Das Herz eines alternden wohlhabenden Mannes entbrennt in einer besonders scharfen Kurve für eine junge Triestiner Trambahnfahrerin. Anders als erwartet, sitzt man schon bald eng beisammen, trinkt Champagner und lässt es sich gut gehen. Doch des Nachts suchen den Verliebten Albträume heim. Darf er sich in seinem Alter der Lust dermaßen hingeben? Bald plagen ihn die Gewissensbisse so sehr, dass das altersschwache Herz Alarm schlägt. Seine Skrupel überwiegen und er greift lieber philosophierend zur Feder als weiterhin das Bett mit der Angebeteten zu teilen. Kornelia Boje liest von den Irrungen und Wirrungen der Liebe.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.01.1999Eine Dame mit Verstand
Literarische Vorbeugung: Svevos "Der alte Mann und das schöne Mädchen" · Von Winfried Wehle
Am 13. September 1928 starb der Handelskaufmann Ettore Schmitz an den Folgen eines Autounfalls. Sein Tod hätte erfunden sein können. Er war Geschäftsführer einer Firma für Schiffslacke in Triest. Daß von ihm heute noch die Rede ist, verdankt er seiner doppelten Buchführung. Denn die Bilanzen, auf die es ihm ankam, hat er literarisch aufgestellt. Doch diese "Qual der zwei Naturen, die aufeinanderprallen", hat er akzeptiert wie ein Lebensgebot. Wer darüber etwas erfahren will, muß allerdings sein Alter ego, den Schriftsteller Italo Svevo, fragen. Dieser ist der Ansicht, daß Ettore Schmitz an einer abgründigen Beunruhigung litt: Er fürchtete sich vor allem davor, daß etwas endgültig sein könnte - und in diesem Sinne fürchtete er sich naturgemäß auch vor dem Ende des Lebens.
Also macht Italo Proben aufs Aufhören, damit Ettore immer schon darüber hinwegwäre, wenn es denn irgendwann einmal wirklich dazu käme. Andererseits geht Ettore fünfundzwanzig Jahre nur den Geschäften nach, um nicht ganz als Schriftsteller Italo Svevo zu enden. Denn dieser schien mit seinem zweiten Roman "Ein Mann wird älter" ("Senilità") bereits endgültig gescheitert. Beide waren daher der Meinung, "daß das Leben ganz in der Nähe seiner Verneinung liege". Als wäre es ein Stück Literatur: Sein Unfalltod hatte es ihm erspart, eigenmächtig Schluß zu machen. Gleichwohl war er nicht unvorbereitet. Kurz zuvor hatte er ein Testament verfaßt, das seiner Person auf großartige Weise würdig ist: Es handelt vom Verfassen eines Testaments und trägt den Titel: "Der alte Herr und das schöne Mädchen".
Dieser Text wurde im Jahr seines Todes geschrieben und erst postum veröffentlicht. Die kleine Erzählung ist ein aufregendes Meisterwerk. Ettore hat darin, wie in einer Miniatur, den ganzen Svevo porträtiert. Es ist, als ob ihre makellose Prosa (die die neue Übersetzung von Barbara Kleiner angenehm zu erhalten weiß) Einspruch erheben wollte gegen den Pomp D'Annunzios, das Getöse der Futuristen und Mussolinis Gedröhne. Doch ihre Schlichtheit entspringt kunstvollstem Raffinement. Da sie nichts mit der Worttrunkenheit der damaligen Avantgarden verband, bedurfte sie eines Dolmetschers, um schließlich doch auch im Kreis der Modernisten gebührenden Anklang zu finden. Sein Englischlehrer James Joyce war es, der Italo Svevo nicht nur als Leopold Bloom in seinen "Ulysses" einführte; er hat von Paris aus auch für das "schmucklose Kaufmannsesperanto", wie es despektierlich hieß, geworben.
