Als der 15-jährige Morten Schumacher, genannt Motte, einen Anruf bekommt, ist in seinem Leben nichts mehr, wie es einmal war. Sein bester Freund Bogi ist plötzlich sehr krank. Kurz danach fährt Jacqueline Schmiedebach vom Einstein-Gymnasium auf ihrem Hollandrad an ihm vorbei, und die nächste Erschütterung nimmt ihren Lauf. Zwischen diesen beiden Polen, der Möglichkeit des Todes und der Möglichkeit der Liebe, spitzen sich die Ereignisse zu, geraten außer Kontrolle und stellen Motte vor unbekannte, schmerzhafte Herausforderungen. Doch zum richtigen Zeitpunkt sind die richtigen Leute an seiner Seite und tun genau das Richtige. Und Motte selbst schaut den Dingen mutig ins Gesicht, mit scharfem Blick und trockenem Witz.
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buecher-magazin.deEs ist eine der schwierigeren literarischen Übungen, den Ton eines Jungen zu treffen, der kein Kind mehr ist und auch noch kein Erwachsener. J. D. Salinger ist dies mit Holden Caulfield, dem „Fänger im Roggen“, gelungen. In „Blackbird“ ist es Morten Schumacher, den alle Motte nennen. Ihm verleiht Matthias Brandt eine so überzeugende und mitreißende Stimme, dass sie einen sofort in die Welt des 15-Jährigen Gymnasiasten zieht. Die wird gerade umgekrempelt, sein Vater ist kürzlich mit seiner Geliebten durchgebrannt, seine Mutter steht völlig neben sich. Damit nicht genug, zugleich stürzt ihn die blonde Jacqueline ins Chaos der Gefühle und sein bester Freund Bogi. Mit dem hat er seit Jahren jeden Tag verbracht und plötzlich ist er weg. Als Motte ihn in der Klinik besucht, ist er geschockt. „Bogi wirkte total verändert. Er hatte nicht plötzlich eine Glatze bekommen, oder was wegen der Behandlung noch für Scheiß passieren konnte. Es war nichts Äußerliches. Sondern?…?wie konnte man das jetzt sagen? Als ob er, obwohl er noch gar nicht lange hier war, schon hierher gehörte und nicht mehr zu unserer Welt, zu meiner.“ Es ist eine todtraurige und hochkomische Geschichte, auch über Sprachlosigkeit, angesichts des ersten Verliebtseins und des Verlusts eines sterbenden Freundes.
Der Schauspieler Matthias Brandt ist ein wunderbarer Erzähler. Sein Roman „Blackbird“ geht unter die Haut.
© BÜCHERmagazin, Christiane von Korff
Der Schauspieler Matthias Brandt ist ein wunderbarer Erzähler. Sein Roman „Blackbird“ geht unter die Haut.
© BÜCHERmagazin, Christiane von Korff
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2019Das Rätsel der männlichen Teenagerseele von 1970
Ein Autor denkt für seine Figuren: Matthias Brandt erzählt in "Blackbird" von Tod und Liebe in der Jugend
Der haut total rein, der Blackbirdfielder", sagt Bogi zu Motte. Die beiden Schulfreunde sind unterwegs zu einem Fußballcamp. Amselfelder ist ein billiger "Jugo-Wein", den sich die Jungs unter Mithilfe einer nachlässigen Supermarktkassiererin leisten können. Nach dieser Amsel im Felder ist das Romandebüt des Schauspielers Matthias Brandt benannt. In der Wortschöpfung "Blackbirdfielder" verbergen sich Glanz und Elend der Jugend: verfeinertes Sprachgefühl, ironische Selbstbetrachtung, das Versprechen auf einen billigen Rausch und erste Kontakte mit dem, was nach dem Exzess kommt.
Der jüngste Sohn von Bundeskanzler Willy Brandt war vor allem als "Polizeiruf"-Kommissar Hanns von Meuffels im Abendprogramm der ARD zu erleben. Diskret, distinguiert, ein bisschen vernuschelt. Vor drei Jahren erfand Brandt sich dann mit einem Erzählungsband neu als Autor. "Raumpatrouille" war ein geglückter Versuch, die Bonner Kindheit des Autors in skurrilen Erinnerungsbildern aufleben zu lassen. In "Blackbird" erzählt Brandt nun eine Jugendgeschichte aus den Siebzigern.
