Entgegen der verbreiteten Auffassung, das Wahrheitsansprüche in der Demokratie unangemessen seien, begründet Nida-Rümelin die These, dass ohne normative Wahrheitsansprüche die demokratische Gesellschaft und Politik undenkbar seien. Die demokratische Ordnung beruht auf normativen Überzeugungen, wie die der Toleranz aus Respekt und der gleichen Freiheit aller Menschen.
Wenn die Überzeugungen zur Disposition stünden, wäre auch die Demokratie als Lebensform obsolet.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2006Die beste aller schlechten Staatsformen
Die einen sagen: Das Volk sei zu blöd für die Demokratie. Andere sagen: Es gibt im politischen Leben keine Wahrheit. Julian Nida-Rümelin meint, dass die Demokratie trotzdem sinnvoll ist Von Wolfgang Kersting
Demokratische Bürger halten ihr Gemeinwesen nicht für eine natürliche Ordnung, nicht für eine religiöse Gemeinschaft, auch nicht für ein Wettbewerbsunternehmen, sondern für ein System der fairen Kooperation von Freien und Gleichen. Das eben meint die Rede von der Autonomie des Politischen in der Moderne: Die politische Vernunft ist von eigener Art und folgt in ihren Begründungen nicht den Gesetzen der Natur, nicht der religiösen Offenbarung und auch nicht der kompetitiven Logik des Marktes. Dass das Zusammenleben einer von politischer Vernunft geleiteten Zusammenarbeit gleichen sollte, ist Bestandteil der demokratischen Überlieferung. Kooperation darf hierbei nicht auf wirtschaftliches, arbeitsteilig organisiertes Handeln reduziert werden. Kooperation besagt: gesellschaftliches Reden und Handeln auf der Grundlage öffentlich anerkannter Regeln und Prinzipien.
Solche Regeln definieren faire Kooperationsbedingungen. Sie umfassen Diskursregeln des Redens und Gerechtigkeitsregeln des Handelns. Ihnen wird normative Verbindlichkeit zugestanden, da sie menschenrechtlich begründet sind. Demokratische Herrschaft, rechtsstaatliche Konfliktlösung und deliberative Öffentlichkeit sind die institutionellen Konsequenzen des grundlegenden individuellen Freiheits- und Gleichheitsrechts und haben teil an dessen universeller Gültigkeit.
Dieser moralische Steckbrief der Demokratie ist nicht unumstritten. Denn er begründet die Vorzugswürdigkeit der Demokratie in ihrem intimen Verhältnis zur Wahrheit. Zum einen gibt er der Demokratie ein starkes normatives Fundament, rechtfertigt sie als politische Organisationsform des Menschenrechts. Zum anderen behauptet er, dass in der Demokratie die Bürger sich in deliberativer Zusammenarbeit um Wahrheit bemühen und zu rationalen Ergebnissen gelangen. Und wenn wir die Eigentümlichkeit des Menschseins in der Fähigkeit erblicken, Gründe für Überzeugungen und Handlungsentscheidungen zu haben, dann ist die Demokratie aufgrund ihrer institutionellen Begünstigung der Vernünftigkeit die menschlichste Herrschaftsform. Sehr unterschiedliche Denker haben diese Wahrheitsnähe der Demokratie zurückgewiesen. Bereits zu Beginn der politischen Philosophie hat Platon der am Fuße der Höhle hockenden Meinungsgemeinde jede Fähigkeit abgesprochen, gut begründete Überzeugungen über das Gute und Richtige auszubilden und sie daher an den Wahrheitsspezialisten, an den Philosophen verwiesen.
Später dann glaubte man, dass es in praktischen Dingen überhaupt keine Wahrheit, kein begründendes Argumentieren geben könne, daher hat etwa Schumpeter Demokratie nur als konfliktpolitisches Instrument, als gewaltvermeidendes Entscheidungsverfahren verstanden und damit in der politischen Wissenschaft Schule gemacht. Schumpeterianer sind überdies davon überzeugt, dass ein öffentlicher Vernunftgebrauch eine contradictio in adjecto sei. Schon im Privatleben versage die Rationalität der meisten. Würde man nun auch noch die Entscheidung über öffentliche Angelegenheiten dem legitimatorischen Druck einer deliberierenden Bürgergemeinde aussetzen, müsste es zu einem Zusammenbruch der Vernunft kommen.