Alter Mann und junge Frau - gehören sie nicht, unverwüstlich, ins komische Repertoire, von Boccaccio über den "Barbier von Sevilla" bis zu Shaws "Pygmalion"? Doch diese Eindeutigkeit ist eine List, die Svevo souverän unterwandert. Die Zeiten sind schlecht; Männer knapp, von ferne hört man die Kanonen des Ersten Weltkriegs. Der Alte, wohlsituiert, begehrt die junge Straßenbahnfahrerin - ein Mißverhältnis eben, wie Schwänke, Novellen, Komödien, Operetten es lieben und mit Heiterkeit bestrafen. Doch Svevo weckt Erwartungen nur, um sie sogleich auf den Kopf zu stellen: Er spielt die Komödie rückwärts.
Entgegen allen traditionellen Spielregeln kommen die beiden ohne weiteres zusammen. Das Stück beginnt also absurderweise mit einem völlig unwahrscheinlichen Happy-End. Erst das Vergnügen, dann das Problem. Denn die Liebe der jungen Frau hat den alten Herrn, gerade weil alles so gut ging, in Unordnung gebracht. Nur zu genau wußte er, was sich die andern (und natürlich die Komödie) von ihm denken. Und nun versucht er, rührend altmodisch, sich zu erklären, warum er kein Problem hatte (im Gegensatz zu seiner Haushälterin; die "Dienerinnen" vertreten auf diesem Gattungsfeld ja gerne den gesunden Menschenverstand).
Dabei kommt schließlich heraus, was sein Autor mit ihm vorhatte: Der alte Herr macht sich, im doppelten Sinne, ein Gewissen. Svevo dreht die Komödie um und bringt dadurch gerade ins Spiel, was sie sonst als selbstverständlich voraussetzt: daß alle eigentlich ganz gut wissen, was sich in diesem Fall gehört.
Svevo gibt sich dadurch als Moralist zu erkennen; er prüft erzählerisch, aber letztlich doch unbarmherzig ethische Ansprüche. Gründlich wie einen Kaufvertrag (das Mädchen wird reichlich entschädigt) geht der alte Herr sein Verhältnis moralisch durch. "Sünde" kommt ihm in den Sinn, auch Inzest; er könnte der Vater des Mädchens sein. Schließlich die Frage: Verjüngt er sich nicht bloß auf ihre Kosten?
Sei es, daß er dabei sein Gewissen, sei es, daß er seine Kräfte überfordert: Er wird krank - feinsinnigerweise am Herzen. Um zu genesen, denkt er sich, muß das Mädchen moralischer werden, und er legt sich die richtigen Worte dafür zurecht. Doch je länger er sie nicht sieht, desto radikaler wird sein moralischer Eifer. Letztlich geht es doch nicht nur um sie beide, sondern um die Erziehung der "Allgemeinheit". Was not tut, wäre eine ordentliche Theorie des Alters. Unmerklich war der alte Herr dabei in den Schatten von Ciceros "De senectute" getreten. Eines Tages findet man ihn, die Feder im Mund, tot über seinen Entwürfen.
Der Versuch, eine abschließende Moral von der Geschicht' zu finden, hat ihn das Leben gekostet. Was als Komödie in Gang kam, endet als Tragödie. Keineswegs, gibt der Erzähler zu verstehen. Wenn die Dinge, das Leben, der Tod nur so einfach wären. Der Erzähler ist jener Dritte im komischen Bunde, von dem gewöhnlich die Lösung ausgeht. In diesem Falle bahnt sie sich so an: Der Autor (ungefähr so alt wie der Alte selbst) läßt den Erzähler sich Gedanken machen über den Alten, der sich seinerseits Gedanken macht über sein Verhältnis zur jungen Frau.
Ganz ähnlich ist Svevos berühmtester Roman "Zeno Cosini" verspiegelt. Dabei läßt der Erzähler seiner Figur nichts durchgehen; weder seine verschwiegenen noch seine unterschwelligen Motive. Freud war, sagt Svevo, ein "großer Lehrer". Aber seine Zudringlichkeit bleibt dennoch wie teilnahmslos. Dafür hatte das Vorbild Flauberts gesorgt. Vor allem jedoch: Sein fortlaufender Kommentar läuft auf nichts hinaus; er zieht keine Schlüsse; weiß, auf Kosten seiner Figur, nicht alles besser. In dieser Hinsicht, man darf es wohl sagen, liegen Welten zwischen ihm und dem Alten. Denn genau das ist es, was Svevo zu Svevo macht: seine programmatische Botschaftslosigkeit. Wer letzte Gewißheiten haben will wie der Alte, der versündigt sich am Leben. Deshalb bleibt Svevo, bei allem sprachlichen Entgegenkommen, irritierend.
