In der Türkei brodelt es, der Militärputsch vom 12. September 1980 wirft seine Schatten voraus. Wie jedes Jahr verbringen die Geschwister Faruk, Metin und Nilgün den Sommer im Haus ihrer Großmutter Fatma am Marmarameer. Ihr Haus wird zum Mikrokosmos, in dem ideologische Auseinandersetzungen, leidenschaftliche Liebe und die Geheimnisse der Vergangenheit unter einem Dach aufeinandertreffen. Nobelpreisträger Orhan Pamuk schildert in diesem frühen Roman eine verlorene Jugend, die nach ihrem Platz in der Welt sucht und ihn nicht findet. (Laufzeit: 9h 50)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2009Nur die Mauern hören zu
Das Kuddelmuddel als Quintessenz der Geschichte: In seinem frühen Roman "Das stille Haus" frönt Orhan Pamuk der Melancholie und hat Weltliteratur im Sinn.
Von Wolfgang Schneider
Es ist "an diesem Haus etwas Fürchterliches" - ein alter, efeuumrankter Kasten direkt am Marmarameer, mit verrotteten Fenstern und Holzwänden, von denen die Farbe geblättert ist. Sehr rüstig ist dagegen die neunzigjährige Fatma, die allein darin wohnt, mit ihrem Diener, dem Zwerg Recep. Die Geschichte beginnt, als im Sommer 1980 die drei Enkelkinder zu Besuch kommen: die zartbeinige Nilgün mit ihren sozialistischen Sympathien, der Abiturient Metin und der Historiker Faruk.
Ein armer Verwandter ist auch mit von der Partie: Hasan, "Sohn des Losverkäufers". In der Lotterie des Lebens bleibt ihm nur die Niete. Damit will er sich nicht abfinden und terrorisiert die Umgebung als randständiges Mitglied einer rechten Jugendbande. Er sorgt dafür, dass der Roman eine unselige Handlung bekommt. Politische Motive sind dabei nur vordergründig. In Wahrheit ist es ein Totschlag aus hoffnungsloser Liebe.
Orhan Pamuk hat seinen zweiten Roman, 1983 erschienen und ein wichtiger Schritt in der erstaunlichen Karriere des renommiertesten türkischen Gegenwartsautors, als großes Konzert der Stimmen angelegt. Der monadologische Monolog ist die Form des Buches. Von Kapitel zu Kapitel wechselt das erzählende Ich - lauter eingekapselte Seelen und gerade deshalb überfließend vor Mitteilungsdrang. Jede der genannten Figuren darf ihr unerlöstes Innenleben nach außen stülpen, außer der unnahbar-faszinierenden Nilgün, der die Rolle des Opfers bleibt.
Ein Autor, der ein Jahrhundert in den Griff bekommen will, erzählt am besten von Großeltern und Enkeln; die Zwischengeneration kann knapp abgehandelt werden. Genauso geschieht es hier. Die Darstellung der krisenhaften Gegenwart - der Militärputsch des 12. September 1980 steht nahe bevor - wird verbunden mit Rückblicken auf die Epoche der jungtürkischen Reformbewegung nach 1900 und den kemalistischen Aufbruch zu Beginn der zwanziger Jahre. Der politische Hintergrund wird allerdings nur knapp skizziert; an die Stelle der Zeitschilderung tritt die Allegorie: Die Tragikomödie des Modernisierungsdefizits wird verkörpert von Großvater Selahattin Darvinoglu, der etwas von einem türkischen Settembrini hat - Thomas Manns komisch beflissenem Aufklärer aus dem "Zauberberg", Verfechter des Fortschritts und der großen Gesundheit, den das unberechenbare Leben unter die Lungenkranken verschlagen hat. Settembrini laboriert an seiner prinzipiell unvollendbaren "Enzyklopädie der Leiden"; Selahattin will mit Hilfe eines gleichermaßen uferlosen enzyklopädischen Projekts den rückständigen Orient in die Moderne katapultieren.