Eine dritte Fraktion wiederum, der unter anderem der Rechtspositivist Kelsen und der pragmatistische Philosoph Rorty angehören, wendet Platons Kritik ins Positive: Gerade weil Menschen Wahrheit nicht zur Verfügung stehe, ist die Demokratie zu preisen, da sie es gestatte, das Zusammenleben der Menschen zu organisieren, ohne sich auf eine wahrheitskompetente Vernunft stützen zu müssen. Nicht Wahrheit leite sie, sondern Menschenfreundlichkeit.
Julian Nida-Rümelin weist in seinem kleinen demokratieethischen Vademecum beide Vorwürfe überzeugend zurück. Dabei wird deutlich, dass die Verteidigung der Demokratie den Kontakt mit der Wirklichkeit nicht verlieren muss. Denn Nida-Rümelin verteidigt nicht die kontrafaktische, ideale Demokratie normenüberprüfender Habermasianer, sondern die ordinäre, vorfindliche. Er ist kein Rousseauist, kein Diskursethiker, er verteidigt die Realität der Demokratie aufgrund ihrer bereits verwirklichten normativen Vorzüge. Als Realist übersieht er nicht die Schwächen, aber er weiß, dass es trivial ist und intellektuell unbefriedigend, die Wirklichkeit unaufhörlich an ihrem Soll-Zustand zu messen. Auch wenn es wohl mehr der praktischen Erfahrung entstammt als einer tieferen philosophischen Überzeugung: Nida-Rümelin argumentiert wie ein Hegelianer, der es für fruchtbarer hält, auf die in der Wirklichkeit bereits vorhandene Vernunft hinzuweisen.
Zugegeben, es bereitet schon einige Schwierigkeiten, in den alltäglichen Konversationsräumen der Demokratie die öffentliche Vernunft am Werk zu sehen. Die Diskurse der Gesellschaft sind Hintergrundgeräusch, das unaufhörliche, nie endende Hintergrundgeräusch der Medien, durch die der sensationsökonomisch redigierte Diskurs in jeden Winkel der Öffentlichkeit, in jede Gehirnwindung seiner Bürger getragen wird. Durch das Zeitunglesen, durch die Lektüre von Büchern, durch Radiohören und Fernsehen, durch Gespräche mit Freunden und Bekannten, durch Zufallsbegegnungen, durch den Besuch von Vorträgen und Vorlesungen nimmt jeder an dieser demokratischen Konversation teil, die keinen Moderator kennt, keinen, der sie steuert, der die Wortbeiträge verteilt und auf die Redezeiten achtet. Es ist ein rhetorischer Naturzustand, ein deliberativer Wildwuchs, eine Argumentationsanarchie, ein unaufhörliches Geschwätz, ein Palaver, eine Debatte, an der die Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen teilnehmen.
Und keinesfalls sind alle in gleicher Weise daran beteiligt. Zwar gilt gleiche Gedanken- und Meinungsfreiheit, gleiches Rederecht, doch die Realität ist eine Zweiparteienlandschaft. Da ist einmal die Partei der Menge, die auf den Rängen sitzt, zuhört, auch sich unterhält, doch reicht solches Gemurmel nicht weiter als bis zu den Ohren der Umstehenden. Und da ist zum anderen die kleine Partei der professionellen Meinungsäußerer und Meinungsmacher, der Dichter und Denker, der öffentlichen Redner, Essayisten und Feuilletonisten, der Leitartikler, der Ideologen, Demagogen und Sophisten. So sieht die Öffentlichkeit wohl ungeschminkt aus, ohne demokratieemphatisches Rousseau-Rouge, ohne diskursethisches Lip Gloss, ohne idealistisches Make-up, das die tiefen populistischen Poren verstopft.