Mit geistigem Notstand, Untergang des Abendlandes hat diese moralische Enthaltung allerdings wenig zu tun. Svevo hat dafür andere Gründe. Wer in Lebensdingen die ganze Wahrheit, die reine Lehre verlangt, mißachtet, wie sie wirklich sind. Sie geben das nicht her. Deswegen scheitert der Alte.
Selbst wo er in bester Absicht, zum Wohle des Mädchens, der Mitmenschen zu handeln glaubte, weist ihm der Erzähler verständnisvoll, aber unerbittlich nach, daß er sich etwas vormacht. Wir können gar nicht anders; das ist für Svevo das Problem. Der Selbstbetrug in seinen unerschöpflichen Spielarten - er ist die Wahrheit des modernen Subjekts. Über diese "Verhaftung" kommen wir nicht hinaus, wie Josef K. in Kafkas "Prozeß" aus dieser Zeit. Der Alte will das nicht einsehen; er ist Fundamentalist. Der Erzähler spricht deshalb von Wahn in seinem Fall, vergleichbar den Masken bei seinem Zeitgenossen Pirandello. Svevos Schopenhauer-Lektüren scheinen hier nachzuwirken: daß die Welt nur eine Anschauung des Anschauenden sei, nicht mehr. Wer deshalb alles auf einen letzten Sinn bringen will, begibt sich in geistige Lebensgefahr. Es ist nicht auszuschließen, daß Aron Ettore Schmitz, jüdischer Abstammung, im machtbewußten Faschismus bereits die nervöse Anspannung zu Endlösungen verspürt hat. Man kann das Leben nicht ins reine schreiben, wie der Alte wollte. Dafür demonstriert Svevo.
Mehr noch: Er versucht literarisch vorzubeugen. Mal um Mal zeigt er, daß in der Selbsttäuschung zwar keine eindeutige, aber immerhin eine lebenswerte Wahrheit liegt. Dann nämlich, wenn man sich ihrer als solcher bewußt ist. Seine Texte betreiben deshalb literarische Gewissenserforschung. Bewußtseinskritik, das ist Svevos Welt. Sie erhält gesund, auch gegen die "Krankheit des Alters", solange sie den Gedanken die Beweglichkeit des Lebens sichert.
Im Grunde hat Italo Svevo dabei wohl nie etwas anderes getan, als seinen Namen auszuarbeiten. Svevo, "Schwabe", meint das Anderssein der Donauschwaben Schmitz, die Diaspora der jüdischen Familie in Triest. Italo dagegen bekennt seine Zugehörigkeit zur italienischen "Seele".
Sein Pseudonym umfaßt sein Schreibprogramm. Es tritt dafür ein, daß eine eigene Ansicht immer zugleich auch eine andere bedingt. Etwas von der Beweglichkeit der jüdischen Hermeneutik kommt darin zum Vorschein, die, seit Moses die Gesetzestafeln zerbrach, sich des verlorenen Zusammenhangs nur in einer ununterbrochenen Durchsicht der zerstreuten Teile noch vergewissern kann.
Tragisch hatte die Geschichte des alten Herrn geendet. Versöhnlich aber geht der Erzähler mit ihr um. Er bleibt distanziert, aber man merkt, daß er den Alten mag. An seinem Tonfall soll man ihn erkennen: Er überträgt seine Sondierungen auf dem Felde des moralischen Bewußtseins, des Humors, den Svevo von Jean Paul kennt. Aber vielleicht wollte er auch dabei nur wieder seinem Namen gerecht werden. Wenn ein Ettore Schmitz schreibt, könnte er es anders als "verschmitzt" tun?
Italo Svevo: "Der alte Herr und das schöne Mädchen". Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner. Mit einem autobiographischen Abriß von Svevo und Fotos von Arturo Giacomelli. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998. 110 S., geb., 22,80 DM.
