichaltrigen Nicolas sofort angetan und weiß, dass er einmal werden will wie er. Davide sieht in ihm, was er nicht ist: Nicolas ist gebildet, sauber, gutaussehend. Nicolas’ Vater wird ihn heimlich unterrichten. Die drei verbringen den Sommer zusammen, der sie alle verändern wird. Bis die Ereignisse sie zwingen, sich zu trennen und erwachsen zu werden. Doch die verwirrende Freundschaft wird Davide immer begleiten und ihn Jahre später motivieren, sich auf die Suche nach den beiden zu machen.
Das Buch strotz vor Lebendigkeit und Authentizität, vor meinem inneren Auge entstehen Bilder von der unendlich Feldern und Wäldern, ich rieche den Schweinegestank an Davides Kleidung, fühle aber auch der Engstirnigkeit und Hörigkeit der Dorfbewohner, die Solla so treffend in knappen Sätzen zu skizzieren weiß.
»…(die) sonntags schwatzend auf dem Kirchplatz am Podestà standen, um allen zu zeigen, an was sie glaubten: an die Kirche und an den Faschismus, einen Gott im Himmel und einen auf Erden.« S.29
Es ist berührend, wenn Davide dem Klang der neuen Worte nachspürt, die ihm neue Horizonte eröffnen, ihm erlauben zu träumen, ein anderer zu werden, ein Mensch mit eigenem Willen. Wenn er über die Nachahmung hinauskommt, wenn aus unbeholfenen Kringeln und Kreisen Worte in seinen Heften, in seinem Kopf entstehen, die Ordnung und Verständnis in seine Welt bringen.
»Schweine. Ich versuchte es. Ich schob das Sch zwischen den Zähnen hervor und schürzte die Unterlippe, um das w auszusprechen. Es klang wie ein neues Wort. Das war nicht mehr das Viehzeug, das ich kannte. Ich sah die Tiere in einem neuen Licht, den Unterschied zwischen ihnen und uns.« S.61
Solla ist ein sehr einfühlsamer, tiefgründiger Entwicklungsroman gelungen, der mich direkt ins Herz des Protagonisten geführt hat. Er schreibt sehr eindrucksvoll von der Kraft der Worte, die die Macht haben, sich zu finden, über sich selbst hinauszuwachsen, den gesellschaftlichen Zwängen zu entkommen ohne die Verbindung zu seiner Herkunft zu verlieren. Eine berührende Geschichte über Freundschaft, über die Verwirrung der Liebe, über Mut und Rebellion. Sollas Sprache ist klar, jeder Satz hat seine Bedeutung für den Fortgang der Geschichte. Vielleicht ist auch deshalb der Mittelteil des Buches deutlich geraffter, denn alles führt auf das Ende hin, bei dem sich Kreise schließen werden und das mich zutiefst berührt hat.
Ein großartiges Stück italienische Literatur, dessen Worte man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte, wie es Davide getan hat.