Ein Blick ins dunkle Herz der Hypermoderne
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In seinem zweiten Roman nach seinem gefeierten Debüt "Hool" erzählt Philipp Winkler die Geschichten von Fanni in Deutschland und Junya in Japan - beide suchen im Leben fremder Menschen, woran sie sonst verzweifeln: Kontrolle, Zugehörigkeit, Befreiung. Dabei überschreiten sie Grenzen, die für sie schon längst nicht mehr gelten.
"Creep" ist ein so berührender wie unerbittlicher Roman darüber, wie uns die Hypermoderne deformiert und wozu wir bereit sind, um der Dunkelheit - in uns - zu entkommen.
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»Schon in 'Hool' fiel auf, wie nah Winkler seinem Sujet kommt, wie genau er recherchiert, wie punktgenau er beschreibt. Diese Qualitäten zeichnen auch 'Creep' aus.« taz. Die Tageszeitung 20220122
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2022Hikikomori sind wir ja alle
Philipp Winklers Roman "Creep" über soziale Isolation
Die Krisenhaftigkeit der aktuellen Zeit ist nicht mehr auszublenden. Die Klimaerwärmung und ein Virus, das die Welt in eine Pandemie gestürzt hat, dominieren den öffentlichen Diskus. Dass in einer solchen Zeit dystopische Romane Hochkonjunktur haben, verwundert kaum. Die Verunsicherung der Gesellschaft schlägt sich selbstverständlich auch in der Literatur nieder. Angesagte dystopische Weltentwürfe sind dabei die totale Überwachung, wie in Dave Eggers "Every", oder Terror, Niedergang des politischen Systems und das Ende der westlichen Welt wie in Michel Houellebecqs "Vernichten".
Philipp Winklers zweiter Roman, "Creep", reiht sich in diese dystopischen Geschichten ein. Es wird eine Welt gezeichnet, in der die Installation von Kameras im eigenen Haus als Einbruchsschutz Normalität ist. Alle, die es sich leisten können, installieren sich ein Security-System und schotten sich von der Welt und ihren Problemen ab. Noch dystopischer als die Gesellschaft treten allerdings die beiden Hauptfiguren im Roman auf. Als Einzelgänger voller Neurosen und psychischer Probleme sind sie das Klischee eines von der Welt isolierten, sich nur noch mit Technik umgebenden und in der virtual reality lebenden Menschen. Der Roman erzählt in abwechselnden Kapiteln aus ihren Perspektiven.
Als Erstes treffen wir auf Fanni, sie lebt in einer deutschen Großstadt und ist angestellt bei der Firma Bell, die die Security-Indoor-Kamerasysteme herstellt und verkauft. Ihr Job ist es, die Algorithmen in der Auswertung von Videodaten zu trainieren, frame by frame. Tag für Tag schaut sie sich Überwachungsvideos an und beschreibt, was auf den Bildern zu sehen ist: "Car-1, Car-2, Car-3". Ihre Beschäftigung neben dieser Arbeit ist es, das Leben einer anderen Familie, der Naumanns, über deren Bell-Kameras zu beobachten. Mit ihnen isst Fanni gemeinsam Frühstück und Abendbrot: "Fanni und die Naumanns haben, seit sie den Chinakohl in die Tontöpfe gestopft haben, auf diesen Tag hingefiebert. Ihr erstes selbst fermentiertes Kimchi." Bei Sätzen wie diesen lässt sich fast vergessen, dass Fanni nicht Teil der Familie ist, sondern diese nur auf ihrem Monitor beobachtet.