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Literarische Vorbeugung: Svevos "Der alte Mann und das schöne Mädchen" · Von Winfried Wehle
Am 13. September 1928 starb der Handelskaufmann Ettore Schmitz an den Folgen eines Autounfalls. Sein Tod hätte erfunden sein können. Er war Geschäftsführer einer Firma für Schiffslacke in Triest. Daß von ihm heute noch die Rede ist, verdankt er seiner doppelten Buchführung. Denn die Bilanzen, auf die es ihm ankam, hat er literarisch aufgestellt. Doch diese "Qual der zwei Naturen, die aufeinanderprallen", hat er akzeptiert wie ein Lebensgebot. Wer darüber etwas erfahren will, muß allerdings sein Alter ego, den Schriftsteller Italo Svevo, fragen. Dieser ist der Ansicht, daß Ettore Schmitz an einer abgründigen Beunruhigung litt: Er fürchtete sich vor allem davor, daß etwas endgültig sein könnte - und in diesem Sinne fürchtete er sich naturgemäß auch vor dem Ende des Lebens.
Also macht Italo Proben aufs Aufhören, damit Ettore immer schon darüber hinwegwäre, wenn es denn irgendwann einmal wirklich dazu käme. Andererseits geht Ettore fünfundzwanzig Jahre nur den Geschäften nach, um nicht ganz als Schriftsteller Italo Svevo zu enden. Denn dieser schien mit seinem zweiten Roman "Ein Mann wird älter" ("Senilità") bereits endgültig gescheitert. Beide waren daher der Meinung, "daß das Leben ganz in der Nähe seiner Verneinung liege". Als wäre es ein Stück Literatur: Sein Unfalltod hatte es ihm erspart, eigenmächtig Schluß zu machen. Gleichwohl war er nicht unvorbereitet. Kurz zuvor hatte er ein Testament verfaßt, das seiner Person auf großartige Weise würdig ist: Es handelt vom Verfassen eines Testaments und trägt den Titel: "Der alte Herr und das schöne Mädchen".
Dieser Text wurde im Jahr seines Todes geschrieben und erst postum veröffentlicht. Die kleine Erzählung ist ein aufregendes Meisterwerk. Ettore hat darin, wie in einer Miniatur, den ganzen Svevo porträtiert. Es ist, als ob ihre makellose Prosa (die die neue Übersetzung von Barbara Kleiner angenehm zu erhalten weiß) Einspruch erheben wollte gegen den Pomp D'Annunzios, das Getöse der Futuristen und Mussolinis Gedröhne. Doch ihre Schlichtheit entspringt kunstvollstem Raffinement. Da sie nichts mit der Worttrunkenheit der damaligen Avantgarden verband, bedurfte sie eines Dolmetschers, um schließlich doch auch im Kreis der Modernisten gebührenden Anklang zu finden. Sein Englischlehrer James Joyce war es, der Italo Svevo nicht nur als Leopold Bloom in seinen "Ulysses" einführte; er hat von Paris aus auch für das "schmucklose Kaufmannsesperanto", wie es despektierlich hieß, geworben.
Alter Mann und junge Frau - gehören sie nicht, unverwüstlich, ins komische Repertoire, von Boccaccio über den "Barbier von Sevilla" bis zu Shaws "Pygmalion"? Doch diese Eindeutigkeit ist eine List, die Svevo souverän unterwandert. Die Zeiten sind schlecht; Männer knapp, von ferne hört man die Kanonen des Ersten Weltkriegs. Der Alte, wohlsituiert, begehrt die junge Straßenbahnfahrerin - ein Mißverhältnis eben, wie Schwänke, Novellen, Komödien, Operetten es lieben und mit Heiterkeit bestrafen. Doch Svevo weckt Erwartungen nur, um sie sogleich auf den Kopf zu stellen: Er spielt die Komödie rückwärts.
Entgegen allen traditionellen Spielregeln kommen die beiden ohne weiteres zusammen. Das Stück beginnt also absurderweise mit einem völlig unwahrscheinlichen Happy-End. Erst das Vergnügen, dann das Problem. Denn die Liebe der jungen Frau hat den alten Herrn, gerade weil alles so gut ging, in Unordnung gebracht. Nur zu genau wußte er, was sich die andern (und natürlich die Komödie) von ihm denken. Und nun versucht er, rührend altmodisch, sich zu erklären, warum er kein Problem hatte (im Gegensatz zu seiner Haushälterin; die "Dienerinnen" vertreten auf diesem Gattungsfeld ja gerne den gesunden Menschenverstand).
