Eine Frau wird von einer Fremden angesprochen, die behauptet, sie hätten beide denselben Vater. Die überraschende Begegnung bleibt flüchtig, löst in ihr aber eine Welle von Emotionen aus. Fragen drängen sich auf, über Ehe und Mutterschaft, über Adoption und andere Familiengeheimnisse, über Wahrheit überhaupt. In Das Vorkommnis erzählt Julia Schoch - eine der eindrücklichsten Stimmen autofiktionalen Erzählens in der deutschen Literatur - von einem Leben, das urplötzlich eine andere Richtung bekommt. Fesselnd und klarsichtig, so zieht sie hinein in den Strudel der ungeheuerlichen Dinge, die gleichzeitig auch alltäglich sind. Ein Roman von großer literarischer Tiefe und Schönheit, im Werk von Julia Schoch ein neuer Höhepunkt.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensentin Daniel Strigl wirkt etwas unentschlossen gegenüber Julia Schochs Roman, dem ersten Teil einer Trilogie; anfangs auch etwas skeptisch wegen des autofiktional klingenden Titels. Dann verfolgt sie aber doch interessiert die Geschichte, scheint es, die von einer Autorin und Mutter erzählt, deren Leben durch das Auftauchen einer Halbschwester aus den Fugen gerät. Wie Schoch davon erzählt, wie der Glauben der Icherzählerin an das Konzept Familie bröckelt und nach und nach zu einer regelrechten Ablehnung und Paranoia gegenüber ihrem Ehemann wird, scheint sie zumindest überzeugend zu finden, auch wenn sie Probleme mit der Umsetzung des Worts "Vorkommnis" hat - so wird sie den Eindruck einer "künstlich erzeugten Bedeutsamkeit" nicht recht los. Auch dass bei Schoch nichts unausgesprochen bleibt, gefällt ihr nicht besonders - immerhin das "Verwirrspiel" um Fiktion und Realität bleibe ungeklärt. Woraus die Folgebände ihre "Dynamik" ziehen werden, erwartet Strigl gespannt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.04.2022Wir haben übrigens denselben Vater
Ein Familienroman aus der Hölle, ist das nicht der literarische Normalfall? Julia Schoch schlägt mit
ihrem Buch über Lügen und verschwiegene Verwandte neue Wege ein
VON HUBERT WINKELS
Es ist kein einladender Titel. Er wirkt spröde und neutral. Der Ausdruck „Das Vorkommnis“ ähnelt in Grammatik und Form einigen jüngeren Romantiteln wie „Das Ereignis“ oder „Widerfahrnis“. Das Unabdingbare, das damit gesagt ist, verweist auf das Drama und seine griechischen Wurzeln. Die antiken Tragödien behandeln das Verhängnis. Die Menschen mühen sich, dem Geschehen ihre Richtung zu geben, und erfüllen dabei nolens volens den Auftrag der Götter. Der „Ödipus“ des Sophokles ist hier einschlägig und auch für uns nicht außer Geltung dank Freuds musterhafter Aktualisierung, man könnte auch sagen: Bewahrnis.
Bleiben wir einen Moment beim Einstieg. Dem Roman steht ein Motto voran. Es ist ein kurzer englischsprachiger Dialog, und er stammt aus einem älteren Kinofilm, „Flesh and Bone“. Kay, die junge Frau, gespielt von Meg Ryan, sagt zu Arlis, gespielt von Dennis Quaid: „What’s that on your pocket?“ Seine Antwort: „That’s nothing. It’s just a little blood.“ Was hast du da an deiner Tasche? Nichts, nur ein bisschen Blut. Es sind die letzten Sätze des Films. Arlis fährt in seinem Pick-up davon. Kurz zuvor hat er seinen Vater erschossen. Genau in dem Haus, in dem der Vater zwanzig Jahre vorher aus Habgier Kays Familie ausgelöscht hat. Der Film erzählt davon, wie Arlis die Erinnerung einholt.
Die Medien dieser Erinnerung sind dieselben wie in „Das Vorkommnis“: Zettel, Geschichten, alte Fotos. Sie öffnen einen Raum hinter den vorgeblich einfachen Verhältnissen. Nichts stimmt mehr, nichts ist, was es zu sein scheint. Es ist ein schrecklicher Raum, bewegt von den Gespenstern einer ungreifbaren Vergangenheit. Sie sind das Familiengeheimnis, das Trauma am Grund der sozialen Gemeinschaft, oder trivialer: die Leiche im Keller, die fast allen Erzählungen von Familien zugrunde liegt.