Neben Fanni erzählt der Roman auch von Junya aus Tokio. Ebenso wie Fanni hat er sich von der Welt abgeschottet, allerdings noch eine Spur radikaler: Er verlässt sein Zimmer nicht, ist ein Hikikomori, also jemand, der sich freiwillig in seiner Wohnung isoliert. Junyas Ablehnung der Welt begründet sich durch seine Kindheit, in der er in der Schule gehänselt wurde, sogar die Lehrkräfte haben dabei mitgemacht. Es gibt nur einen Anlass, für den Junya die Wohnung seiner Mutter verlässt: wenn er nachts mit Perücke und Maske verkleidet auf Rachefeldzug geht, bei Lehrern einbricht und ihnen - stellvertretend für alle, die nicht zu ihm hielten, als er gehänselt wurde - mit Fäusten oder einem Hammer das Gesicht einschlägt. Diese Gewaltverbrechen filmt er mit einer Kamera und stellt die Videos ins Darkweb. Sein Pseudonym: Hammer_Priest.
Die Figuren von Fanni und Junya besitzen zwar eine Fülle an Eigenschaften und dadurch auch Komplexität, sind jedoch tiefenpsychologisch auserzählt. Jede inhumane Verhaltensweise wird von einem Schwenk in die Vergangenheit, einer Kindheitserinnerung erklärt, wie zum Beispiel bei Junya, der vor dem ersten Hammerschlag ins Gesicht eines schlafenden wildfremden Menschen eine Art Re-Traumatisierung im Schnelldurchlauf erlebt: "Wie jedes Mal vor dem Erheben des Hammers rasen Bilder durch seinen Kopf, so schnell, dass sie sich überlagern . . . Die starren Augen seines Vaters, der auf dem Wohnzimmerboden liegt. Die hassverzerrte Fratze seiner Mutter. Das wiehernde Gelächter all seiner Mitschüler aus elf Jahren Schule. Die Ablehnung in den Augen der Lehrer, wenn er eine Frage stellte."
Auch die Entwicklung beider Figuren, die die Handlung des Romans komplett ausfüllt, lässt wenig Interpretationsspielraum: Junyas Mutter stirbt (oder auch nicht, er möchte diese Realität lieber nicht erfahren), und sein Schutzraum ist damit zerstört. Er streift durch die Straßen Tokios, wird verprügelt und verdurstet fast, bis er auf eine Verbrecherbande stößt, die ihn rettet. Unter ihnen ist auch sein ehemaliger Mobber Masataka, der einen positiven persönlichen Wandel durchgemacht hat und Junya nun zeigt, was Freundschaft ist. Anfangs ist Junya noch paranoid: "Jeden Moment erwartet er, dass sie sich auf ihn stürzen und ihn zusammenschlagen. Oder ihn fesseln und das Treppenhaus hinunterwerfen. Irgendetwas, das ihm aufzeigt, wie naiv er doch war, mit Masataka mitzugehen."
Aber nichts davon passiert, sodass Junya es sogar mithilfe von zwei Freundinnen Masatakas schafft, seine Isolierung zu überwinden. Fannis Geschichte verläuft zwar nach einem ähnlichen Schema der positiven Entwicklung, hat aber gegen Ende einige gelungene überraschende Momente.
Die Sprache des Romans soll vermutlich den Tonfall beider Figuren treffen, so fällt beispielsweise auf, dass in Fannis Kapiteln mit einem Unterstrich in geschlechtergerechter Sprache geschrieben wird, bei Junya jedoch nicht. Allerdings stolpert man beim Lesen immer wieder über sprachliche Brüche wie beispielsweise Fannis Anglizismen, die teilweise unverständlich, teilweise umständlich formuliert sind: Glückliche, lachende Menschen wirken beispielsweise auf Fanni wie "zufriedenes Existieren, ohne den Aftertaste von Selbstverständlichkeit", und wenn sie es schafft, ohne Schlafmittel eine Nacht zu überstehen, hat sie "es ausgefightet". Daneben finden sich in Fannis Sprachgebrauch auch niedlich wirkende oder bildungssprachliche Ausdrücke, die zusätzlich irritieren, so etwa die Rede davon, dass sie eine "Bezeichnung schon immer quatschig" fand, oder dass etwas "natürlich bedeutend kathartischer gewesen" wäre. Zudem fallen bei beiden Figuren ungewöhnliche Metaphern auf: "Tobi lächelt wie Fallobst. Die Haut um seine Augen ist bräunlich gelb wie die eines verfaulenden Apfels."
