Eine Frau wird von einer Fremden angesprochen, die behauptet, sie hätten beide denselben Vater. Die überraschende Begegnung bleibt flüchtig, löst in ihr aber eine Welle von Emotionen aus. Fragen drängen sich auf, über Ehe und Mutterschaft, über Adoption und andere Familiengeheimnisse, über Wahrheit überhaupt. In Das Vorkommnis erzählt Julia Schoch - eine der eindrücklichsten Stimmen autofiktionalen Erzählens in der deutschen Literatur - von einem Leben, das urplötzlich eine andere Richtung bekommt. Fesselnd und klarsichtig, so zieht sie hinein in den Strudel der ungeheuerlichen Dinge, die gleichzeitig auch alltäglich sind. Ein Roman von großer literarischer Tiefe und Schönheit, im Werk von Julia Schoch ein neuer Höhepunkt.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensentin Daniel Strigl wirkt etwas unentschlossen gegenüber Julia Schochs Roman, dem ersten Teil einer Trilogie; anfangs auch etwas skeptisch wegen des autofiktional klingenden Titels. Dann verfolgt sie aber doch interessiert die Geschichte, scheint es, die von einer Autorin und Mutter erzählt, deren Leben durch das Auftauchen einer Halbschwester aus den Fugen gerät. Wie Schoch davon erzählt, wie der Glauben der Icherzählerin an das Konzept Familie bröckelt und nach und nach zu einer regelrechten Ablehnung und Paranoia gegenüber ihrem Ehemann wird, scheint sie zumindest überzeugend zu finden, auch wenn sie Probleme mit der Umsetzung des Worts "Vorkommnis" hat - so wird sie den Eindruck einer "künstlich erzeugten Bedeutsamkeit" nicht recht los. Auch dass bei Schoch nichts unausgesprochen bleibt, gefällt ihr nicht besonders - immerhin das "Verwirrspiel" um Fiktion und Realität bleibe ungeklärt. Woraus die Folgebände ihre "Dynamik" ziehen werden, erwartet Strigl gespannt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2022Familie ist Fiktion
Und deshalb wird sie es auch so häufig: Das jüngste literarische Beispiel liefert Julia Schochs "Das Vorkommnis" als Auftakt zu einer Romantrilogie
Ziemlich genau in der Mitte des Buches, in Kapitel 35 von deren 72, stehen programmatische Sätze: "Das hier ist nicht die Geschichte meiner Familie. Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht. Da ist nur die Geschichte einer Verwirrung."
Die Leserin ist gut beraten, diese Behauptung ernst zu nehmen, auch wenn sie der aktuelle Boom "autofiktionaler" Lebensbeichten zu einer indiskreten Zuordnung verleiten mag. Denn "Das Vorkommnis" trägt zum einen den Untertitel "Biographie einer Frau" und zum anderen die Gattungsbezeichnung "Roman". Dass einiges vom hier Erzählten auf eigenes Erleben zurückgeht, wird man trotzdem annehmen dürfen. Immerhin ist die namenlose Icherzählerin Schriftstellerin von Beruf. "Das Vorkommnis", das in ihr Leben tritt und den Angelpunkt der Erzählung bildet, ereilt sie bei einer Lesung in einer norddeutschen Stadt. Eine Zuhörerin legt ihr danach ein Romanexemplar zum Signieren vor und sagt: "Wir haben übrigens denselben Vater." Worauf die Autorin der fremden Frau unter Tränen um den Hals fällt. Diese Reaktion ist ihr zunächst selbst rätselhaft, bald stellt sich jedoch heraus, dass das väterliche Geheimnis der vorehelichen Tochter schon längst kein Geheimnis mehr war. Es gab freilich keinerlei familiäre Beziehung zu ihr, die gezeugt wurde, als der Vater als Offizier bei der Nationalen Volksarmee der DDR diente.
Die späte Begegnung mit der lange unbekannten, dann gründlich verdrängten Halbschwester wird für die Icherzählerin zum Auslöser einer veritablen Lebenskrise, die dem doch eher unspektakulären Wort "Vorkommnis" ein gehöriges Bedeutungsgewicht auflädt. Die Leibhaftigkeit einer bisher nur vage vermuteten Parallelexistenz erschüttert die Fundamente des Familiengefüges und lässt alle Gewissheiten fragwürdig erscheinen. Die abhandengekommene Schwester hat ihren Vater nie kennengelernt und wurde von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben. Man könnte sagen, allein durch ihr Auf-der-Welt-Sein ist die Erzählerin schuldlos schuldig geworden. Inzwischen sind die Eltern geschieden, der Vater ist an Krebs erkrankt. Interessanterweise ist es aber nicht so sehr das Schicksal der weniger glücklichen Anverwandten, das sie beschäftigt, als das Täuschungsmanöver des Vaters. Sie muss erkennen: "Familie ist Fiktion."