„Flesh and Bone“ tendiert zum Horrorfilm, „Das Vorkommnis“ zunächst zum zeithistorisch eingebetteten Familiendrama, obwohl es sich schleichend zum Familienhorror entwickelt, immer in der Perspektive der Ich-Erzählung einer jungen Mutter, die schließlich mehrfach vom „Haus der Finsternis“ spricht. „Wir wissen nicht, was in dem Haus der Finsternis geschieht, solange wir nicht selbst darin wohnen. In den Häusern der Finsternis.“
So düster das ist, so vertraut klingt es auch. Ein Familienroman aus der Hölle, das ist, literarisch und psychoanalytisch gesehen, der Normalfall. Was macht Julia Schoch mit ihrem Buch anders, was ist das Besondere an „Das Vorkommnis“? Sie deckt den Kern des Dramas schon in den ersten Sätzen auf, zeigt statt des Fehlens das Überzählige, statt der Lücke das Zuviel, statt der Leiche die wiedergefundene Verwandte, die „wildfremde Frau“ genannt. Die Umkehrung des gängigen analytischen Dramas ins synthetische: Der Roman handelt von der unabsehbaren Wirkung dieser fatalen Frau.
Sie taucht nach einer Lesung der dies alles erzählenden Schriftstellerin auf und spricht den endlos nachhallenden Satz: „Wir haben übrigens denselben Vater.“ Aus diesen fünf Wörtern entwickelt sich der ganze Roman, inhaltlich und in der Erzählstruktur. Schon die folgenden beiden Absätze markieren mit dem jeweiligen Einstieg die folgenreiche Differenz, die den Roman tragen wird: „In meiner Erinnerung bricht mir bei diesem Satz der Füller aus.“ Hier entgleist die Feder, zieht eine „Linie des Schocks. Als wäre ich bei der Unterschrift von einer Kugel getroffen worden“. Und der folgende Absatz beginnt im Gegenzug mit: „In Wirklichkeit…sprang ich sofort auf und fiel der wildfremden Frau um den Hals.“
Die Erinnerung stünde also der Wirklichkeit entgegen. Jahrelang versucht die Schriftstellerin, diesen Riss in ihrer Vorstellung zu verstehen. Was bedeutet das Auftauchen einer Halbschwester für sie selbst, für ihre Schwester, ihre Eltern, Kinder, ihren Mann? Wie infiziert die eine Lüge nicht nur weitere Lügen, sondern alles Weitere überhaupt, in der Familie, im Umfeld, in der Stadt, im Land, eine alles durchdringende Lüge urbi et orbi sozusagen.
Ja, nicht einmal die Tatsache der initialen Lüge kann festgehalten werden, wenn der feste Boden einmal ins Rutschen gerät. Über Andeutungen, Fotos und Erzählungen zeigt sich bald ein früherer ähnlicher Riss: Der Großvater mütterlicherseits war als junger gut aussehender Mann zu Beginn des zweiten Weltkriegs in Frankreich stationiert und hatte eine Französin kennengelernt. Pierre heißt der aus der Verbindung entstandene Sohn, den er niemals gesehen hat. Er und seine Mutter Mathilde tragen als Einzige Namen im Roman. Die anderen werden mit ihrer familiengenealogischen Position genannt, heißen etwa die erste Schwester oder die zweite Schwester. Es gibt eine philosophisch-mathematische Begründung dafür: „Jede Familie lässt sich einer geometrischen Form zuordnen. Manche gleichen ihrem Wesen nach einem Dreieck, andere eher einem Kreis, einem Vieleck oder einem Stern. Es gibt übersichtliche Formen wie zwei eng aneinandergeschmiegte Punkte, beschützende, seltsam verquere und solche, die für die Mitglieder ein Gefängnis darstellen.“
Bald nach der verwirrenden Lesung reist die Autorin mit ihrer Mutter und den zwei kleinen Kindern nach Bowling Green in die USA, bekannt für seine internationalen Literaturkurse. Sie hält Seminare über den sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit in den Jahren nach der hier „Revolution“ genannten Wende, die Positionen schon eingekapselt in zwei unvermittelbaren historisch-narrativen Einbildungen. Ein Spiegelbild auch des familiären Wirklichkeitsverlusts. Der größte Teil der Romanhandlung spielt auf dem Campus. Je genauer das konkrete Geschehen dort geschildert wird, umso stärker legt es Zeugnis ab von einer tiefen Befremdung der Erzählerin. Die andauernde Frage nach der neuen Schwester dringt in die Fugen aller Beziehungen. Nichts ist mehr mit sich selbst identisch. Selbst die kleine Tochter in der Uni-Kita wird verdächtigt, ihr Spielen nur zu spielen; und das mitgereiste Baby kommt in der Erinnerung der Mutter gar skeptisch gegenüber der Gebärenden zur Welt. Das ist der tiefste Punkt der Erzählung: der Ursprung der Welt als psychologischer Verdachtsfall.