Und zwar so: Bogi, eigentlich Manfred, leidet unter Lymphdrüsenkrebs und wird bald an dieser heimtückischen Krankheit sterben und seinen besten Freund Motte alleinlassen. Weil aber mit sechzehn noch so viele andere Sachen wichtig sind, geht es über weite Strecken des Romans gar nicht um den Krebstod des Freundes, sondern darum, wie das Leben mit sechzehn so ist. Brandt nimmt seine Leser mit auf peinlich missratene Dates, in die Scheidungsdramen der Siebzigerjahre-Eltern, in die Unterrichtsstunden alter Nazilehrer, aber auch in die junger Achtundsechziger-Idealisten. Das ist recht unterhaltsam, manchem Leser vielleicht sogar genug. Und doch ist dieses Buch ein gutes Beispiel dafür, wie schwer es ist, einen Jugendroman zu schreiben - einen jugendlichen Ich-Erzähler nämlich so erzählen zu lassen, dass er nicht wie die Marionette eines Erwachsenen klingt, der sich bloß vorstellt, wie junge Leute so reden und worüber. Dass, was Wolfgang Herrndorf gelungen ist, was zuletzt auch Wolf Haas in seiner kleinen Roadnovel "Junger Mann" geschafft hat, ist in Wahrheit eine hohe Kunst der Einfühlung: das Eintauchen in die Logik des Jungseins jenseits der Pointe.
Dazu gehört zum Beispiel das Aufgeben gefakter Souveränität. Dieser Motte, den wir uns nach dem Willen des Autors als etwas muffeligen Zeitgenossen vorzustellen haben, hat jederzeit die gedankliche Kontrolle über das, was er zu verarbeiten hat. Die Krebsdiagnose seines Kumpels löst zum Beispiel einerseits Trauer in ihm aus: "Aber eigentlich war ich sauer auf ihn, weil ich mein altes Leben wiederhaben wollte, inklusive ihm, Bogi. Ich fand einfach, dass ich auch ohne den Mist schon genug um die Ohren hatte, keine Ahnung, hatte ich mir ja nicht ausgesucht, dass ich das jetzt dachte."
Hat er sich tatsächlich nicht ausgedacht, dass er das jetzt denken muss. Dass er jetzt zurückrudern soll und mit dem Gewissen eines Erwachsenen einräumen muss, dass solches Denken nach einer Rechtfertigung verlangt. Das hat sich nämlich sein Schöpfer Matthias Brandt ausgedacht. Ebenso den dauerhaft angeödeten Ton, der alles und jedes von oben herab kommentiert. Gekotzt wird "am Strahl", Orte liegen am "Arsch der Welt", ,Lehrer sind "Vollhorste", man selbst hat eine "Kacklaune", und die Tischordnung im Klassenzimmer ist eine "verdammte, verschissene Hufeisensitzordnung". Um Fassungslosigkeit auf der Kinderstation des Krankenhauses, auf der Bogi behandelt wird, zum Ausdruck zu bringen, muss Motte sagen: "bekacktes Giraffenzimmer". Zusätzlich müssen er und seine Kumpels darüber nachdenken, ob Bogi die Krankenschwestern auf Station "flachlegt".
Einfach mal steil ins Unbekannte der männlichen Teenagerseele von 1970 behauptet: Derlei am Pornographischen geschulte Phantasien sind schiere Projektion. Sicherlich haben erotische Überschreitungsphantasien zu allen Zeiten eine wichtige Rolle beim Erwachsenwerden gespielt. Aber dass man sechzehnjährig ältere Kinderkrankenschwestern auf der Krebsstation flachlegt, gehört eher, wenn überhaupt, ins Maulheldenrepertoire der Generation YouPorn. Vermutlich aber eher ins nachgereichte Wunschdenken der Generation Brandt. Nicht schlimm? Nicht wirklich. Aber es sind genau diese Unstimmigkeiten, die den Roman so seelenlos machen. Am Ende des Buchs ist man den Hauptfiguren nicht wirklich nahegekommen. Ihre Probleme und Abenteuer wirken austauschbar. Man hat sie anderswo schon besser gelesen. Nicht zuletzt in Varianten selbst erlebt. Gerade deshalb ist der Coming-of-Age-Roman im Gegensatz zum, sagen wir, Künstlerroman vielleicht eine der schwierigsten Stilübungen.