Jedoch ändert das nichts daran, dass in der Öffentlichkeit Argumente ausgetauscht werden, dass die Chancen der Vernunft in der Demokratie so groß sind wie in keiner anderen Organisationsform gesellschaftlicher Erkenntnisgewinnung. Und daran ändert auch nichts, dass in nahezu allen Streitfragen der gesellschaftlichen Selbstverständigung und politischen Meinungsbildung nicht mit einem Konsens zu rechnen ist. Die durch die Demokratie favorisierte Vernunft ist keine Ergebnisvernunft, sondern eine Prozessvernunft, die auch dann dem ernsthaften Bemühen um Wahrheit die besten Voraussetzungen bietet, wenn letzte Gewissheit nicht erreicht werden kann. Denn ein kulturell ausgezeichnetes, gleichsam die Grammatik der gesellschaftlichen Selbstverständigung bildendes Rechtfertigungsprogramm gibt es in einer modernen pluralistischen und säkularen Gesellschaft nicht mehr. Es gibt nur die Vielfalt der „alltäglichen Begründungen”, die um Anerkennung kämpfen und sich dabei allseitiger Überprüfung aussetzen.
Wenn jemand einfachhin der Realität der Vernunft vertraut, ohne sich sein Vertrauen durch metaphysische Letztbegründung garantieren lassen zu müssen, dann wird für ihn auch die Rede von der moralischen Krise, die ihren tieferen Grund in einer Begründungskrise haben soll, ein Ärgernis bedeuten. Im philosophischsten, dem dritten Teil seiner demokratieethischen Betrachtung wendet sich daher Nida-Rümelin der Kritik der in der Moralphilosophie weit verbreiteten These von der Begründungskrise zu.
Seinem überzeugenden Hauptargument zufolge geht das Krisengerede von einem falschen Begründungsbegriff aus, der die gelungene Begründung an eine absolute Verfügung über letzte Gründe bindet. Wie alles sei aber auch Begründung, philosophische wie nicht-philosophische, theoretische wie praktische, relativ, abhängig von intuitiven Überzeugungen, die im Begründungsregress nicht eingeholt werden können, da sie ihrerseits den Rahmen für Begründungen abstecken, die überdies begründen zu müssen, uns nicht einfällt, weil sie fester Bestandteil unserer Überzeugungen sind und die Grammatik unseres moralischen Argumentierens bilden. Daher ist Begründung über weite Strecken wenig mehr als Explikation und Interpretation. Begründung wird falsch verstanden, wenn sie als Suche nach den letzten Gründen angegangen wird. Begründung dient vielmehr der Herstellung größerer Kohärenz in unseren deskriptiven und normativen Überzeugungssystemen.
Wie in der Demokratie, so in der Philosophie: die Qualität beider Unternehmungen leidet nicht unter der Einsicht in die endlichkeitsbedingten Grenzen ihrer Bemühungen. Nicht dann erst sind Wahrheit und Vernunft wertvoll, wenn sie absolut und göttlich sind. Auch unsere menschliche und fehlerhafte Vernunft und Wahrheit ist wichtig, zumal wir keine andere haben. Aber uns diese auch noch zu nehmen, kann nicht hingenommen werden; und aus Philosophie und Demokratie gleichermaßen eine Vernunftkrise und Wahrheitsverfehlung zu machen, hält Nida-Rümelin zu Recht für übertrieben.
Das letzte Kapitel ist den normativen Grundlagen des Sozialstaats gewidmet und wirft einen kurzen Blick auf das problematische Verhältnis von Freiheit und Gleichheit. Und da man die wechselseitige Bedingung dieser beiden normativen Orientierungen am besten zeigen kann, wenn man die Unzulässigkeit ihrer Verabsolutierungen vor Augen führt, betrachtet Nida-Rümelin erst das System der verabsolutierten Freiheit und dann das System der verabsolutierten Gleichheit. Ersteres lässt sich aus dem Schrifttum der libertarians und Marktradikalen destillieren. Es macht das Marktmodell zur Grundlage gesellschaftlicher Zusammenarbeit und führt zu Nozicks Minimalstaat, der jeden, der sich nicht auf dem Markt versorgen kann, der privaten Mildtätigkeit überantwortet. Das Gegenstück einer Gleichheit ohne Freiheit bedarf keiner großen Beschreibungen. Die kommunistischen Gesellschaftsorganisationen sind noch in guter Erinnerung.