Die Geschichte verfolgt die Protagonistin über den Ozean nach Bowling Green, Kentucky, wo sie an der Universität Literaturseminare hält. Bowling Green hat als Ursprungsort einer speziellen Residency-Prosa, in der eben gerade keine besonderen Vorkommnisse zu erwarten sind, im deutschen Sprachraum Spuren hinterlassen. Schochs Autorin logiert dort mit ihren beiden kleinen Kindern. Mit dem Glauben an die väterliche Zuverlässigkeit erodiert auch jener an die eigene Unentbehrlichkeit: "Wäre ich an diesem Abend nicht zurückgekehrt, hätte das Baby vielleicht nie etwas vermisst, nie einen Schmerz verspürt oder höchstens einen diffusen . . . Wie ein winziger, beständiger Fleck auf der Seele."
Den Wunsch, quasi aus dem eigenen Leben abzuhauen und sich der Mutterpflichten zu entledigen - wie Marlen Haushofer ihn bereits in den Fünfzigerjahren gestaltet hat -, gesteht sich die Erzählerin nicht ein, ihre Zerrüttung zeigt sich aber auch in der zwanghaften Suche nach Verknüpfungen: Die Wirklichkeit präsentiert sich als ein Geflecht von Verweisen, alles scheint mit allem zusammenzuhängen, bekanntlich ein Symptom psychotischer Störungen - aber auch der Berufskrankheit übermotivierter Biographen.
Als der Ehemann zu Besuch nach Bowling Green kommt, hat der Weltzweifel seiner Frau bereits auf das Modell Familie an sich übergegriffen: "Was für eine komische Erfindung. Wie von Geisterhand geführt, finden sich jeden Morgen und Abend in derselben Wohnung dieselben Menschen ein. Man trifft sich zu verschiedenen Mahlzeiten, jeder in seine Träume und Gedanken vertieft, morgens verschwinden alle in irgend einer Art von Anstalt oder Institution, abends tauscht man sich über die Erlebnisse des Tages aus und sucht seine zugewiesenen Schlafplätze auf, man sieht sich gelegentlich nackt, in den Ferien steigen alle in ein Auto . . . und reisen gemeinsam an einen vorher festgelegten Ort."
Was mit einer leichten Irritation begann, hat sich zu einer bizarren Befremdung ausgewachsen, die das Zusammenleben der jungen Familie nach und nach vergiftet. Weil der Vater einst durch eine Alimentequittung überführt wurde, begegnet nun die Tochter ihrem Ehemann mit unbegründetem, nichtsdestoweniger unstillbarem Argwohn: "Die Jacken- und Manteltaschen der Männer: das Materiallager für den Groll der Frauen. Die Schatzkammern ihrer geheimen Indiziensammlungen." Der wahrhaftige Mensch ist für sie nur noch einer, der ganz für sich ist, der Mensch ohne Zeugen.
Julia Schochs Erzählung bewegt sich hin und her zwischen den Zeitebenen, geht tastend zurück bis in die Jugend der Großeltern im Krieg. Das "Vorkommnis" bringt eine grundlegende Revision der Vergangenheit mit sich, bisweilen auch buchstäblich und konkret: Der Holzschnitt im Elternhaus zeigte nicht etwa Karl Marx, wie die Erzählerin immer geglaubt hatte, sondern Ernest Hemingway, für den ihre Mutter schwärmte. Die Tochter hält es offenkundig eher mit Rachel Cusk als mit Hemingway. Statt schnörkelloser Darstellung äußerer Ereignisse bietet die Erzählstimme viel Introspektion, Räsonnement und Grübelei, ein etwaiger Erkenntnisgewinn wird nicht dem Leser anheimgestellt, sondern ausformuliert, kaum etwas bleibt im Ungefähren. So ist es einerseits reizvoll, dem Schoch'schen Familienkomplex in all seine Verästelungen zu folgen, andererseits beschleicht einen das Gefühl einer irgendwie künstlich erzeugten Bedeutsamkeit, weil das titelgebende Vorkommnis sich, allen Bemühungen zum Trotz, nicht wirklich in seiner Wucht erschließt. Man darf gespannt sein, woher Teil zwei und drei der angekündigten Trilogie ihre Dynamik beziehen werden.