Dabei kommt schließlich heraus, was sein Autor mit ihm vorhatte: Der alte Herr macht sich, im doppelten Sinne, ein Gewissen. Svevo dreht die Komödie um und bringt dadurch gerade ins Spiel, was sie sonst als selbstverständlich voraussetzt: daß alle eigentlich ganz gut wissen, was sich in diesem Fall gehört.
Svevo gibt sich dadurch als Moralist zu erkennen; er prüft erzählerisch, aber letztlich doch unbarmherzig ethische Ansprüche. Gründlich wie einen Kaufvertrag (das Mädchen wird reichlich entschädigt) geht der alte Herr sein Verhältnis moralisch durch. "Sünde" kommt ihm in den Sinn, auch Inzest; er könnte der Vater des Mädchens sein. Schließlich die Frage: Verjüngt er sich nicht bloß auf ihre Kosten?
Sei es, daß er dabei sein Gewissen, sei es, daß er seine Kräfte überfordert: Er wird krank - feinsinnigerweise am Herzen. Um zu genesen, denkt er sich, muß das Mädchen moralischer werden, und er legt sich die richtigen Worte dafür zurecht. Doch je länger er sie nicht sieht, desto radikaler wird sein moralischer Eifer. Letztlich geht es doch nicht nur um sie beide, sondern um die Erziehung der "Allgemeinheit". Was not tut, wäre eine ordentliche Theorie des Alters. Unmerklich war der alte Herr dabei in den Schatten von Ciceros "De senectute" getreten. Eines Tages findet man ihn, die Feder im Mund, tot über seinen Entwürfen.
Der Versuch, eine abschließende Moral von der Geschicht' zu finden, hat ihn das Leben gekostet. Was als Komödie in Gang kam, endet als Tragödie. Keineswegs, gibt der Erzähler zu verstehen. Wenn die Dinge, das Leben, der Tod nur so einfach wären. Der Erzähler ist jener Dritte im komischen Bunde, von dem gewöhnlich die Lösung ausgeht. In diesem Falle bahnt sie sich so an: Der Autor (ungefähr so alt wie der Alte selbst) läßt den Erzähler sich Gedanken machen über den Alten, der sich seinerseits Gedanken macht über sein Verhältnis zur jungen Frau.
Ganz ähnlich ist Svevos berühmtester Roman "Zeno Cosini" verspiegelt. Dabei läßt der Erzähler seiner Figur nichts durchgehen; weder seine verschwiegenen noch seine unterschwelligen Motive. Freud war, sagt Svevo, ein "großer Lehrer". Aber seine Zudringlichkeit bleibt dennoch wie teilnahmslos. Dafür hatte das Vorbild Flauberts gesorgt. Vor allem jedoch: Sein fortlaufender Kommentar läuft auf nichts hinaus; er zieht keine Schlüsse; weiß, auf Kosten seiner Figur, nicht alles besser. In dieser Hinsicht, man darf es wohl sagen, liegen Welten zwischen ihm und dem Alten. Denn genau das ist es, was Svevo zu Svevo macht: seine programmatische Botschaftslosigkeit. Wer letzte Gewißheiten haben will wie der Alte, der versündigt sich am Leben. Deshalb bleibt Svevo, bei allem sprachlichen Entgegenkommen, irritierend.
Mit geistigem Notstand, Untergang des Abendlandes hat diese moralische Enthaltung allerdings wenig zu tun. Svevo hat dafür andere Gründe. Wer in Lebensdingen die ganze Wahrheit, die reine Lehre verlangt, mißachtet, wie sie wirklich sind. Sie geben das nicht her. Deswegen scheitert der Alte.