Der von der neuen Verwandten verwandelte Blick der jungen Mutter erkennt immer mehr verborgene Zusammenhänge zwischen den symbolischen Formen der realen Welt. Es gehört zu den faszinierendsten Passagen des Romans, wie der konkrete Derealisierungseffekt der ursprünglichen Begegnung mit der neuen Schwester jedes Puzzleteil des Erzählens infiltriert. Paranoia wäre ein klinischer Begriff für diese unkontrollierbare Produktivkraft. „Süd und Nord. Ost und West. Solche Achsen, Spiegelungen und zufälligen Umstände bildeten in meiner Wahrnehmung mit einem Mal ein magisches Gewebe. Meine Vorlieben und Abneigungen, alle meine bisherigen Spuren auf diesem Planeten fügten sich zu einem logischen Puzzle.“
Die letzten Zeilen des Romans knüpfen an seine widersprüchlichen ersten an. Sie beziehen sich nun direkt auf die Potsdamer Autorin Julia Schoch, die in ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ vor etlichen Jahren ein melancholisches Porträt ihrer von der vorpommerschen Ödnis erschöpften Schwester gezeichnet hat, die sich schließlich bei einem USA-Besuch umbringt. Die Autorin begegnet nun am Ende von „Das Vorkommnis“ einer Bekannten aus der Schulzeit. Diese sagt etwas über die „Geschwindigkeit des Sommers“, „betrübt, mitfühlend. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es mit dem Tod der Schwester zusammenhing … Aber das war doch nur Fiktion, rief ich. Rief ich es wirklich?“ Eine „frühere“ Schwester ist also tot. Ein Roman hat sie getötet. Der Ausgangspunkt des neuen Buchs ist eine wieder aufgetauchte Schwester. Es sind auch diese Spiegelbildlichkeiten von Anfang und Ende der Geschichte, von früherem und neuem Roman, die gesetzmäßig wirken – nach dem höheren Recht der literarischen Götter: dem Verhängnis.
Tatsächlich ist „Das Vorkommnis“ als erster Teil einer Trilogie mit dem Titel „Biographie einer Frau“ geplant. Es ist nicht leicht vorstellbar, wie ein Roman mit einer so besonderen erzähldramaturgischen Aufladung fortgesetzt werden wird. Julia Schoch hat sich hier ein gutes Stück von ihrem Thema, der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte, entfernt, auch wenn man im „Vorkommnis“ gelegentlich eine Parabel auf die Zeitgeschichte zu lesen glaubt. Doch die ungeheure Dichte der Korrespondenzen zwischen allen Ebenen des Romans erzeugt ein so reiches 3-D-Puzzle, dass man am Abglanz des Lebens darin seine Freude hat, auch wenn es ein entgleisendes Leben ist. Julia Schoch hat einen neuen Weg eingeschlagen. Wir folgen gespannt.
Verstecken sich hinter der einen
noch mehr Lügen, die das ganze
Leben rückblickend ändern?
Je genauer der Alltag geschildert
wird, desto mehr zerfällt die
Wirklichkeit der Erzählerin
Das Buch ist als erster Teil einer
Trilogie mit dem Titel
„Biographie einer Frau“ geplant
Julia Schoch:
Das Vorkommnis.
Roman.
dtv, München 2022.
192 Seiten, 20 Euro.
Alles in Ordnung? Hinter den Gardinen der scheinbar einfachen Verhältnisse wohnen die Dämonen. Julia Schoch stellt ihnen in ihrem autofiktionalen Erzählen nach.
Foto: imago stock&people
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Familienroman aus der Hölle, ist das nicht der literarische Normalfall? Julia Schoch schlägt mit
ihrem Buch über Lügen und verschwiegene Verwandte neue Wege ein
VON HUBERT WINKELS
Es ist kein einladender Titel. Er wirkt spröde und neutral. Der Ausdruck „Das Vorkommnis“ ähnelt in Grammatik und Form einigen jüngeren Romantiteln wie „Das Ereignis“ oder „Widerfahrnis“. Das Unabdingbare, das damit gesagt ist, verweist auf das Drama und seine griechischen Wurzeln. Die antiken Tragödien behandeln das Verhängnis. Die Menschen mühen sich, dem Geschehen ihre Richtung zu geben, und erfüllen dabei nolens volens den Auftrag der Götter. Der „Ödipus“ des Sophokles ist hier einschlägig und auch für uns nicht außer Geltung dank Freuds musterhafter Aktualisierung, man könnte auch sagen: Bewahrnis.
Bleiben wir einen Moment beim Einstieg. Dem Roman steht ein Motto voran. Es ist ein kurzer englischsprachiger Dialog, und er stammt aus einem älteren Kinofilm, „Flesh and Bone“. Kay, die junge Frau, gespielt von Meg Ryan, sagt zu Arlis, gespielt von Dennis Quaid: „What’s that on your pocket?“ Seine Antwort: „That’s nothing. It’s just a little blood.“ Was hast du da an deiner Tasche? Nichts, nur ein bisschen Blut. Es sind die letzten Sätze des Films. Arlis fährt in seinem Pick-up davon. Kurz zuvor hat er seinen Vater erschossen. Genau in dem Haus, in dem der Vater zwanzig Jahre vorher aus Habgier Kays Familie ausgelöscht hat. Der Film erzählt davon, wie Arlis die Erinnerung einholt.