Offen bleibt am Ende immerhin das Verwirrspiel um Fakten und Fiktion: Die Protagonistin trifft eine Schulfreundin, die sie wegen des Todes "ihrer" Schwester in einem früheren Roman bemitleidet. "Aber das war doch nur Fiktion!", sagt die Erzählerin in einem Text, der seinerseits als Fiktion ausgewiesen ist. Und die Freundin quittiert das mit Kopfschütteln. DANIELA STRIGL
Julia Schoch: "Das Vorkommnis". Biographie einer Frau. Roman.
Dtv, München 2022. 192 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und deshalb wird sie es auch so häufig: Das jüngste literarische Beispiel liefert Julia Schochs "Das Vorkommnis" als Auftakt zu einer Romantrilogie
Ziemlich genau in der Mitte des Buches, in Kapitel 35 von deren 72, stehen programmatische Sätze: "Das hier ist nicht die Geschichte meiner Familie. Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht. Da ist nur die Geschichte einer Verwirrung."
Die Leserin ist gut beraten, diese Behauptung ernst zu nehmen, auch wenn sie der aktuelle Boom "autofiktionaler" Lebensbeichten zu einer indiskreten Zuordnung verleiten mag. Denn "Das Vorkommnis" trägt zum einen den Untertitel "Biographie einer Frau" und zum anderen die Gattungsbezeichnung "Roman". Dass einiges vom hier Erzählten auf eigenes Erleben zurückgeht, wird man trotzdem annehmen dürfen. Immerhin ist die namenlose Icherzählerin Schriftstellerin von Beruf. "Das Vorkommnis", das in ihr Leben tritt und den Angelpunkt der Erzählung bildet, ereilt sie bei einer Lesung in einer norddeutschen Stadt. Eine Zuhörerin legt ihr danach ein Romanexemplar zum Signieren vor und sagt: "Wir haben übrigens denselben Vater." Worauf die Autorin der fremden Frau unter Tränen um den Hals fällt. Diese Reaktion ist ihr zunächst selbst rätselhaft, bald stellt sich jedoch heraus, dass das väterliche Geheimnis der vorehelichen Tochter schon längst kein Geheimnis mehr war. Es gab freilich keinerlei familiäre Beziehung zu ihr, die gezeugt wurde, als der Vater als Offizier bei der Nationalen Volksarmee der DDR diente.
Die späte Begegnung mit der lange unbekannten, dann gründlich verdrängten Halbschwester wird für die Icherzählerin zum Auslöser einer veritablen Lebenskrise, die dem doch eher unspektakulären Wort "Vorkommnis" ein gehöriges Bedeutungsgewicht auflädt. Die Leibhaftigkeit einer bisher nur vage vermuteten Parallelexistenz erschüttert die Fundamente des Familiengefüges und lässt alle Gewissheiten fragwürdig erscheinen. Die abhandengekommene Schwester hat ihren Vater nie kennengelernt und wurde von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben. Man könnte sagen, allein durch ihr Auf-der-Welt-Sein ist die Erzählerin schuldlos schuldig geworden. Inzwischen sind die Eltern geschieden, der Vater ist an Krebs erkrankt. Interessanterweise ist es aber nicht so sehr das Schicksal der weniger glücklichen Anverwandten, das sie beschäftigt, als das Täuschungsmanöver des Vaters. Sie muss erkennen: "Familie ist Fiktion."
Die Geschichte verfolgt die Protagonistin über den Ozean nach Bowling Green, Kentucky, wo sie an der Universität Literaturseminare hält. Bowling Green hat als Ursprungsort einer speziellen Residency-Prosa, in der eben gerade keine besonderen Vorkommnisse zu erwarten sind, im deutschen Sprachraum Spuren hinterlassen. Schochs Autorin logiert dort mit ihren beiden kleinen Kindern. Mit dem Glauben an die väterliche Zuverlässigkeit erodiert auch jener an die eigene Unentbehrlichkeit: "Wäre ich an diesem Abend nicht zurückgekehrt, hätte das Baby vielleicht nie etwas vermisst, nie einen Schmerz verspürt oder höchstens einen diffusen . . . Wie ein winziger, beständiger Fleck auf der Seele."