Selbst wo er in bester Absicht, zum Wohle des Mädchens, der Mitmenschen zu handeln glaubte, weist ihm der Erzähler verständnisvoll, aber unerbittlich nach, daß er sich etwas vormacht. Wir können gar nicht anders; das ist für Svevo das Problem. Der Selbstbetrug in seinen unerschöpflichen Spielarten - er ist die Wahrheit des modernen Subjekts. Über diese "Verhaftung" kommen wir nicht hinaus, wie Josef K. in Kafkas "Prozeß" aus dieser Zeit. Der Alte will das nicht einsehen; er ist Fundamentalist. Der Erzähler spricht deshalb von Wahn in seinem Fall, vergleichbar den Masken bei seinem Zeitgenossen Pirandello. Svevos Schopenhauer-Lektüren scheinen hier nachzuwirken: daß die Welt nur eine Anschauung des Anschauenden sei, nicht mehr. Wer deshalb alles auf einen letzten Sinn bringen will, begibt sich in geistige Lebensgefahr. Es ist nicht auszuschließen, daß Aron Ettore Schmitz, jüdischer Abstammung, im machtbewußten Faschismus bereits die nervöse Anspannung zu Endlösungen verspürt hat. Man kann das Leben nicht ins reine schreiben, wie der Alte wollte. Dafür demonstriert Svevo.
Mehr noch: Er versucht literarisch vorzubeugen. Mal um Mal zeigt er, daß in der Selbsttäuschung zwar keine eindeutige, aber immerhin eine lebenswerte Wahrheit liegt. Dann nämlich, wenn man sich ihrer als solcher bewußt ist. Seine Texte betreiben deshalb literarische Gewissenserforschung. Bewußtseinskritik, das ist Svevos Welt. Sie erhält gesund, auch gegen die "Krankheit des Alters", solange sie den Gedanken die Beweglichkeit des Lebens sichert.
Im Grunde hat Italo Svevo dabei wohl nie etwas anderes getan, als seinen Namen auszuarbeiten. Svevo, "Schwabe", meint das Anderssein der Donauschwaben Schmitz, die Diaspora der jüdischen Familie in Triest. Italo dagegen bekennt seine Zugehörigkeit zur italienischen "Seele".
Sein Pseudonym umfaßt sein Schreibprogramm. Es tritt dafür ein, daß eine eigene Ansicht immer zugleich auch eine andere bedingt. Etwas von der Beweglichkeit der jüdischen Hermeneutik kommt darin zum Vorschein, die, seit Moses die Gesetzestafeln zerbrach, sich des verlorenen Zusammenhangs nur in einer ununterbrochenen Durchsicht der zerstreuten Teile noch vergewissern kann.
Tragisch hatte die Geschichte des alten Herrn geendet. Versöhnlich aber geht der Erzähler mit ihr um. Er bleibt distanziert, aber man merkt, daß er den Alten mag. An seinem Tonfall soll man ihn erkennen: Er überträgt seine Sondierungen auf dem Felde des moralischen Bewußtseins, des Humors, den Svevo von Jean Paul kennt. Aber vielleicht wollte er auch dabei nur wieder seinem Namen gerecht werden. Wenn ein Ettore Schmitz schreibt, könnte er es anders als "verschmitzt" tun?
Italo Svevo: "Der alte Herr und das schöne Mädchen". Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner. Mit einem autobiographischen Abriß von Svevo und Fotos von Arturo Giacomelli. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998. 110 S., geb., 22,80 DM.
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»Diese kleine Erzählung ist ein aufregendes Meisterwerk.« F.A.Z. »Es gibt keinen Zweifel: Wer sich eine Bibliothek mit Weltliteratur in Form von Hörbüchern aufbauen möchte, kommt an dieser Edition nicht vorbei.« WDR 3 »Hier wird fündig, wer an Hörbuchproduktionen Freude hat, die nicht schnell hingeschludert sind, sondern mit einer Regie-Idee zum Text vom und für den Rundfunk produziert sind.« NDR KULTUR »Mehr Zeit hätte man ja immer gern, aber für diese schönen Hörbücher [...] besonders.« WAZ »Die Hörbuch-Edition 'Große Werke. Große Stimmen.' umfasst herausragende Lesungen deutschsprachiger Sprecherinnen und Sprecher, die in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern.« SAARLÄNDISCHER RUNDFUNK