Wie "Das Uhrenstellinstitut" von Ahmed Hamdi Tanpinar, einem weiteren Vorbild Pamuks, ist "Das stille Haus" auf der Selahattin-Linie eine satirische Darstellung des Fortschrittsprojekts der Türkei. Als Arzt scheitert Selahattin. Über den Unverstand der Menge gerät er in Rage, beschimpft seine Patienten, die nach altem Herkommen Wunden mit Tabak oder Kuhmist behandeln, und brüskiert ihr duldendes Gottvertrauen mit atheistischer Polemik. Bald bleibt die Praxis leer, und er kann sich ganz aufs Gelehrtendasein zurückziehen. Die Brillanten aus Fatmas Aussteuer müssen zu Geld gemacht werden, um die Familie zu ernähren. Auch sonst bleibt - wie bei Settembrini - vieles in Selahattins Existenz widersprüchlich: Von der moralinsauren Gattin aus dem Ehebett vertrieben, quartiert er im Gartenhaus eine Zweitfrau ein und zeugt mit ihr mehrere Kinder. Eines wutentbrannten Tages geht die fürchterliche Fatma hinüber und schlägt die kleinen "Bastarde" zu Krüppeln. Einer von ihnen ist Recep, ihr späterer, ganz ergebener Diener.
Es ist eine bittere Ironie, dass Selahattin nicht selbst im Familienroman zur Sprache kommen darf, sondern dass all seine aufklärerischen Reden eingelagert sind in die übelwollende Erinnerungssuada seiner Frau im Haus am Meer. Dafür gibt es zunächst eine natürliche Begründung: Er kann nicht für sich selbst sprechen, weil er seit vier Jahrzehnten tot ist. Wer so nachhaltig dem Raki verfällt, wird nicht neunzig Jahre alt. Und so wird alles, was wir über ihn erfahren, zur Karikatur verzerrt. Allerdings ist Großmutters Monolog psychologisch die größte Schwachstelle des Romans. Es erscheint außerordentlich unplausibel, dass die Alte in ihrem orthodox-osmanischen Moralismus den Katalog von Selahattins aufklärerischen Ideen auch nur in denunziatorischer Form wiedergeben können soll. Fatma lässt ihren gelehrten Gatten auf der inneren Bühne dozieren, als wäre seinerzeit das verstockte "Nein, ich höre dir nicht zu" nur vergiftete Ehe-Rhetorik gewesen. Als hätte sie in Wahrheit jeden seiner verabscheuten Sätzen geflissentlich protokolliert, als wäre keines seiner Argumente, vor denen sie doch immer die frommen Ohren zu verriegeln behauptete, ohne Echo geblieben. Es wäre ein Doppelspiel von potenzierter Bösartigkeit: die Ignorantin als ingeniöse Verschweigerin. Aber es ist wohl nur die unstimmige Konzeption einer Figur.
Überhaupt ist die Form des inneren Monologs, so sprachmächtig sich das Buch über weite Strecken liest und sosehr man die souveräne Komposition bewundert, nicht immer ganz sicher gehandhabt. Bisweilen ergeben sich Frequenzstörungen, etwa wenn Wahrnehmungen geschildert werden, die nur von der Warte eines objektiven Erzähler plausibel wären: "ich war ganz allein, und mit meiner vor Schreck erstickten Stimme rief ich wieder und wieder hinunter und schlug hilflos mit meinem Stock, aber niemand schien mich zu hören . . ." Aber auch wenn "Das stille Haus" kein ganz perfektes Meisterwerk ist - es liest sich spannender und faszinierender als Pamuks jüngster Roman "Das Museum der Unschuld", diese doch sehr längliche Liebesgeschichte.