Zuletzt: Ein Jugendroman, der in der Welt der Literatur überdauern will, muss immer auch über den beschränkten Horizont seines jugendlichen Personals hinausweisen. Indem zum Beispiel die Doppelmoral einer Gesellschaft entlarvt wird. Oder deren Geschlechterrollen hervortreten. Zumindest müsste sich am Ende eine Art Entwicklung abzeichnen, die über die erzählte Zeit hinausweist. All das bietet "Blackbird" nicht. Am Ende steht ein Begräbnis. Motte hat eine nette Freundin, mit der er gerne knutscht. Es fließen auch endlich ein paar Tränen aus verstockten Jungsgesichtern. Und Mamas neuer Freund will mit den Jungs einen kiffen. Ganz schön verrückte Welt. Ganz schön verrückte Jugend. Darauf einen Amselfelder.
KATHARINA TEUTSCH
Matthias Brandt: "Blackbird". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 276 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Autor denkt für seine Figuren: Matthias Brandt erzählt in "Blackbird" von Tod und Liebe in der Jugend
Der haut total rein, der Blackbirdfielder", sagt Bogi zu Motte. Die beiden Schulfreunde sind unterwegs zu einem Fußballcamp. Amselfelder ist ein billiger "Jugo-Wein", den sich die Jungs unter Mithilfe einer nachlässigen Supermarktkassiererin leisten können. Nach dieser Amsel im Felder ist das Romandebüt des Schauspielers Matthias Brandt benannt. In der Wortschöpfung "Blackbirdfielder" verbergen sich Glanz und Elend der Jugend: verfeinertes Sprachgefühl, ironische Selbstbetrachtung, das Versprechen auf einen billigen Rausch und erste Kontakte mit dem, was nach dem Exzess kommt.
Der jüngste Sohn von Bundeskanzler Willy Brandt war vor allem als "Polizeiruf"-Kommissar Hanns von Meuffels im Abendprogramm der ARD zu erleben. Diskret, distinguiert, ein bisschen vernuschelt. Vor drei Jahren erfand Brandt sich dann mit einem Erzählungsband neu als Autor. "Raumpatrouille" war ein geglückter Versuch, die Bonner Kindheit des Autors in skurrilen Erinnerungsbildern aufleben zu lassen. In "Blackbird" erzählt Brandt nun eine Jugendgeschichte aus den Siebzigern.
Und zwar so: Bogi, eigentlich Manfred, leidet unter Lymphdrüsenkrebs und wird bald an dieser heimtückischen Krankheit sterben und seinen besten Freund Motte alleinlassen. Weil aber mit sechzehn noch so viele andere Sachen wichtig sind, geht es über weite Strecken des Romans gar nicht um den Krebstod des Freundes, sondern darum, wie das Leben mit sechzehn so ist. Brandt nimmt seine Leser mit auf peinlich missratene Dates, in die Scheidungsdramen der Siebzigerjahre-Eltern, in die Unterrichtsstunden alter Nazilehrer, aber auch in die junger Achtundsechziger-Idealisten. Das ist recht unterhaltsam, manchem Leser vielleicht sogar genug. Und doch ist dieses Buch ein gutes Beispiel dafür, wie schwer es ist, einen Jugendroman zu schreiben - einen jugendlichen Ich-Erzähler nämlich so erzählen zu lassen, dass er nicht wie die Marionette eines Erwachsenen klingt, der sich bloß vorstellt, wie junge Leute so reden und worüber. Dass, was Wolfgang Herrndorf gelungen ist, was zuletzt auch Wolf Haas in seiner kleinen Roadnovel "Junger Mann" geschafft hat, ist in Wahrheit eine hohe Kunst der Einfühlung: das Eintauchen in die Logik des Jungseins jenseits der Pointe.
Dazu gehört zum Beispiel das Aufgeben gefakter Souveränität. Dieser Motte, den wir uns nach dem Willen des Autors als etwas muffeligen Zeitgenossen vorzustellen haben, hat jederzeit die gedankliche Kontrolle über das, was er zu verarbeiten hat. Die Krebsdiagnose seines Kumpels löst zum Beispiel einerseits Trauer in ihm aus: "Aber eigentlich war ich sauer auf ihn, weil ich mein altes Leben wiederhaben wollte, inklusive ihm, Bogi. Ich fand einfach, dass ich auch ohne den Mist schon genug um die Ohren hatte, keine Ahnung, hatte ich mir ja nicht ausgesucht, dass ich das jetzt dachte."