Die Medien dieser Erinnerung sind dieselben wie in „Das Vorkommnis“: Zettel, Geschichten, alte Fotos. Sie öffnen einen Raum hinter den vorgeblich einfachen Verhältnissen. Nichts stimmt mehr, nichts ist, was es zu sein scheint. Es ist ein schrecklicher Raum, bewegt von den Gespenstern einer ungreifbaren Vergangenheit. Sie sind das Familiengeheimnis, das Trauma am Grund der sozialen Gemeinschaft, oder trivialer: die Leiche im Keller, die fast allen Erzählungen von Familien zugrunde liegt.
„Flesh and Bone“ tendiert zum Horrorfilm, „Das Vorkommnis“ zunächst zum zeithistorisch eingebetteten Familiendrama, obwohl es sich schleichend zum Familienhorror entwickelt, immer in der Perspektive der Ich-Erzählung einer jungen Mutter, die schließlich mehrfach vom „Haus der Finsternis“ spricht. „Wir wissen nicht, was in dem Haus der Finsternis geschieht, solange wir nicht selbst darin wohnen. In den Häusern der Finsternis.“
So düster das ist, so vertraut klingt es auch. Ein Familienroman aus der Hölle, das ist, literarisch und psychoanalytisch gesehen, der Normalfall. Was macht Julia Schoch mit ihrem Buch anders, was ist das Besondere an „Das Vorkommnis“? Sie deckt den Kern des Dramas schon in den ersten Sätzen auf, zeigt statt des Fehlens das Überzählige, statt der Lücke das Zuviel, statt der Leiche die wiedergefundene Verwandte, die „wildfremde Frau“ genannt. Die Umkehrung des gängigen analytischen Dramas ins synthetische: Der Roman handelt von der unabsehbaren Wirkung dieser fatalen Frau.
Sie taucht nach einer Lesung der dies alles erzählenden Schriftstellerin auf und spricht den endlos nachhallenden Satz: „Wir haben übrigens denselben Vater.“ Aus diesen fünf Wörtern entwickelt sich der ganze Roman, inhaltlich und in der Erzählstruktur. Schon die folgenden beiden Absätze markieren mit dem jeweiligen Einstieg die folgenreiche Differenz, die den Roman tragen wird: „In meiner Erinnerung bricht mir bei diesem Satz der Füller aus.“ Hier entgleist die Feder, zieht eine „Linie des Schocks. Als wäre ich bei der Unterschrift von einer Kugel getroffen worden“. Und der folgende Absatz beginnt im Gegenzug mit: „In Wirklichkeit…sprang ich sofort auf und fiel der wildfremden Frau um den Hals.“
Die Erinnerung stünde also der Wirklichkeit entgegen. Jahrelang versucht die Schriftstellerin, diesen Riss in ihrer Vorstellung zu verstehen. Was bedeutet das Auftauchen einer Halbschwester für sie selbst, für ihre Schwester, ihre Eltern, Kinder, ihren Mann? Wie infiziert die eine Lüge nicht nur weitere Lügen, sondern alles Weitere überhaupt, in der Familie, im Umfeld, in der Stadt, im Land, eine alles durchdringende Lüge urbi et orbi sozusagen.
Ja, nicht einmal die Tatsache der initialen Lüge kann festgehalten werden, wenn der feste Boden einmal ins Rutschen gerät. Über Andeutungen, Fotos und Erzählungen zeigt sich bald ein früherer ähnlicher Riss: Der Großvater mütterlicherseits war als junger gut aussehender Mann zu Beginn des zweiten Weltkriegs in Frankreich stationiert und hatte eine Französin kennengelernt. Pierre heißt der aus der Verbindung entstandene Sohn, den er niemals gesehen hat. Er und seine Mutter Mathilde tragen als Einzige Namen im Roman. Die anderen werden mit ihrer familiengenealogischen Position genannt, heißen etwa die erste Schwester oder die zweite Schwester. Es gibt eine philosophisch-mathematische Begründung dafür: „Jede Familie lässt sich einer geometrischen Form zuordnen. Manche gleichen ihrem Wesen nach einem Dreieck, andere eher einem Kreis, einem Vieleck oder einem Stern. Es gibt übersichtliche Formen wie zwei eng aneinandergeschmiegte Punkte, beschützende, seltsam verquere und solche, die für die Mitglieder ein Gefängnis darstellen.“
Bald nach der verwirrenden Lesung reist die Autorin mit ihrer Mutter und den zwei kleinen Kindern nach Bowling Green in die USA, bekannt für seine internationalen Literaturkurse. Sie hält Seminare über den sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit in den Jahren nach der hier „Revolution“ genannten Wende, die Positionen schon eingekapselt in zwei unvermittelbaren historisch-narrativen Einbildungen. Ein Spiegelbild auch des familiären Wirklichkeitsverlusts. Der größte Teil der Romanhandlung spielt auf dem Campus. Je genauer das konkrete Geschehen dort geschildert wird, umso stärker legt es Zeugnis ab von einer tiefen Befremdung der Erzählerin. Die andauernde Frage nach der neuen Schwester dringt in die Fugen aller Beziehungen. Nichts ist mehr mit sich selbst identisch. Selbst die kleine Tochter in der Uni-Kita wird verdächtigt, ihr Spielen nur zu spielen; und das mitgereiste Baby kommt in der Erinnerung der Mutter gar skeptisch gegenüber der Gebärenden zur Welt. Das ist der tiefste Punkt der Erzählung: der Ursprung der Welt als psychologischer Verdachtsfall.