Die Selahattin-Gestalt zeigt, welche Spannung zwischen Tradition und Moderne in der Türkei besteht und welche Leiden der Verspätung von den Intellektuellen auszuhalten sind. Für ihn bleibt nur Komödie der Wiederholung und das Elend der Epigonalität. Ein Leben lang fertigt er Exzerpte aus den Büchern des Westens an: "Die Kerle dort drüben haben schon alles entdeckt, und was Neues lässt sich nicht mehr sagen . . . Nichts Neues unter der Sonne! Sogar das ist nicht neu, Fatma, sondern stammt auch von denen."
Auch die meisten anderen Figuren des Romans kennen den Überdruss an den türkischen Zuständen und kranken selbst an der Lethargie, die alles erfasst zu haben scheint. Metin gibt sich mit seinen Kumpels adoleszenten Vergnügen hin. Nächtliche Autorennen und rasante Boote verbürgen den Rausch des Risikos und der Geschwindigkeit, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eigene Existenz stagniert. Metin träumt davon, in die Vereinigten Staaten auszuwandern, um dort als Physiker zu Ruhm zu kommen. Aber das Geld wird nur für Amerika reichen, wenn Großmutter das Haus am Meer verkauft - keine Chance.
Furchtbare Frauen und frustrierte Männer: Der Pessimismus dieses Romans ist erstaunlich. Die türkische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts wurde lange entweder von sozialrealistisch-marxistischen Tendenzen oder von patriotischem Optimismus dominiert - eine Poetik der Menschheitsbeglückung blieb so oder so verpflichtend. Der junge Orhan Pamuk dagegen frönt der Melancholie und hat Weltliteratur im Sinn. Der Historiker Faruk, in manchem sein Sprachrohr, ist durchdrungen von der großen Vergeblichkeit. Wie sein Großvater ist er dem Alkohol verfallen. Zwar verbringt er seine trübseligen Tage weiterhin in Archiven, aber die Theoriekrise seines Faches hat ihn voll erwischt. Er sammelt bloß noch Geschichten; vage träumt er von einem Buch über das Städtchen Gebze im sechzehnten Jahrhundert, das auf alle historischen Linien verzichten würde: "Fleischpreise, Streitereien unter Händlern, Entführungen von Mädchen, Aufstände, Kriege, Ehegeschichten und Verbrechen würden in dem Buch zusammenhanglos aneinandergereiht . . ." Das Kuddelmuddel als Quintessenz der Geschichte. Aber Faruks Hirn wird dieses Buch wohl nicht mehr hergeben: "Ich stellte mir meinen Kopf wie eine Walnuss vor, in der es vor Maden nur so wimmelt." Schreiben wird ein anderer, der einmal kurz durchs Bild läuft: Da ist in einem halben Satz von einem Jugendfreund namens Orhan die Rede; der arbeite "an einem Roman".
Orhan Pamuk: "Das stille Haus". Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2009. 368 S., geb., 24,90 [Euro].
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Das Kuddelmuddel als Quintessenz der Geschichte: In seinem frühen Roman "Das stille Haus" frönt Orhan Pamuk der Melancholie und hat Weltliteratur im Sinn.
Von Wolfgang Schneider
Es ist "an diesem Haus etwas Fürchterliches" - ein alter, efeuumrankter Kasten direkt am Marmarameer, mit verrotteten Fenstern und Holzwänden, von denen die Farbe geblättert ist. Sehr rüstig ist dagegen die neunzigjährige Fatma, die allein darin wohnt, mit ihrem Diener, dem Zwerg Recep. Die Geschichte beginnt, als im Sommer 1980 die drei Enkelkinder zu Besuch kommen: die zartbeinige Nilgün mit ihren sozialistischen Sympathien, der Abiturient Metin und der Historiker Faruk.