Nida-Rümelin schlägt einen Mittelweg vor: eine auf Solidarität und Autonomiechancengleichheit gegründete sozialstaatliche Demokratie. Hier weicht die verabsolutierte negative Freiheit des „Libertismus” einem ethisch anspruchsvolleren Freiheitsbegriff, der autonomen Lebensführung. Auf das freiheitsfeindliche Ziel der Herstellung materieller Gleichheit wird verzichtet. An seine Stelle tritt die bürgerliche Solidarität, die freilich nicht als Versorgung der Bedürftigen eine moderne Form des Armenrechts etabliert, sondern dafür sorgt, dass „reale Gleichheit im Sinne gleicher Würde und gleicher Autorschaft des eigenen Lebens über unterschiedliche existentielle Lagen hinweg” garantiert wird.
So sympathisch einerseits diese an Vorstellungen vom sozialinvestiven Sozialstaat anknüpfende autonomieethische Lesart der sozialstaatlichen Solidarität ist, so fällt doch auf, dass den Autor hier leider Nüchternheit und Realismus verlassen. So gehört der Schluss der Rhetorik der hohlen Worte, die Nida-Rümelin während des ganzen Buches nicht nur erfreulicherweise vermieden, sondern auch recht erfolgreich bekämpft hat.
Woher soll jeder hergelaufene Hanswurst wissen, was gut für das Gemeinwesen ist?
Unglaublich, aber wahr: Im öffentlichen Gespräch werden Argumente ausgetauscht
Wahrheit und Vernunft sind nicht erst dann wertvoll, wenn sie göttlich sind
Julian Nida-Rümelin
Demokratie und Wahrheit
Verlag C. H. Beck, München 2006. 159 Seiten, 18,90 Euro.
Wohnt hier die Argumentationsanarchie, der rhetorische Naturzustand? Zugegeben, es bereitet schon einige Schwierigkeiten, in den alltäglichen Konversationsräumen der Demokratie die öffentliche Vernunft am Werk zu sehen. Konferenzsaal im Berliner Kanzleramt.
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Die einen sagen: Das Volk sei zu blöd für die Demokratie. Andere sagen: Es gibt im politischen Leben keine Wahrheit. Julian Nida-Rümelin meint, dass die Demokratie trotzdem sinnvoll ist Von Wolfgang Kersting
Demokratische Bürger halten ihr Gemeinwesen nicht für eine natürliche Ordnung, nicht für eine religiöse Gemeinschaft, auch nicht für ein Wettbewerbsunternehmen, sondern für ein System der fairen Kooperation von Freien und Gleichen. Das eben meint die Rede von der Autonomie des Politischen in der Moderne: Die politische Vernunft ist von eigener Art und folgt in ihren Begründungen nicht den Gesetzen der Natur, nicht der religiösen Offenbarung und auch nicht der kompetitiven Logik des Marktes. Dass das Zusammenleben einer von politischer Vernunft geleiteten Zusammenarbeit gleichen sollte, ist Bestandteil der demokratischen Überlieferung. Kooperation darf hierbei nicht auf wirtschaftliches, arbeitsteilig organisiertes Handeln reduziert werden. Kooperation besagt: gesellschaftliches Reden und Handeln auf der Grundlage öffentlich anerkannter Regeln und Prinzipien.
Solche Regeln definieren faire Kooperationsbedingungen. Sie umfassen Diskursregeln des Redens und Gerechtigkeitsregeln des Handelns. Ihnen wird normative Verbindlichkeit zugestanden, da sie menschenrechtlich begründet sind. Demokratische Herrschaft, rechtsstaatliche Konfliktlösung und deliberative Öffentlichkeit sind die institutionellen Konsequenzen des grundlegenden individuellen Freiheits- und Gleichheitsrechts und haben teil an dessen universeller Gültigkeit.
Dieser moralische Steckbrief der Demokratie ist nicht unumstritten. Denn er begründet die Vorzugswürdigkeit der Demokratie in ihrem intimen Verhältnis zur Wahrheit. Zum einen gibt er der Demokratie ein starkes normatives Fundament, rechtfertigt sie als politische Organisationsform des Menschenrechts. Zum anderen behauptet er, dass in der Demokratie die Bürger sich in deliberativer Zusammenarbeit um Wahrheit bemühen und zu rationalen Ergebnissen gelangen. Und wenn wir die Eigentümlichkeit des Menschseins in der Fähigkeit erblicken, Gründe für Überzeugungen und Handlungsentscheidungen zu haben, dann ist die Demokratie aufgrund ihrer institutionellen Begünstigung der Vernünftigkeit die menschlichste Herrschaftsform. Sehr unterschiedliche Denker haben diese Wahrheitsnähe der Demokratie zurückgewiesen. Bereits zu Beginn der politischen Philosophie hat Platon der am Fuße der Höhle hockenden Meinungsgemeinde jede Fähigkeit abgesprochen, gut begründete Überzeugungen über das Gute und Richtige auszubilden und sie daher an den Wahrheitsspezialisten, an den Philosophen verwiesen.