Der von der neuen Verwandten verwandelte Blick der jungen Mutter erkennt immer mehr verborgene Zusammenhänge zwischen den symbolischen Formen der realen Welt. Es gehört zu den faszinierendsten Passagen des Romans, wie der konkrete Derealisierungseffekt der ursprünglichen Begegnung mit der neuen Schwester jedes Puzzleteil des Erzählens infiltriert. Paranoia wäre ein klinischer Begriff für diese unkontrollierbare Produktivkraft. „Süd und Nord. Ost und West. Solche Achsen, Spiegelungen und zufälligen Umstände bildeten in meiner Wahrnehmung mit einem Mal ein magisches Gewebe. Meine Vorlieben und Abneigungen, alle meine bisherigen Spuren auf diesem Planeten fügten sich zu einem logischen Puzzle.“
Die letzten Zeilen des Romans knüpfen an seine widersprüchlichen ersten an. Sie beziehen sich nun direkt auf die Potsdamer Autorin Julia Schoch, die in ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ vor etlichen Jahren ein melancholisches Porträt ihrer von der vorpommerschen Ödnis erschöpften Schwester gezeichnet hat, die sich schließlich bei einem USA-Besuch umbringt. Die Autorin begegnet nun am Ende von „Das Vorkommnis“ einer Bekannten aus der Schulzeit. Diese sagt etwas über die „Geschwindigkeit des Sommers“, „betrübt, mitfühlend. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es mit dem Tod der Schwester zusammenhing … Aber das war doch nur Fiktion, rief ich. Rief ich es wirklich?“ Eine „frühere“ Schwester ist also tot. Ein Roman hat sie getötet. Der Ausgangspunkt des neuen Buchs ist eine wieder aufgetauchte Schwester. Es sind auch diese Spiegelbildlichkeiten von Anfang und Ende der Geschichte, von früherem und neuem Roman, die gesetzmäßig wirken – nach dem höheren Recht der literarischen Götter: dem Verhängnis.
Tatsächlich ist „Das Vorkommnis“ als erster Teil einer Trilogie mit dem Titel „Biographie einer Frau“ geplant. Es ist nicht leicht vorstellbar, wie ein Roman mit einer so besonderen erzähldramaturgischen Aufladung fortgesetzt werden wird. Julia Schoch hat sich hier ein gutes Stück von ihrem Thema, der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte, entfernt, auch wenn man im „Vorkommnis“ gelegentlich eine Parabel auf die Zeitgeschichte zu lesen glaubt. Doch die ungeheure Dichte der Korrespondenzen zwischen allen Ebenen des Romans erzeugt ein so reiches 3-D-Puzzle, dass man am Abglanz des Lebens darin seine Freude hat, auch wenn es ein entgleisendes Leben ist. Julia Schoch hat einen neuen Weg eingeschlagen. Wir folgen gespannt.
Verstecken sich hinter der einen
noch mehr Lügen, die das ganze
Leben rückblickend ändern?
Je genauer der Alltag geschildert
wird, desto mehr zerfällt die
Wirklichkeit der Erzählerin
Das Buch ist als erster Teil einer
Trilogie mit dem Titel
„Biographie einer Frau“ geplant
Julia Schoch:
Das Vorkommnis.
Roman.
dtv, München 2022.
192 Seiten, 20 Euro.
Alles in Ordnung? Hinter den Gardinen der scheinbar einfachen Verhältnisse wohnen die Dämonen. Julia Schoch stellt ihnen in ihrem autofiktionalen Erzählen nach.
Foto: imago stock&people
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2022Familie ist Fiktion
Und deshalb wird sie es auch so häufig: Das jüngste literarische Beispiel liefert Julia Schochs "Das Vorkommnis" als Auftakt zu einer Romantrilogie
Ziemlich genau in der Mitte des Buches, in Kapitel 35 von deren 72, stehen programmatische Sätze: "Das hier ist nicht die Geschichte meiner Familie. Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht. Da ist nur die Geschichte einer Verwirrung."