Hat er sich tatsächlich nicht ausgedacht, dass er das jetzt denken muss. Dass er jetzt zurückrudern soll und mit dem Gewissen eines Erwachsenen einräumen muss, dass solches Denken nach einer Rechtfertigung verlangt. Das hat sich nämlich sein Schöpfer Matthias Brandt ausgedacht. Ebenso den dauerhaft angeödeten Ton, der alles und jedes von oben herab kommentiert. Gekotzt wird "am Strahl", Orte liegen am "Arsch der Welt", ,Lehrer sind "Vollhorste", man selbst hat eine "Kacklaune", und die Tischordnung im Klassenzimmer ist eine "verdammte, verschissene Hufeisensitzordnung". Um Fassungslosigkeit auf der Kinderstation des Krankenhauses, auf der Bogi behandelt wird, zum Ausdruck zu bringen, muss Motte sagen: "bekacktes Giraffenzimmer". Zusätzlich müssen er und seine Kumpels darüber nachdenken, ob Bogi die Krankenschwestern auf Station "flachlegt".
Einfach mal steil ins Unbekannte der männlichen Teenagerseele von 1970 behauptet: Derlei am Pornographischen geschulte Phantasien sind schiere Projektion. Sicherlich haben erotische Überschreitungsphantasien zu allen Zeiten eine wichtige Rolle beim Erwachsenwerden gespielt. Aber dass man sechzehnjährig ältere Kinderkrankenschwestern auf der Krebsstation flachlegt, gehört eher, wenn überhaupt, ins Maulheldenrepertoire der Generation YouPorn. Vermutlich aber eher ins nachgereichte Wunschdenken der Generation Brandt. Nicht schlimm? Nicht wirklich. Aber es sind genau diese Unstimmigkeiten, die den Roman so seelenlos machen. Am Ende des Buchs ist man den Hauptfiguren nicht wirklich nahegekommen. Ihre Probleme und Abenteuer wirken austauschbar. Man hat sie anderswo schon besser gelesen. Nicht zuletzt in Varianten selbst erlebt. Gerade deshalb ist der Coming-of-Age-Roman im Gegensatz zum, sagen wir, Künstlerroman vielleicht eine der schwierigsten Stilübungen.
Zuletzt: Ein Jugendroman, der in der Welt der Literatur überdauern will, muss immer auch über den beschränkten Horizont seines jugendlichen Personals hinausweisen. Indem zum Beispiel die Doppelmoral einer Gesellschaft entlarvt wird. Oder deren Geschlechterrollen hervortreten. Zumindest müsste sich am Ende eine Art Entwicklung abzeichnen, die über die erzählte Zeit hinausweist. All das bietet "Blackbird" nicht. Am Ende steht ein Begräbnis. Motte hat eine nette Freundin, mit der er gerne knutscht. Es fließen auch endlich ein paar Tränen aus verstockten Jungsgesichtern. Und Mamas neuer Freund will mit den Jungs einen kiffen. Ganz schön verrückte Welt. Ganz schön verrückte Jugend. Darauf einen Amselfelder.
KATHARINA TEUTSCH
Matthias Brandt: "Blackbird". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 276 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.08.2019Grobmotoriker der Zukunft
Der Schauspieler Matthias Brandt lädt ein zur Reise in die Siebziger: Sein Debütroman „Blackbird“
erzählt so treffend wie rührend von einer Jugend vor dem großen Sprung
VON NICOLAS FREUND
Manchmal ist es doch besser, nichts zu schreiben als nicht zu schreiben. Das hat eigentlich Charlotte in Goethes „Wahlverwandtschaften“ – etwas anders formuliert – ihrem Eduard geraten, als der nicht weiß, was er einem Freund in Not schreiben soll. Morten Schumacher ist keine Figur von Goethe, sondern aus „Blackbird“, dem Romandebüt des Schauspielers Matthias Brandt, aber wahrscheinlich würde ihm Charlottes Aphorismus gefallen. Denn Morten, denn alle Motte nennen, mag Worte sehr gerne, selbst wenn ihm das selbst, wie so ziemlich alles andere auch, noch nicht ganz klar ist.
Motte ist 15 Jahre alt, seine Eltern lassen sich gerade scheiden, das Haus wird ausgeräumt, der Vater ist mit einer Frau namens Claudia Hunger-Löper durchgebrannt, sein beste Freund Bogi liegt mit irgendwas Komischem, das aber sehr ernst klingt, im Krankenhaus und dann ist da noch Jacqueline Schmiedebach. Was mit der das Problem ist, kann man sich denken.