Später dann glaubte man, dass es in praktischen Dingen überhaupt keine Wahrheit, kein begründendes Argumentieren geben könne, daher hat etwa Schumpeter Demokratie nur als konfliktpolitisches Instrument, als gewaltvermeidendes Entscheidungsverfahren verstanden und damit in der politischen Wissenschaft Schule gemacht. Schumpeterianer sind überdies davon überzeugt, dass ein öffentlicher Vernunftgebrauch eine contradictio in adjecto sei. Schon im Privatleben versage die Rationalität der meisten. Würde man nun auch noch die Entscheidung über öffentliche Angelegenheiten dem legitimatorischen Druck einer deliberierenden Bürgergemeinde aussetzen, müsste es zu einem Zusammenbruch der Vernunft kommen.
Eine dritte Fraktion wiederum, der unter anderem der Rechtspositivist Kelsen und der pragmatistische Philosoph Rorty angehören, wendet Platons Kritik ins Positive: Gerade weil Menschen Wahrheit nicht zur Verfügung stehe, ist die Demokratie zu preisen, da sie es gestatte, das Zusammenleben der Menschen zu organisieren, ohne sich auf eine wahrheitskompetente Vernunft stützen zu müssen. Nicht Wahrheit leite sie, sondern Menschenfreundlichkeit.
Julian Nida-Rümelin weist in seinem kleinen demokratieethischen Vademecum beide Vorwürfe überzeugend zurück. Dabei wird deutlich, dass die Verteidigung der Demokratie den Kontakt mit der Wirklichkeit nicht verlieren muss. Denn Nida-Rümelin verteidigt nicht die kontrafaktische, ideale Demokratie normenüberprüfender Habermasianer, sondern die ordinäre, vorfindliche. Er ist kein Rousseauist, kein Diskursethiker, er verteidigt die Realität der Demokratie aufgrund ihrer bereits verwirklichten normativen Vorzüge. Als Realist übersieht er nicht die Schwächen, aber er weiß, dass es trivial ist und intellektuell unbefriedigend, die Wirklichkeit unaufhörlich an ihrem Soll-Zustand zu messen. Auch wenn es wohl mehr der praktischen Erfahrung entstammt als einer tieferen philosophischen Überzeugung: Nida-Rümelin argumentiert wie ein Hegelianer, der es für fruchtbarer hält, auf die in der Wirklichkeit bereits vorhandene Vernunft hinzuweisen.
Zugegeben, es bereitet schon einige Schwierigkeiten, in den alltäglichen Konversationsräumen der Demokratie die öffentliche Vernunft am Werk zu sehen. Die Diskurse der Gesellschaft sind Hintergrundgeräusch, das unaufhörliche, nie endende Hintergrundgeräusch der Medien, durch die der sensationsökonomisch redigierte Diskurs in jeden Winkel der Öffentlichkeit, in jede Gehirnwindung seiner Bürger getragen wird. Durch das Zeitunglesen, durch die Lektüre von Büchern, durch Radiohören und Fernsehen, durch Gespräche mit Freunden und Bekannten, durch Zufallsbegegnungen, durch den Besuch von Vorträgen und Vorlesungen nimmt jeder an dieser demokratischen Konversation teil, die keinen Moderator kennt, keinen, der sie steuert, der die Wortbeiträge verteilt und auf die Redezeiten achtet. Es ist ein rhetorischer Naturzustand, ein deliberativer Wildwuchs, eine Argumentationsanarchie, ein unaufhörliches Geschwätz, ein Palaver, eine Debatte, an der die Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen teilnehmen.