Ein armer Verwandter ist auch mit von der Partie: Hasan, "Sohn des Losverkäufers". In der Lotterie des Lebens bleibt ihm nur die Niete. Damit will er sich nicht abfinden und terrorisiert die Umgebung als randständiges Mitglied einer rechten Jugendbande. Er sorgt dafür, dass der Roman eine unselige Handlung bekommt. Politische Motive sind dabei nur vordergründig. In Wahrheit ist es ein Totschlag aus hoffnungsloser Liebe.
Orhan Pamuk hat seinen zweiten Roman, 1983 erschienen und ein wichtiger Schritt in der erstaunlichen Karriere des renommiertesten türkischen Gegenwartsautors, als großes Konzert der Stimmen angelegt. Der monadologische Monolog ist die Form des Buches. Von Kapitel zu Kapitel wechselt das erzählende Ich - lauter eingekapselte Seelen und gerade deshalb überfließend vor Mitteilungsdrang. Jede der genannten Figuren darf ihr unerlöstes Innenleben nach außen stülpen, außer der unnahbar-faszinierenden Nilgün, der die Rolle des Opfers bleibt.
Ein Autor, der ein Jahrhundert in den Griff bekommen will, erzählt am besten von Großeltern und Enkeln; die Zwischengeneration kann knapp abgehandelt werden. Genauso geschieht es hier. Die Darstellung der krisenhaften Gegenwart - der Militärputsch des 12. September 1980 steht nahe bevor - wird verbunden mit Rückblicken auf die Epoche der jungtürkischen Reformbewegung nach 1900 und den kemalistischen Aufbruch zu Beginn der zwanziger Jahre. Der politische Hintergrund wird allerdings nur knapp skizziert; an die Stelle der Zeitschilderung tritt die Allegorie: Die Tragikomödie des Modernisierungsdefizits wird verkörpert von Großvater Selahattin Darvinoglu, der etwas von einem türkischen Settembrini hat - Thomas Manns komisch beflissenem Aufklärer aus dem "Zauberberg", Verfechter des Fortschritts und der großen Gesundheit, den das unberechenbare Leben unter die Lungenkranken verschlagen hat. Settembrini laboriert an seiner prinzipiell unvollendbaren "Enzyklopädie der Leiden"; Selahattin will mit Hilfe eines gleichermaßen uferlosen enzyklopädischen Projekts den rückständigen Orient in die Moderne katapultieren.
Wie "Das Uhrenstellinstitut" von Ahmed Hamdi Tanpinar, einem weiteren Vorbild Pamuks, ist "Das stille Haus" auf der Selahattin-Linie eine satirische Darstellung des Fortschrittsprojekts der Türkei. Als Arzt scheitert Selahattin. Über den Unverstand der Menge gerät er in Rage, beschimpft seine Patienten, die nach altem Herkommen Wunden mit Tabak oder Kuhmist behandeln, und brüskiert ihr duldendes Gottvertrauen mit atheistischer Polemik. Bald bleibt die Praxis leer, und er kann sich ganz aufs Gelehrtendasein zurückziehen. Die Brillanten aus Fatmas Aussteuer müssen zu Geld gemacht werden, um die Familie zu ernähren. Auch sonst bleibt - wie bei Settembrini - vieles in Selahattins Existenz widersprüchlich: Von der moralinsauren Gattin aus dem Ehebett vertrieben, quartiert er im Gartenhaus eine Zweitfrau ein und zeugt mit ihr mehrere Kinder. Eines wutentbrannten Tages geht die fürchterliche Fatma hinüber und schlägt die kleinen "Bastarde" zu Krüppeln. Einer von ihnen ist Recep, ihr späterer, ganz ergebener Diener.