Dass Matthias Brandt oder sein Erzähler Motte, je nachdem, nichts geschrieben hätte, kann man trotz des Plaudertons des Romans aber so nicht sagen. Obwohl es zu den Problemen des Erwachsenwerdens gehört, dass sie mit einigem Abstand gar nicht mehr so ernst erscheinen. Oder ist das ein Irrtum?
Mit „Blackbird“ (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 Seiten, 22 Euro) schaut der 1961 geborene Brandt zurück in die eigene Jugend, es ist 1977, „Low“ und „Heroes“ von David Bowie sind gerade erschienen, im Kino läuft der schwülstige Soft-Erotikstreifen „Bilitis“, über den die Jugend alles wissen möchte.
Die Siebziger scheinen im Rückblick selbst für die, die damals nicht dabei waren, wie die Ouvertüre auf die Zukunft. Brandts erstes, 2016 erschienen Buch mit Kurzgeschichten, die ebenfalls in den Siebzigern spielten, hieß auch gleich „Raumpatrouille“, als stünden die Sternenkreuzer aus dem Fernsehen schon bereit zum Aufbruch ins Unbekannte.
Dieser Aufbruch ins Unbekannte gilt natürlich verschärft, wenn man gerade 15 Jahre alt ist. Handys und Internet gab es zwar noch nicht und deshalb bekommt die blonde Jacqueline von Motte auch keine Selfies oder Bilder von irgendwelchen Körperteilen bei Snapchat zugeschickt, sondern einen ganz altmodischen Brief, der auch erst umständlich und wegen des brisanten Inhalts heute natürlich grotesk riskant erscheinend durch mehrere Hände zur Übergabe auf den Pausenhof ihres Gymnasiums geschmuggelt werden muss.
Der Brief ist sehr schön handschriftlich mit allen rührenden Entwürfen und verworfenen Fassungen, also dem, was dann doch nicht geschrieben wurde, in dem Buch wiedergegeben. Das, was sein könnte, ist hier immer unmittelbare Gegenwart und in dem Roman so etwas wie das große Versprechen der Jugend.
Nicht nur für alle, die heute im Alter von Matthias Brandt sind, müssen diese Siebzigerjahre im Rückblick wie die direkte Vorstufe zur Gegenwart erscheinen. „Die gesamte Technologie existierte bereits, allerdings nur in einer grobmotorischen Variante“, schrieb der 1968 geborene norwegischer Schriftsteller Karl Ove Knausgard über dieses Jahrzehnt: „Die Sehnsucht nach den Siebzigern ist nichts anderes als die Sehnsucht nach der Zukunft, denn sie existierte damals, alle wussten, dass sich alles verändern würde.“ Anders als heute, wenn man sich die Zukunft nicht mehr so gerne vorstellt.
„Blackbird“ ist auch ein Zurück in die Zukunft, die es damals noch gab, auch wenn sie damals schon nicht immer toll war. Das konnte schon am Vornamen liegen, wie bei Mottes krankem Freund Bogi, der natürlich nicht Bogi heißt, sondern Manfred Gunnar Schnellstieg, und genau da liegt für die Jungs das Problem, denn schon Taufnamen können ja wie Zeitbomben in die Zukunft wirken. „Als er erst ein paar Tage auf der Welt gewesen war, hatte er schon Manfred geheißen und war Katholik und Mitglied bei Bayern München gewesen. Das waren ja immerhin schon mal drei Sachen, die das Leben in ganz bestimmte Bahnen lenkten, oder? Im Großen und Ganzen war für Bogi nach kaum einer Woche schon klar gewesen, wohin die Reise ging.“ War es dann natürlich nicht, aber die Zukunft ist ja doch immer nur eine Variante der Gegenwart.
Vorhersehbarer macht das die Sache aber nicht, wie bei Steffi, die mit Morten in eine Klasse ging und „mal vom Apfelbaum in einen großen Laubhaufen gesprungen war, in dem noch die Heugabel gelegen hatte. Hinterher hieß es in der Schule, sie hätte lange operiert werden müssen“. Steffi starb aber nicht, sondern wurde Schornsteinfegerin. Motte möchte dann später ganz genau wissen, wo die Narben sind. Dieses Interesse hätte man jetzt nicht geahnt, und Motte erst recht nicht.