Und keinesfalls sind alle in gleicher Weise daran beteiligt. Zwar gilt gleiche Gedanken- und Meinungsfreiheit, gleiches Rederecht, doch die Realität ist eine Zweiparteienlandschaft. Da ist einmal die Partei der Menge, die auf den Rängen sitzt, zuhört, auch sich unterhält, doch reicht solches Gemurmel nicht weiter als bis zu den Ohren der Umstehenden. Und da ist zum anderen die kleine Partei der professionellen Meinungsäußerer und Meinungsmacher, der Dichter und Denker, der öffentlichen Redner, Essayisten und Feuilletonisten, der Leitartikler, der Ideologen, Demagogen und Sophisten. So sieht die Öffentlichkeit wohl ungeschminkt aus, ohne demokratieemphatisches Rousseau-Rouge, ohne diskursethisches Lip Gloss, ohne idealistisches Make-up, das die tiefen populistischen Poren verstopft.
Jedoch ändert das nichts daran, dass in der Öffentlichkeit Argumente ausgetauscht werden, dass die Chancen der Vernunft in der Demokratie so groß sind wie in keiner anderen Organisationsform gesellschaftlicher Erkenntnisgewinnung. Und daran ändert auch nichts, dass in nahezu allen Streitfragen der gesellschaftlichen Selbstverständigung und politischen Meinungsbildung nicht mit einem Konsens zu rechnen ist. Die durch die Demokratie favorisierte Vernunft ist keine Ergebnisvernunft, sondern eine Prozessvernunft, die auch dann dem ernsthaften Bemühen um Wahrheit die besten Voraussetzungen bietet, wenn letzte Gewissheit nicht erreicht werden kann. Denn ein kulturell ausgezeichnetes, gleichsam die Grammatik der gesellschaftlichen Selbstverständigung bildendes Rechtfertigungsprogramm gibt es in einer modernen pluralistischen und säkularen Gesellschaft nicht mehr. Es gibt nur die Vielfalt der „alltäglichen Begründungen”, die um Anerkennung kämpfen und sich dabei allseitiger Überprüfung aussetzen.
Wenn jemand einfachhin der Realität der Vernunft vertraut, ohne sich sein Vertrauen durch metaphysische Letztbegründung garantieren lassen zu müssen, dann wird für ihn auch die Rede von der moralischen Krise, die ihren tieferen Grund in einer Begründungskrise haben soll, ein Ärgernis bedeuten. Im philosophischsten, dem dritten Teil seiner demokratieethischen Betrachtung wendet sich daher Nida-Rümelin der Kritik der in der Moralphilosophie weit verbreiteten These von der Begründungskrise zu.
Seinem überzeugenden Hauptargument zufolge geht das Krisengerede von einem falschen Begründungsbegriff aus, der die gelungene Begründung an eine absolute Verfügung über letzte Gründe bindet. Wie alles sei aber auch Begründung, philosophische wie nicht-philosophische, theoretische wie praktische, relativ, abhängig von intuitiven Überzeugungen, die im Begründungsregress nicht eingeholt werden können, da sie ihrerseits den Rahmen für Begründungen abstecken, die überdies begründen zu müssen, uns nicht einfällt, weil sie fester Bestandteil unserer Überzeugungen sind und die Grammatik unseres moralischen Argumentierens bilden. Daher ist Begründung über weite Strecken wenig mehr als Explikation und Interpretation. Begründung wird falsch verstanden, wenn sie als Suche nach den letzten Gründen angegangen wird. Begründung dient vielmehr der Herstellung größerer Kohärenz in unseren deskriptiven und normativen Überzeugungssystemen.
Wie in der Demokratie, so in der Philosophie: die Qualität beider Unternehmungen leidet nicht unter der Einsicht in die endlichkeitsbedingten Grenzen ihrer Bemühungen. Nicht dann erst sind Wahrheit und Vernunft wertvoll, wenn sie absolut und göttlich sind. Auch unsere menschliche und fehlerhafte Vernunft und Wahrheit ist wichtig, zumal wir keine andere haben. Aber uns diese auch noch zu nehmen, kann nicht hingenommen werden; und aus Philosophie und Demokratie gleichermaßen eine Vernunftkrise und Wahrheitsverfehlung zu machen, hält Nida-Rümelin zu Recht für übertrieben.