Es ist eine bittere Ironie, dass Selahattin nicht selbst im Familienroman zur Sprache kommen darf, sondern dass all seine aufklärerischen Reden eingelagert sind in die übelwollende Erinnerungssuada seiner Frau im Haus am Meer. Dafür gibt es zunächst eine natürliche Begründung: Er kann nicht für sich selbst sprechen, weil er seit vier Jahrzehnten tot ist. Wer so nachhaltig dem Raki verfällt, wird nicht neunzig Jahre alt. Und so wird alles, was wir über ihn erfahren, zur Karikatur verzerrt. Allerdings ist Großmutters Monolog psychologisch die größte Schwachstelle des Romans. Es erscheint außerordentlich unplausibel, dass die Alte in ihrem orthodox-osmanischen Moralismus den Katalog von Selahattins aufklärerischen Ideen auch nur in denunziatorischer Form wiedergeben können soll. Fatma lässt ihren gelehrten Gatten auf der inneren Bühne dozieren, als wäre seinerzeit das verstockte "Nein, ich höre dir nicht zu" nur vergiftete Ehe-Rhetorik gewesen. Als hätte sie in Wahrheit jeden seiner verabscheuten Sätzen geflissentlich protokolliert, als wäre keines seiner Argumente, vor denen sie doch immer die frommen Ohren zu verriegeln behauptete, ohne Echo geblieben. Es wäre ein Doppelspiel von potenzierter Bösartigkeit: die Ignorantin als ingeniöse Verschweigerin. Aber es ist wohl nur die unstimmige Konzeption einer Figur.
Überhaupt ist die Form des inneren Monologs, so sprachmächtig sich das Buch über weite Strecken liest und sosehr man die souveräne Komposition bewundert, nicht immer ganz sicher gehandhabt. Bisweilen ergeben sich Frequenzstörungen, etwa wenn Wahrnehmungen geschildert werden, die nur von der Warte eines objektiven Erzähler plausibel wären: "ich war ganz allein, und mit meiner vor Schreck erstickten Stimme rief ich wieder und wieder hinunter und schlug hilflos mit meinem Stock, aber niemand schien mich zu hören . . ." Aber auch wenn "Das stille Haus" kein ganz perfektes Meisterwerk ist - es liest sich spannender und faszinierender als Pamuks jüngster Roman "Das Museum der Unschuld", diese doch sehr längliche Liebesgeschichte.
Die Selahattin-Gestalt zeigt, welche Spannung zwischen Tradition und Moderne in der Türkei besteht und welche Leiden der Verspätung von den Intellektuellen auszuhalten sind. Für ihn bleibt nur Komödie der Wiederholung und das Elend der Epigonalität. Ein Leben lang fertigt er Exzerpte aus den Büchern des Westens an: "Die Kerle dort drüben haben schon alles entdeckt, und was Neues lässt sich nicht mehr sagen . . . Nichts Neues unter der Sonne! Sogar das ist nicht neu, Fatma, sondern stammt auch von denen."
Auch die meisten anderen Figuren des Romans kennen den Überdruss an den türkischen Zuständen und kranken selbst an der Lethargie, die alles erfasst zu haben scheint. Metin gibt sich mit seinen Kumpels adoleszenten Vergnügen hin. Nächtliche Autorennen und rasante Boote verbürgen den Rausch des Risikos und der Geschwindigkeit, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eigene Existenz stagniert. Metin träumt davon, in die Vereinigten Staaten auszuwandern, um dort als Physiker zu Ruhm zu kommen. Aber das Geld wird nur für Amerika reichen, wenn Großmutter das Haus am Meer verkauft - keine Chance.