Die Leserin ist gut beraten, diese Behauptung ernst zu nehmen, auch wenn sie der aktuelle Boom "autofiktionaler" Lebensbeichten zu einer indiskreten Zuordnung verleiten mag. Denn "Das Vorkommnis" trägt zum einen den Untertitel "Biographie einer Frau" und zum anderen die Gattungsbezeichnung "Roman". Dass einiges vom hier Erzählten auf eigenes Erleben zurückgeht, wird man trotzdem annehmen dürfen. Immerhin ist die namenlose Icherzählerin Schriftstellerin von Beruf. "Das Vorkommnis", das in ihr Leben tritt und den Angelpunkt der Erzählung bildet, ereilt sie bei einer Lesung in einer norddeutschen Stadt. Eine Zuhörerin legt ihr danach ein Romanexemplar zum Signieren vor und sagt: "Wir haben übrigens denselben Vater." Worauf die Autorin der fremden Frau unter Tränen um den Hals fällt. Diese Reaktion ist ihr zunächst selbst rätselhaft, bald stellt sich jedoch heraus, dass das väterliche Geheimnis der vorehelichen Tochter schon längst kein Geheimnis mehr war. Es gab freilich keinerlei familiäre Beziehung zu ihr, die gezeugt wurde, als der Vater als Offizier bei der Nationalen Volksarmee der DDR diente.
Die späte Begegnung mit der lange unbekannten, dann gründlich verdrängten Halbschwester wird für die Icherzählerin zum Auslöser einer veritablen Lebenskrise, die dem doch eher unspektakulären Wort "Vorkommnis" ein gehöriges Bedeutungsgewicht auflädt. Die Leibhaftigkeit einer bisher nur vage vermuteten Parallelexistenz erschüttert die Fundamente des Familiengefüges und lässt alle Gewissheiten fragwürdig erscheinen. Die abhandengekommene Schwester hat ihren Vater nie kennengelernt und wurde von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben. Man könnte sagen, allein durch ihr Auf-der-Welt-Sein ist die Erzählerin schuldlos schuldig geworden. Inzwischen sind die Eltern geschieden, der Vater ist an Krebs erkrankt. Interessanterweise ist es aber nicht so sehr das Schicksal der weniger glücklichen Anverwandten, das sie beschäftigt, als das Täuschungsmanöver des Vaters. Sie muss erkennen: "Familie ist Fiktion."
Die Geschichte verfolgt die Protagonistin über den Ozean nach Bowling Green, Kentucky, wo sie an der Universität Literaturseminare hält. Bowling Green hat als Ursprungsort einer speziellen Residency-Prosa, in der eben gerade keine besonderen Vorkommnisse zu erwarten sind, im deutschen Sprachraum Spuren hinterlassen. Schochs Autorin logiert dort mit ihren beiden kleinen Kindern. Mit dem Glauben an die väterliche Zuverlässigkeit erodiert auch jener an die eigene Unentbehrlichkeit: "Wäre ich an diesem Abend nicht zurückgekehrt, hätte das Baby vielleicht nie etwas vermisst, nie einen Schmerz verspürt oder höchstens einen diffusen . . . Wie ein winziger, beständiger Fleck auf der Seele."
Den Wunsch, quasi aus dem eigenen Leben abzuhauen und sich der Mutterpflichten zu entledigen - wie Marlen Haushofer ihn bereits in den Fünfzigerjahren gestaltet hat -, gesteht sich die Erzählerin nicht ein, ihre Zerrüttung zeigt sich aber auch in der zwanghaften Suche nach Verknüpfungen: Die Wirklichkeit präsentiert sich als ein Geflecht von Verweisen, alles scheint mit allem zusammenzuhängen, bekanntlich ein Symptom psychotischer Störungen - aber auch der Berufskrankheit übermotivierter Biographen.
Als der Ehemann zu Besuch nach Bowling Green kommt, hat der Weltzweifel seiner Frau bereits auf das Modell Familie an sich übergegriffen: "Was für eine komische Erfindung. Wie von Geisterhand geführt, finden sich jeden Morgen und Abend in derselben Wohnung dieselben Menschen ein. Man trifft sich zu verschiedenen Mahlzeiten, jeder in seine Träume und Gedanken vertieft, morgens verschwinden alle in irgend einer Art von Anstalt oder Institution, abends tauscht man sich über die Erlebnisse des Tages aus und sucht seine zugewiesenen Schlafplätze auf, man sieht sich gelegentlich nackt, in den Ferien steigen alle in ein Auto . . . und reisen gemeinsam an einen vorher festgelegten Ort."
Was mit einer leichten Irritation begann, hat sich zu einer bizarren Befremdung ausgewachsen, die das Zusammenleben der jungen Familie nach und nach vergiftet. Weil der Vater einst durch eine Alimentequittung überführt wurde, begegnet nun die Tochter ihrem Ehemann mit unbegründetem, nichtsdestoweniger unstillbarem Argwohn: "Die Jacken- und Manteltaschen der Männer: das Materiallager für den Groll der Frauen. Die Schatzkammern ihrer geheimen Indiziensammlungen." Der wahrhaftige Mensch ist für sie nur noch einer, der ganz für sich ist, der Mensch ohne Zeugen.