Das letzte Kapitel ist den normativen Grundlagen des Sozialstaats gewidmet und wirft einen kurzen Blick auf das problematische Verhältnis von Freiheit und Gleichheit. Und da man die wechselseitige Bedingung dieser beiden normativen Orientierungen am besten zeigen kann, wenn man die Unzulässigkeit ihrer Verabsolutierungen vor Augen führt, betrachtet Nida-Rümelin erst das System der verabsolutierten Freiheit und dann das System der verabsolutierten Gleichheit. Ersteres lässt sich aus dem Schrifttum der libertarians und Marktradikalen destillieren. Es macht das Marktmodell zur Grundlage gesellschaftlicher Zusammenarbeit und führt zu Nozicks Minimalstaat, der jeden, der sich nicht auf dem Markt versorgen kann, der privaten Mildtätigkeit überantwortet. Das Gegenstück einer Gleichheit ohne Freiheit bedarf keiner großen Beschreibungen. Die kommunistischen Gesellschaftsorganisationen sind noch in guter Erinnerung.
Nida-Rümelin schlägt einen Mittelweg vor: eine auf Solidarität und Autonomiechancengleichheit gegründete sozialstaatliche Demokratie. Hier weicht die verabsolutierte negative Freiheit des „Libertismus” einem ethisch anspruchsvolleren Freiheitsbegriff, der autonomen Lebensführung. Auf das freiheitsfeindliche Ziel der Herstellung materieller Gleichheit wird verzichtet. An seine Stelle tritt die bürgerliche Solidarität, die freilich nicht als Versorgung der Bedürftigen eine moderne Form des Armenrechts etabliert, sondern dafür sorgt, dass „reale Gleichheit im Sinne gleicher Würde und gleicher Autorschaft des eigenen Lebens über unterschiedliche existentielle Lagen hinweg” garantiert wird.
So sympathisch einerseits diese an Vorstellungen vom sozialinvestiven Sozialstaat anknüpfende autonomieethische Lesart der sozialstaatlichen Solidarität ist, so fällt doch auf, dass den Autor hier leider Nüchternheit und Realismus verlassen. So gehört der Schluss der Rhetorik der hohlen Worte, die Nida-Rümelin während des ganzen Buches nicht nur erfreulicherweise vermieden, sondern auch recht erfolgreich bekämpft hat.
Woher soll jeder hergelaufene Hanswurst wissen, was gut für das Gemeinwesen ist?
Unglaublich, aber wahr: Im öffentlichen Gespräch werden Argumente ausgetauscht
Wahrheit und Vernunft sind nicht erst dann wertvoll, wenn sie göttlich sind
Julian Nida-Rümelin
Demokratie und Wahrheit
Verlag C. H. Beck, München 2006. 159 Seiten, 18,90 Euro.
Wohnt hier die Argumentationsanarchie, der rhetorische Naturzustand? Zugegeben, es bereitet schon einige Schwierigkeiten, in den alltäglichen Konversationsräumen der Demokratie die öffentliche Vernunft am Werk zu sehen. Konferenzsaal im Berliner Kanzleramt.
Foto: Regina Schmeken
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zustimmend äußert sich Wolfgang Kersting über Julian Nida-Rümelins Plädoyer für eine demokratisches Gemeinwesen, das normativen Wahrheitsansprüchen verpflichtet bleibt. Er schätzt den realistischen Ansatz des Autors, Schwächen der Demokratie nicht zu leugnen, die Demokratie aber auch nicht permanent an ihrem Soll-Zustand zu messen. So bezieht sich Nida-Rümelins Verteidigung der Demokratie nach Kersting nicht auf ihr Idealbild, sondern auf die ganz gewöhnliche, in der wir leben. Dabei unterstreicht er Nida-Rümelins Hinweis auf die bereits in der Wirklichkeit realisierende Vernunft, die sich etwa im Austausch von Argumenten im öffentlichen Gespräch offenbart. Beifall spendet Kersting auch Nida-Rümelins Diskussion der viel beschworenen Begründungskrise. Der Autor zeige überzeugend, dass die Rede von der Begründungskrise von einem falsch ausgerichteten Begründungsbegriff ausgeht. Schließlich würdigt Kersting die Behandlung der normativen Grundlagen des Sozialstaats und vor allem der Auseinandersetzung mit dem schwierige Verhältnis von Freiheit und Gleichheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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