Furchtbare Frauen und frustrierte Männer: Der Pessimismus dieses Romans ist erstaunlich. Die türkische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts wurde lange entweder von sozialrealistisch-marxistischen Tendenzen oder von patriotischem Optimismus dominiert - eine Poetik der Menschheitsbeglückung blieb so oder so verpflichtend. Der junge Orhan Pamuk dagegen frönt der Melancholie und hat Weltliteratur im Sinn. Der Historiker Faruk, in manchem sein Sprachrohr, ist durchdrungen von der großen Vergeblichkeit. Wie sein Großvater ist er dem Alkohol verfallen. Zwar verbringt er seine trübseligen Tage weiterhin in Archiven, aber die Theoriekrise seines Faches hat ihn voll erwischt. Er sammelt bloß noch Geschichten; vage träumt er von einem Buch über das Städtchen Gebze im sechzehnten Jahrhundert, das auf alle historischen Linien verzichten würde: "Fleischpreise, Streitereien unter Händlern, Entführungen von Mädchen, Aufstände, Kriege, Ehegeschichten und Verbrechen würden in dem Buch zusammenhanglos aneinandergereiht . . ." Das Kuddelmuddel als Quintessenz der Geschichte. Aber Faruks Hirn wird dieses Buch wohl nicht mehr hergeben: "Ich stellte mir meinen Kopf wie eine Walnuss vor, in der es vor Maden nur so wimmelt." Schreiben wird ein anderer, der einmal kurz durchs Bild läuft: Da ist in einem halben Satz von einem Jugendfreund namens Orhan die Rede; der arbeite "an einem Roman".
Orhan Pamuk: "Das stille Haus". Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2009. 368 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit "Das stille Haus" von Orhan Pamuk hat man keineswegs ein "Jugendwerk" sondern schon einen mit allen Vorzügen seiner späteren Bücher ausgestatteten Roman vor sich, versichert Christoph Bartmann. Hinter der Grabesstille des Hauses, in dem drei Geschwister mit ihrer Großmutter leben, verbirgt sich natürlich Verdrängtes, erklärt der Rezensent. Wenn er irgendetwas bekritteln würde - was er aber nachdrücklich nicht tut - dann, dass das "Verborgene" vielleicht ein bisschen zu vorhersehbar ans Licht gebracht wird. Es ist ein politischer Roman, die Protagonisten stehen sich als Nationalisten, Atheisten, Kommunisten oder "Idealisten" gegenüber, erklärt der Rezensent. Begeistert stellt er fest, dass der Autor in diesem Frühwerk an Knappheit, Schmucklosigkeit und Konzentration sogar seine späteren Romane übertrifft, und er scheint es durchaus zu begrüßen, dass Pamuk in der vergleichsweise unkomplizierten Konstruktion seine Vorliebe für postmoderne Konstruktionen etwas in Zaum hält. Genauso angenehm berührt es Bartmann, dass der Autor nicht Partei ergreift, sondern in seinem Roman lediglich deutlich macht, dass Ideologien "die Welt zwar verändern oder erklären mögen", sie aber niemals ganz erreichen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Nobelpreisträger Orhan Pamuk erzählt ergreifend die Geschichte einer Istanbuler Familie." Sophia Willems, Westdeutsche Zeitung, 03.09.09
"Eine erschreckende, keineswegs unrealistische Familiensaga, in der sich die Geschichte des Landes zu bündeln scheint." Sibylle Thelen, Stuttgarter Nachrichten, 02.09.09
"Ein kompositorisches Meisterwerk" Andreas Tobler, Berner Zeitung, 10.09.09
"In seinem frühen Roman 'Das stille Haus' frönt Orhan Pamuk der Melancholie und hat Weltliteratur im Sinn. (...) Furchtbare Frauen und frustrierte Männer: Der Pessimismus dieses Romans ist erstaunlich." Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.10.09
"Eine erschreckende, keineswegs unrealistische Familiensaga, in der sich die Geschichte des Landes zu bündeln scheint." Sibylle Thelen, Stuttgarter Nachrichten, 02.09.09
"Ein kompositorisches Meisterwerk" Andreas Tobler, Berner Zeitung, 10.09.09
"In seinem frühen Roman 'Das stille Haus' frönt Orhan Pamuk der Melancholie und hat Weltliteratur im Sinn. (...) Furchtbare Frauen und frustrierte Männer: Der Pessimismus dieses Romans ist erstaunlich." Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.10.09