Die Genreerwartungen an eine Dystopie kann Winklers "Creep" vielleicht einlösen, ein rundum gelungener Roman ist das Buch jedoch nicht. Dazu fallen die sprachlichen Brüche der Figuren, ihre klischeehaft-abgeschlossene Psyche und die leicht vorhersehbare Handlung zu sehr ins Gewicht. EMILIA KRÖGER
Philipp Winkler: "Creep". Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2022. 342 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Philipp Winklers Roman "Creep" über soziale Isolation
Die Krisenhaftigkeit der aktuellen Zeit ist nicht mehr auszublenden. Die Klimaerwärmung und ein Virus, das die Welt in eine Pandemie gestürzt hat, dominieren den öffentlichen Diskus. Dass in einer solchen Zeit dystopische Romane Hochkonjunktur haben, verwundert kaum. Die Verunsicherung der Gesellschaft schlägt sich selbstverständlich auch in der Literatur nieder. Angesagte dystopische Weltentwürfe sind dabei die totale Überwachung, wie in Dave Eggers "Every", oder Terror, Niedergang des politischen Systems und das Ende der westlichen Welt wie in Michel Houellebecqs "Vernichten".
Philipp Winklers zweiter Roman, "Creep", reiht sich in diese dystopischen Geschichten ein. Es wird eine Welt gezeichnet, in der die Installation von Kameras im eigenen Haus als Einbruchsschutz Normalität ist. Alle, die es sich leisten können, installieren sich ein Security-System und schotten sich von der Welt und ihren Problemen ab. Noch dystopischer als die Gesellschaft treten allerdings die beiden Hauptfiguren im Roman auf. Als Einzelgänger voller Neurosen und psychischer Probleme sind sie das Klischee eines von der Welt isolierten, sich nur noch mit Technik umgebenden und in der virtual reality lebenden Menschen. Der Roman erzählt in abwechselnden Kapiteln aus ihren Perspektiven.
Als Erstes treffen wir auf Fanni, sie lebt in einer deutschen Großstadt und ist angestellt bei der Firma Bell, die die Security-Indoor-Kamerasysteme herstellt und verkauft. Ihr Job ist es, die Algorithmen in der Auswertung von Videodaten zu trainieren, frame by frame. Tag für Tag schaut sie sich Überwachungsvideos an und beschreibt, was auf den Bildern zu sehen ist: "Car-1, Car-2, Car-3". Ihre Beschäftigung neben dieser Arbeit ist es, das Leben einer anderen Familie, der Naumanns, über deren Bell-Kameras zu beobachten. Mit ihnen isst Fanni gemeinsam Frühstück und Abendbrot: "Fanni und die Naumanns haben, seit sie den Chinakohl in die Tontöpfe gestopft haben, auf diesen Tag hingefiebert. Ihr erstes selbst fermentiertes Kimchi." Bei Sätzen wie diesen lässt sich fast vergessen, dass Fanni nicht Teil der Familie ist, sondern diese nur auf ihrem Monitor beobachtet.
Neben Fanni erzählt der Roman auch von Junya aus Tokio. Ebenso wie Fanni hat er sich von der Welt abgeschottet, allerdings noch eine Spur radikaler: Er verlässt sein Zimmer nicht, ist ein Hikikomori, also jemand, der sich freiwillig in seiner Wohnung isoliert. Junyas Ablehnung der Welt begründet sich durch seine Kindheit, in der er in der Schule gehänselt wurde, sogar die Lehrkräfte haben dabei mitgemacht. Es gibt nur einen Anlass, für den Junya die Wohnung seiner Mutter verlässt: wenn er nachts mit Perücke und Maske verkleidet auf Rachefeldzug geht, bei Lehrern einbricht und ihnen - stellvertretend für alle, die nicht zu ihm hielten, als er gehänselt wurde - mit Fäusten oder einem Hammer das Gesicht einschlägt. Diese Gewaltverbrechen filmt er mit einer Kamera und stellt die Videos ins Darkweb. Sein Pseudonym: Hammer_Priest.