Oder das Freibad, Lebensmittelpunkt der Jugend mit jahreszeitlich bedingtem Verfallsdatum. „Die leeren Becken, die laubbedeckte Liegewiese, die Sprungtürme, der Dreier und der Zehner daneben, komisch, dass mir dieser Ort, der für mich vor ein paar Wochen wie ein zweites Zuhause gewesen war, ich kannte hier wirklich jeden Grashalm, jetzt plötzlich total fremd war.“ Der Sprung vom Zehner und das anschließende Abtauchen ins kalte Wasser, wo die Welt kurz verschwindet, um dann für immer verändert wieder aufzutauchen, ist keine neue, aber noch immer eine starke Metapher auf diese Zeit des Erwachsenwerdens. „Irgendwo, vermutlich zwischen dem Fünfer und dem Dreier, war ich mir sicher, dass ich diesen Sprung niemals würde überleben können. Aber dann zog ich im letzten Moment die Beine an, machte mich ganz klein und tauchte so ins Wasser ein, mit dem lautesten Knall, den ich jemals gehört hatte. Weil er nicht irgendwo außerhalb von mir dröhnte, sondern mich ganz umschloss, sodass ich selbst ein Teil dieses Knalls wurde“, schreibt Brandt: „Das Tauchen dauerte viel länger als das Fliegen, wahnsinnig langsam war jetzt alles.“ So schön treffend und rührend wie bei Brandt wurde die oft erzählte Jugend schon lange nicht mehr beschrieben.
Auch, weil sie natürlich für jeden etwas anderes bedeutet. Endlose Varianten der Gegenwart, die erst noch entdeckt, ausprobiert, genossen, verworfen und ausgehalten werden müssen, wie der Text für den Brief an Jacqueline Schmiedebach. „Blackbird“ ist eine Suche nach der Sprache, in der sich etwas sagen lässt, das sein könnte, oder in der sich etwas sagen lässt, wenn es eigentlich nichts mehr zu sagen gibt. Für Situationen wie die Trennung der Eltern oder wenn der beste Freund todkrank ist. Der Roman steckt voller Figuren, die sprachlos machen müssten, wie der faschistische, prügelnde Sportlehrer oder der coole, lockere Sozialkundelehrer, der mit den Elftklässlerinnen ins Bett geht. Was soll man dazu sagen? Doch eine ganze Menge und nicht einfach nichts.
Der „Blackbird“ ist die Amsel, nur eben auf Englisch. Denn Englisch ist dann doch nur eine Variante von Deutsch. Oder von Französisch. Oder umgekehrt. Wenigstens so, wie es von Motte, Bogi und wie sie alle eigentlich gerade nicht heißen, gesprochen wird. Denn der Blackbird ist außerdem der zweitbilligste Wein aus dem Supermarkt, nämlich der „besonders bekömmliche“ Amselfelder, den Bogi gleich mal ins Englische übersetzt: „Der haut total rein, der Blackbirdfielder“, sagt er. Motte zweifelt: „Jaja, alles klar, Bogi, woher willst’n das wissen, wenn wir das auf der Fahrt zum allerersten Mal ausprobieren wollen?“ Könnte halt sein. Muss man eben ausprobieren.
„Das Tauchen dauerte viel
länger als das Fliegen, wahnsinnig
langsam war jetzt alles.“
Matthias Brandt ist Autor und Schauspieler. Zuletzt war er im Kinofilm „Transit“ und in der Fernsehserie „Babylon Berlin“ zu sehen. „Blackbird“ ist sein erster Roman.
Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
Varianten der Gegenwart ausprobieren, genießen, aushalten, verwerfen – und alles ohne einziges Selfie: Jugendliche in den Siebzigerjahren.
Foto: akg-images / Sammlung Berliner Verlag/archiv
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Der Schauspieler Matthias Brandt lädt ein zur Reise in die Siebziger: Sein Debütroman „Blackbird“
erzählt so treffend wie rührend von einer Jugend vor dem großen Sprung
VON NICOLAS FREUND
Manchmal ist es doch besser, nichts zu schreiben als nicht zu schreiben. Das hat eigentlich Charlotte in Goethes „Wahlverwandtschaften“ – etwas anders formuliert – ihrem Eduard geraten, als der nicht weiß, was er einem Freund in Not schreiben soll. Morten Schumacher ist keine Figur von Goethe, sondern aus „Blackbird“, dem Romandebüt des Schauspielers Matthias Brandt, aber wahrscheinlich würde ihm Charlottes Aphorismus gefallen. Denn Morten, denn alle Motte nennen, mag Worte sehr gerne, selbst wenn ihm das selbst, wie so ziemlich alles andere auch, noch nicht ganz klar ist.