Den Wunsch, quasi aus dem eigenen Leben abzuhauen und sich der Mutterpflichten zu entledigen - wie Marlen Haushofer ihn bereits in den Fünfzigerjahren gestaltet hat -, gesteht sich die Erzählerin nicht ein, ihre Zerrüttung zeigt sich aber auch in der zwanghaften Suche nach Verknüpfungen: Die Wirklichkeit präsentiert sich als ein Geflecht von Verweisen, alles scheint mit allem zusammenzuhängen, bekanntlich ein Symptom psychotischer Störungen - aber auch der Berufskrankheit übermotivierter Biographen.
Als der Ehemann zu Besuch nach Bowling Green kommt, hat der Weltzweifel seiner Frau bereits auf das Modell Familie an sich übergegriffen: "Was für eine komische Erfindung. Wie von Geisterhand geführt, finden sich jeden Morgen und Abend in derselben Wohnung dieselben Menschen ein. Man trifft sich zu verschiedenen Mahlzeiten, jeder in seine Träume und Gedanken vertieft, morgens verschwinden alle in irgend einer Art von Anstalt oder Institution, abends tauscht man sich über die Erlebnisse des Tages aus und sucht seine zugewiesenen Schlafplätze auf, man sieht sich gelegentlich nackt, in den Ferien steigen alle in ein Auto . . . und reisen gemeinsam an einen vorher festgelegten Ort."
Was mit einer leichten Irritation begann, hat sich zu einer bizarren Befremdung ausgewachsen, die das Zusammenleben der jungen Familie nach und nach vergiftet. Weil der Vater einst durch eine Alimentequittung überführt wurde, begegnet nun die Tochter ihrem Ehemann mit unbegründetem, nichtsdestoweniger unstillbarem Argwohn: "Die Jacken- und Manteltaschen der Männer: das Materiallager für den Groll der Frauen. Die Schatzkammern ihrer geheimen Indiziensammlungen." Der wahrhaftige Mensch ist für sie nur noch einer, der ganz für sich ist, der Mensch ohne Zeugen.
Julia Schochs Erzählung bewegt sich hin und her zwischen den Zeitebenen, geht tastend zurück bis in die Jugend der Großeltern im Krieg. Das "Vorkommnis" bringt eine grundlegende Revision der Vergangenheit mit sich, bisweilen auch buchstäblich und konkret: Der Holzschnitt im Elternhaus zeigte nicht etwa Karl Marx, wie die Erzählerin immer geglaubt hatte, sondern Ernest Hemingway, für den ihre Mutter schwärmte. Die Tochter hält es offenkundig eher mit Rachel Cusk als mit Hemingway. Statt schnörkelloser Darstellung äußerer Ereignisse bietet die Erzählstimme viel Introspektion, Räsonnement und Grübelei, ein etwaiger Erkenntnisgewinn wird nicht dem Leser anheimgestellt, sondern ausformuliert, kaum etwas bleibt im Ungefähren. So ist es einerseits reizvoll, dem Schoch'schen Familienkomplex in all seine Verästelungen zu folgen, andererseits beschleicht einen das Gefühl einer irgendwie künstlich erzeugten Bedeutsamkeit, weil das titelgebende Vorkommnis sich, allen Bemühungen zum Trotz, nicht wirklich in seiner Wucht erschließt. Man darf gespannt sein, woher Teil zwei und drei der angekündigten Trilogie ihre Dynamik beziehen werden.
Offen bleibt am Ende immerhin das Verwirrspiel um Fakten und Fiktion: Die Protagonistin trifft eine Schulfreundin, die sie wegen des Todes "ihrer" Schwester in einem früheren Roman bemitleidet. "Aber das war doch nur Fiktion!", sagt die Erzählerin in einem Text, der seinerseits als Fiktion ausgewiesen ist. Und die Freundin quittiert das mit Kopfschütteln. DANIELA STRIGL
Julia Schoch: "Das Vorkommnis". Biographie einer Frau. Roman.
Dtv, München 2022. 192 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die ungeheure Dichte der Korrespondenzen zwischen allen Ebenen des Romans erzeugt ein so reiches 3-DPuzzle, dass man am Abglanz des Lebens darin seine Freude hat, auch wenn es ein entgleisendes Leben ist. Julia Schoch hat einen neuen Weg eingeschlagen. Wir folgen gespannt. Hubert Winkels Süddeutsche Zeitung 20220331