Die Figuren von Fanni und Junya besitzen zwar eine Fülle an Eigenschaften und dadurch auch Komplexität, sind jedoch tiefenpsychologisch auserzählt. Jede inhumane Verhaltensweise wird von einem Schwenk in die Vergangenheit, einer Kindheitserinnerung erklärt, wie zum Beispiel bei Junya, der vor dem ersten Hammerschlag ins Gesicht eines schlafenden wildfremden Menschen eine Art Re-Traumatisierung im Schnelldurchlauf erlebt: "Wie jedes Mal vor dem Erheben des Hammers rasen Bilder durch seinen Kopf, so schnell, dass sie sich überlagern . . . Die starren Augen seines Vaters, der auf dem Wohnzimmerboden liegt. Die hassverzerrte Fratze seiner Mutter. Das wiehernde Gelächter all seiner Mitschüler aus elf Jahren Schule. Die Ablehnung in den Augen der Lehrer, wenn er eine Frage stellte."
Auch die Entwicklung beider Figuren, die die Handlung des Romans komplett ausfüllt, lässt wenig Interpretationsspielraum: Junyas Mutter stirbt (oder auch nicht, er möchte diese Realität lieber nicht erfahren), und sein Schutzraum ist damit zerstört. Er streift durch die Straßen Tokios, wird verprügelt und verdurstet fast, bis er auf eine Verbrecherbande stößt, die ihn rettet. Unter ihnen ist auch sein ehemaliger Mobber Masataka, der einen positiven persönlichen Wandel durchgemacht hat und Junya nun zeigt, was Freundschaft ist. Anfangs ist Junya noch paranoid: "Jeden Moment erwartet er, dass sie sich auf ihn stürzen und ihn zusammenschlagen. Oder ihn fesseln und das Treppenhaus hinunterwerfen. Irgendetwas, das ihm aufzeigt, wie naiv er doch war, mit Masataka mitzugehen."
Aber nichts davon passiert, sodass Junya es sogar mithilfe von zwei Freundinnen Masatakas schafft, seine Isolierung zu überwinden. Fannis Geschichte verläuft zwar nach einem ähnlichen Schema der positiven Entwicklung, hat aber gegen Ende einige gelungene überraschende Momente.
Die Sprache des Romans soll vermutlich den Tonfall beider Figuren treffen, so fällt beispielsweise auf, dass in Fannis Kapiteln mit einem Unterstrich in geschlechtergerechter Sprache geschrieben wird, bei Junya jedoch nicht. Allerdings stolpert man beim Lesen immer wieder über sprachliche Brüche wie beispielsweise Fannis Anglizismen, die teilweise unverständlich, teilweise umständlich formuliert sind: Glückliche, lachende Menschen wirken beispielsweise auf Fanni wie "zufriedenes Existieren, ohne den Aftertaste von Selbstverständlichkeit", und wenn sie es schafft, ohne Schlafmittel eine Nacht zu überstehen, hat sie "es ausgefightet". Daneben finden sich in Fannis Sprachgebrauch auch niedlich wirkende oder bildungssprachliche Ausdrücke, die zusätzlich irritieren, so etwa die Rede davon, dass sie eine "Bezeichnung schon immer quatschig" fand, oder dass etwas "natürlich bedeutend kathartischer gewesen" wäre. Zudem fallen bei beiden Figuren ungewöhnliche Metaphern auf: "Tobi lächelt wie Fallobst. Die Haut um seine Augen ist bräunlich gelb wie die eines verfaulenden Apfels."
Die Genreerwartungen an eine Dystopie kann Winklers "Creep" vielleicht einlösen, ein rundum gelungener Roman ist das Buch jedoch nicht. Dazu fallen die sprachlichen Brüche der Figuren, ihre klischeehaft-abgeschlossene Psyche und die leicht vorhersehbare Handlung zu sehr ins Gewicht. EMILIA KRÖGER
Philipp Winkler: "Creep". Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2022. 342 S., geb., 22,- Euro.
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