Motte ist 15 Jahre alt, seine Eltern lassen sich gerade scheiden, das Haus wird ausgeräumt, der Vater ist mit einer Frau namens Claudia Hunger-Löper durchgebrannt, sein beste Freund Bogi liegt mit irgendwas Komischem, das aber sehr ernst klingt, im Krankenhaus und dann ist da noch Jacqueline Schmiedebach. Was mit der das Problem ist, kann man sich denken.
Dass Matthias Brandt oder sein Erzähler Motte, je nachdem, nichts geschrieben hätte, kann man trotz des Plaudertons des Romans aber so nicht sagen. Obwohl es zu den Problemen des Erwachsenwerdens gehört, dass sie mit einigem Abstand gar nicht mehr so ernst erscheinen. Oder ist das ein Irrtum?
Mit „Blackbird“ (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 Seiten, 22 Euro) schaut der 1961 geborene Brandt zurück in die eigene Jugend, es ist 1977, „Low“ und „Heroes“ von David Bowie sind gerade erschienen, im Kino läuft der schwülstige Soft-Erotikstreifen „Bilitis“, über den die Jugend alles wissen möchte.
Die Siebziger scheinen im Rückblick selbst für die, die damals nicht dabei waren, wie die Ouvertüre auf die Zukunft. Brandts erstes, 2016 erschienen Buch mit Kurzgeschichten, die ebenfalls in den Siebzigern spielten, hieß auch gleich „Raumpatrouille“, als stünden die Sternenkreuzer aus dem Fernsehen schon bereit zum Aufbruch ins Unbekannte.
Dieser Aufbruch ins Unbekannte gilt natürlich verschärft, wenn man gerade 15 Jahre alt ist. Handys und Internet gab es zwar noch nicht und deshalb bekommt die blonde Jacqueline von Motte auch keine Selfies oder Bilder von irgendwelchen Körperteilen bei Snapchat zugeschickt, sondern einen ganz altmodischen Brief, der auch erst umständlich und wegen des brisanten Inhalts heute natürlich grotesk riskant erscheinend durch mehrere Hände zur Übergabe auf den Pausenhof ihres Gymnasiums geschmuggelt werden muss.
Der Brief ist sehr schön handschriftlich mit allen rührenden Entwürfen und verworfenen Fassungen, also dem, was dann doch nicht geschrieben wurde, in dem Buch wiedergegeben. Das, was sein könnte, ist hier immer unmittelbare Gegenwart und in dem Roman so etwas wie das große Versprechen der Jugend.
Nicht nur für alle, die heute im Alter von Matthias Brandt sind, müssen diese Siebzigerjahre im Rückblick wie die direkte Vorstufe zur Gegenwart erscheinen. „Die gesamte Technologie existierte bereits, allerdings nur in einer grobmotorischen Variante“, schrieb der 1968 geborene norwegischer Schriftsteller Karl Ove Knausgard über dieses Jahrzehnt: „Die Sehnsucht nach den Siebzigern ist nichts anderes als die Sehnsucht nach der Zukunft, denn sie existierte damals, alle wussten, dass sich alles verändern würde.“ Anders als heute, wenn man sich die Zukunft nicht mehr so gerne vorstellt.
„Blackbird“ ist auch ein Zurück in die Zukunft, die es damals noch gab, auch wenn sie damals schon nicht immer toll war. Das konnte schon am Vornamen liegen, wie bei Mottes krankem Freund Bogi, der natürlich nicht Bogi heißt, sondern Manfred Gunnar Schnellstieg, und genau da liegt für die Jungs das Problem, denn schon Taufnamen können ja wie Zeitbomben in die Zukunft wirken. „Als er erst ein paar Tage auf der Welt gewesen war, hatte er schon Manfred geheißen und war Katholik und Mitglied bei Bayern München gewesen. Das waren ja immerhin schon mal drei Sachen, die das Leben in ganz bestimmte Bahnen lenkten, oder? Im Großen und Ganzen war für Bogi nach kaum einer Woche schon klar gewesen, wohin die Reise ging.“ War es dann natürlich nicht, aber die Zukunft ist ja doch immer nur eine Variante der Gegenwart.