Julia Schochs Erzählung bewegt sich hin und her zwischen den Zeitebenen, geht tastend zurück bis in die Jugend der Großeltern im Krieg. Das "Vorkommnis" bringt eine grundlegende Revision der Vergangenheit mit sich, bisweilen auch buchstäblich und konkret: Der Holzschnitt im Elternhaus zeigte nicht etwa Karl Marx, wie die Erzählerin immer geglaubt hatte, sondern Ernest Hemingway, für den ihre Mutter schwärmte. Die Tochter hält es offenkundig eher mit Rachel Cusk als mit Hemingway. Statt schnörkelloser Darstellung äußerer Ereignisse bietet die Erzählstimme viel Introspektion, Räsonnement und Grübelei, ein etwaiger Erkenntnisgewinn wird nicht dem Leser anheimgestellt, sondern ausformuliert, kaum etwas bleibt im Ungefähren. So ist es einerseits reizvoll, dem Schoch'schen Familienkomplex in all seine Verästelungen zu folgen, andererseits beschleicht einen das Gefühl einer irgendwie künstlich erzeugten Bedeutsamkeit, weil das titelgebende Vorkommnis sich, allen Bemühungen zum Trotz, nicht wirklich in seiner Wucht erschließt. Man darf gespannt sein, woher Teil zwei und drei der angekündigten Trilogie ihre Dynamik beziehen werden.
Offen bleibt am Ende immerhin das Verwirrspiel um Fakten und Fiktion: Die Protagonistin trifft eine Schulfreundin, die sie wegen des Todes "ihrer" Schwester in einem früheren Roman bemitleidet. "Aber das war doch nur Fiktion!", sagt die Erzählerin in einem Text, der seinerseits als Fiktion ausgewiesen ist. Und die Freundin quittiert das mit Kopfschütteln. DANIELA STRIGL
Julia Schoch: "Das Vorkommnis". Biographie einer Frau. Roman.
Dtv, München 2022. 192 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und deshalb wird sie es auch so häufig: Das jüngste literarische Beispiel liefert Julia Schochs "Das Vorkommnis" als Auftakt zu einer Romantrilogie
Ziemlich genau in der Mitte des Buches, in Kapitel 35 von deren 72, stehen programmatische Sätze: "Das hier ist nicht die Geschichte meiner Familie. Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht. Da ist nur die Geschichte einer Verwirrung."
Die Leserin ist gut beraten, diese Behauptung ernst zu nehmen, auch wenn sie der aktuelle Boom "autofiktionaler" Lebensbeichten zu einer indiskreten Zuordnung verleiten mag. Denn "Das Vorkommnis" trägt zum einen den Untertitel "Biographie einer Frau" und zum anderen die Gattungsbezeichnung "Roman". Dass einiges vom hier Erzählten auf eigenes Erleben zurückgeht, wird man trotzdem annehmen dürfen. Immerhin ist die namenlose Icherzählerin Schriftstellerin von Beruf. "Das Vorkommnis", das in ihr Leben tritt und den Angelpunkt der Erzählung bildet, ereilt sie bei einer Lesung in einer norddeutschen Stadt. Eine Zuhörerin legt ihr danach ein Romanexemplar zum Signieren vor und sagt: "Wir haben übrigens denselben Vater." Worauf die Autorin der fremden Frau unter Tränen um den Hals fällt. Diese Reaktion ist ihr zunächst selbst rätselhaft, bald stellt sich jedoch heraus, dass das väterliche Geheimnis der vorehelichen Tochter schon längst kein Geheimnis mehr war. Es gab freilich keinerlei familiäre Beziehung zu ihr, die gezeugt wurde, als der Vater als Offizier bei der Nationalen Volksarmee der DDR diente.
Die späte Begegnung mit der lange unbekannten, dann gründlich verdrängten Halbschwester wird für die Icherzählerin zum Auslöser einer veritablen Lebenskrise, die dem doch eher unspektakulären Wort "Vorkommnis" ein gehöriges Bedeutungsgewicht auflädt. Die Leibhaftigkeit einer bisher nur vage vermuteten Parallelexistenz erschüttert die Fundamente des Familiengefüges und lässt alle Gewissheiten fragwürdig erscheinen. Die abhandengekommene Schwester hat ihren Vater nie kennengelernt und wurde von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben. Man könnte sagen, allein durch ihr Auf-der-Welt-Sein ist die Erzählerin schuldlos schuldig geworden. Inzwischen sind die Eltern geschieden, der Vater ist an Krebs erkrankt. Interessanterweise ist es aber nicht so sehr das Schicksal der weniger glücklichen Anverwandten, das sie beschäftigt, als das Täuschungsmanöver des Vaters. Sie muss erkennen: "Familie ist Fiktion."