Vorhersehbarer macht das die Sache aber nicht, wie bei Steffi, die mit Morten in eine Klasse ging und „mal vom Apfelbaum in einen großen Laubhaufen gesprungen war, in dem noch die Heugabel gelegen hatte. Hinterher hieß es in der Schule, sie hätte lange operiert werden müssen“. Steffi starb aber nicht, sondern wurde Schornsteinfegerin. Motte möchte dann später ganz genau wissen, wo die Narben sind. Dieses Interesse hätte man jetzt nicht geahnt, und Motte erst recht nicht.
Oder das Freibad, Lebensmittelpunkt der Jugend mit jahreszeitlich bedingtem Verfallsdatum. „Die leeren Becken, die laubbedeckte Liegewiese, die Sprungtürme, der Dreier und der Zehner daneben, komisch, dass mir dieser Ort, der für mich vor ein paar Wochen wie ein zweites Zuhause gewesen war, ich kannte hier wirklich jeden Grashalm, jetzt plötzlich total fremd war.“ Der Sprung vom Zehner und das anschließende Abtauchen ins kalte Wasser, wo die Welt kurz verschwindet, um dann für immer verändert wieder aufzutauchen, ist keine neue, aber noch immer eine starke Metapher auf diese Zeit des Erwachsenwerdens. „Irgendwo, vermutlich zwischen dem Fünfer und dem Dreier, war ich mir sicher, dass ich diesen Sprung niemals würde überleben können. Aber dann zog ich im letzten Moment die Beine an, machte mich ganz klein und tauchte so ins Wasser ein, mit dem lautesten Knall, den ich jemals gehört hatte. Weil er nicht irgendwo außerhalb von mir dröhnte, sondern mich ganz umschloss, sodass ich selbst ein Teil dieses Knalls wurde“, schreibt Brandt: „Das Tauchen dauerte viel länger als das Fliegen, wahnsinnig langsam war jetzt alles.“ So schön treffend und rührend wie bei Brandt wurde die oft erzählte Jugend schon lange nicht mehr beschrieben.
Auch, weil sie natürlich für jeden etwas anderes bedeutet. Endlose Varianten der Gegenwart, die erst noch entdeckt, ausprobiert, genossen, verworfen und ausgehalten werden müssen, wie der Text für den Brief an Jacqueline Schmiedebach. „Blackbird“ ist eine Suche nach der Sprache, in der sich etwas sagen lässt, das sein könnte, oder in der sich etwas sagen lässt, wenn es eigentlich nichts mehr zu sagen gibt. Für Situationen wie die Trennung der Eltern oder wenn der beste Freund todkrank ist. Der Roman steckt voller Figuren, die sprachlos machen müssten, wie der faschistische, prügelnde Sportlehrer oder der coole, lockere Sozialkundelehrer, der mit den Elftklässlerinnen ins Bett geht. Was soll man dazu sagen? Doch eine ganze Menge und nicht einfach nichts.
Der „Blackbird“ ist die Amsel, nur eben auf Englisch. Denn Englisch ist dann doch nur eine Variante von Deutsch. Oder von Französisch. Oder umgekehrt. Wenigstens so, wie es von Motte, Bogi und wie sie alle eigentlich gerade nicht heißen, gesprochen wird. Denn der Blackbird ist außerdem der zweitbilligste Wein aus dem Supermarkt, nämlich der „besonders bekömmliche“ Amselfelder, den Bogi gleich mal ins Englische übersetzt: „Der haut total rein, der Blackbirdfielder“, sagt er. Motte zweifelt: „Jaja, alles klar, Bogi, woher willst’n das wissen, wenn wir das auf der Fahrt zum allerersten Mal ausprobieren wollen?“ Könnte halt sein. Muss man eben ausprobieren.
„Das Tauchen dauerte viel
länger als das Fliegen, wahnsinnig
langsam war jetzt alles.“
Matthias Brandt ist Autor und Schauspieler. Zuletzt war er im Kinofilm „Transit“ und in der Fernsehserie „Babylon Berlin“ zu sehen. „Blackbird“ ist sein erster Roman.
Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
Varianten der Gegenwart ausprobieren, genießen, aushalten, verwerfen – und alles ohne einziges Selfie: Jugendliche in den Siebzigerjahren.
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»Was Blackbird so besonders macht, so klar, so unabweislich, so bewegend, dass man sich auf einer und derselben Seite kaputtlachen kann, um im nächsten Moment den Tränen nah zu sein, das sind die Sprache, das Gespür für Rhythmus, Szenen, Bilder und Proportion.« Peter Körte FAS 20190818