Die Geschichte verfolgt die Protagonistin über den Ozean nach Bowling Green, Kentucky, wo sie an der Universität Literaturseminare hält. Bowling Green hat als Ursprungsort einer speziellen Residency-Prosa, in der eben gerade keine besonderen Vorkommnisse zu erwarten sind, im deutschen Sprachraum Spuren hinterlassen. Schochs Autorin logiert dort mit ihren beiden kleinen Kindern. Mit dem Glauben an die väterliche Zuverlässigkeit erodiert auch jener an die eigene Unentbehrlichkeit: "Wäre ich an diesem Abend nicht zurückgekehrt, hätte das Baby vielleicht nie etwas vermisst, nie einen Schmerz verspürt oder höchstens einen diffusen . . . Wie ein winziger, beständiger Fleck auf der Seele."
Den Wunsch, quasi aus dem eigenen Leben abzuhauen und sich der Mutterpflichten zu entledigen - wie Marlen Haushofer ihn bereits in den Fünfzigerjahren gestaltet hat -, gesteht sich die Erzählerin nicht ein, ihre Zerrüttung zeigt sich aber auch in der zwanghaften Suche nach Verknüpfungen: Die Wirklichkeit präsentiert sich als ein Geflecht von Verweisen, alles scheint mit allem zusammenzuhängen, bekanntlich ein Symptom psychotischer Störungen - aber auch der Berufskrankheit übermotivierter Biographen.
Als der Ehemann zu Besuch nach Bowling Green kommt, hat der Weltzweifel seiner Frau bereits auf das Modell Familie an sich übergegriffen: "Was für eine komische Erfindung. Wie von Geisterhand geführt, finden sich jeden Morgen und Abend in derselben Wohnung dieselben Menschen ein. Man trifft sich zu verschiedenen Mahlzeiten, jeder in seine Träume und Gedanken vertieft, morgens verschwinden alle in irgend einer Art von Anstalt oder Institution, abends tauscht man sich über die Erlebnisse des Tages aus und sucht seine zugewiesenen Schlafplätze auf, man sieht sich gelegentlich nackt, in den Ferien steigen alle in ein Auto . . . und reisen gemeinsam an einen vorher festgelegten Ort."
Was mit einer leichten Irritation begann, hat sich zu einer bizarren Befremdung ausgewachsen, die das Zusammenleben der jungen Familie nach und nach vergiftet. Weil der Vater einst durch eine Alimentequittung überführt wurde, begegnet nun die Tochter ihrem Ehemann mit unbegründetem, nichtsdestoweniger unstillbarem Argwohn: "Die Jacken- und Manteltaschen der Männer: das Materiallager für den Groll der Frauen. Die Schatzkammern ihrer geheimen Indiziensammlungen." Der wahrhaftige Mensch ist für sie nur noch einer, der ganz für sich ist, der Mensch ohne Zeugen.
Julia Schochs Erzählung bewegt sich hin und her zwischen den Zeitebenen, geht tastend zurück bis in die Jugend der Großeltern im Krieg. Das "Vorkommnis" bringt eine grundlegende Revision der Vergangenheit mit sich, bisweilen auch buchstäblich und konkret: Der Holzschnitt im Elternhaus zeigte nicht etwa Karl Marx, wie die Erzählerin immer geglaubt hatte, sondern Ernest Hemingway, für den ihre Mutter schwärmte. Die Tochter hält es offenkundig eher mit Rachel Cusk als mit Hemingway. Statt schnörkelloser Darstellung äußerer Ereignisse bietet die Erzählstimme viel Introspektion, Räsonnement und Grübelei, ein etwaiger Erkenntnisgewinn wird nicht dem Leser anheimgestellt, sondern ausformuliert, kaum etwas bleibt im Ungefähren. So ist es einerseits reizvoll, dem Schoch'schen Familienkomplex in all seine Verästelungen zu folgen, andererseits beschleicht einen das Gefühl einer irgendwie künstlich erzeugten Bedeutsamkeit, weil das titelgebende Vorkommnis sich, allen Bemühungen zum Trotz, nicht wirklich in seiner Wucht erschließt. Man darf gespannt sein, woher Teil zwei und drei der angekündigten Trilogie ihre Dynamik beziehen werden.
Offen bleibt am Ende immerhin das Verwirrspiel um Fakten und Fiktion: Die Protagonistin trifft eine Schulfreundin, die sie wegen des Todes "ihrer" Schwester in einem früheren Roman bemitleidet. "Aber das war doch nur Fiktion!", sagt die Erzählerin in einem Text, der seinerseits als Fiktion ausgewiesen ist. Und die Freundin quittiert das mit Kopfschütteln. DANIELA STRIGL
Julia Schoch: "Das Vorkommnis". Biographie einer Frau. Roman.
Dtv, München 2022. 192 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die ungeheure Dichte der Korrespondenzen zwischen allen Ebenen des Romans erzeugt ein so reiches 3-DPuzzle, dass man am Abglanz des Lebens darin seine Freude hat, auch wenn es ein entgleisendes Leben ist. Julia Schoch hat einen neuen Weg eingeschlagen. Wir folgen gespannt. Hubert Winkels Süddeutsche Zeitung 20220331