Ehe, Verführung und die Liebe zur Literatur: Der bereits aus anderen Romanen Walsers bekannte ehemalige Immobilienmakler und Privatgelehrte Gottlieb Zürn ist mittlerweile in die Jahre gekommen und umso geschmeichelter, als eine junge Doktorandin ihn aufsucht, da sie seine Aufsätze zu La Mettrie gelesen hat. Schnell wird eine erotische Anziehungskraft zwischen den beiden klar, die auf einem Kongress in Kalifornien schließlich ausgelebt werden kann...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2004Anna, laß mich rein, laß mich raus
Mut gibt es an Tankstellen: Martin Walsers neuer Roman schickt einen Liebenden auf Reisen
Das Thema von Martin Walsers neuem Roman sind Übersetzungsprobleme. Mit dem Titel fängt das Dilemma bereits an: "L'Homme Maschine". Schon wenn man die Hauptschrift des Arztes und Philosophen La Mettrie "Der Mensch als Maschine" überschreibt, hat man ihn verfehlt. Und dann kann sich daran nur noch eine Kette von Mißverständnissen reihen. Etwas anderes als platter Materialismus ist nicht mehr zu erwarten, die ganze deutsche Rezeption seines Werkes folgerichtig eine einzige Fehlleistung. Bis zu Wendelin Krall. Unter diesem Namen hat Gottlieb Zürn, Exmakler und Antiheld aus Martin Walsers Romanen "Das Schwanenhaus" und "Jagd", einst zwei Aufsätze über La Mettrie verfaßt, die das Bild des Aufklärers geraderückten und ihn als Denker der beseelten Natur und Verteidiger der sinnlichen Erfahrung feierten.
Diesen Krall will nun Beate Gutbrod, die an der University of North Carolina über La Mettries Wirkung in Deutschland promoviert, persönlich kennenlernen. Ein Kurzbesuch auf der Terrasse der Zürns reicht aus, um die beiden zu entflammen; der Forschungsgegenstand dient dabei zusammen mit einer Flasche Calvados als eine Art Katalysator, wie Klopstock einst Lotte und Werthern: "Der Animateur La Mettrie! Sie sei so unbescheiden zu vermuten, daß sie Zeuge einer Wiederbelebung geworden sei. Die sei La Mettries Werk. Wendelin Krall redivivus!" Tatsächlich aber muß Zürn fortan darüber nachdenken, wie die Doktorandin "scharf" mit drei f's aussprach und wie ihn ihre Schuhe aus Schlangenleder "attackierten": "Total tropisch beziehungsweise: die Schlange persönlich." Die junge Frau geht, der alte Zürn bleibt zurück und trinkt den Calvados leer. Es hat Zoom gemacht, soviel ist klar.
Anna Zürn kennt ihren Gottlieb und weiß, was ihr nun blüht: Ihr Mann fährt aus der Haut, will sein "Scheinleben" verlassen und den Altersunterschied (sind es wirklich vierzig Jahre oder vielleicht nur 38?) vergessen: "Mut gibt's an Tankstellen. Fahr hin. Tanke. Dann los." Das tut ein Privatgelehrter natürlich nicht, sondern schreibt und telefoniert nach Amerika, wo Beate einen Kurs "Deutsch als Philosophensprache" absolviert, während sich die Seelenverwandtschaft der beiden "fernmündlich" - "von allen behördlich gezeugten Worten das schönste" - in eine tolle Liebesraserei und ein wahres Sprachfeuerwerk steigert.
Der Praxistest der platonischen Affäre rückt plötzlich näher, als Zürn zu einem La-Mettrie-Kongreß nach Berkeley eingeladen wird. Beate übersetzt seinen Vortrag, mühevoll, aber bei der Ankunft des Geliebten gehen die Wortfindungsstörungen erst richtig los. Wie etwa heißt das da zwischen den männlichen Beinen: "Er nannte, was er zur Verfügung stellte, Ding, und fragte, wie sie sein Ding nenne." Schopenhauer habe es "geträumtes Unding" genannt. Gottlieb ist begeistert, doch Beate versteht offenbar nichts von Sprechakttheorie: "Sie wechselte jäh in die Aktivsprache: This is no time for talk, it's time for performance. Let's have it in English." Warum wird dann aber, was "blowjob" heißen müßte, hier unter "Munddienst" beziehungsweise blasphemisch unter "Kommunion" geführt?
Das linguistische Fiasko setzt sich im Hörsaal fort: Zürns Rekonstruktion von La Mettries Kritik des Gewissens wird als unerhörter Versuch eines Deutschen verstanden, sich von seiner historischen Schuld reinzuwaschen. Die These, daß im wahren Gebrauch der Freiheit das Schuldgefühl wenigstens für Augenblicke verschwinde, wird politisch gelesen und skandalisiert - ausgerechnet von jenem Rick W. Hardy, der zuvor Beate selbstlos bei der Übertragung behilflich war: Traduttore, traditore. Überdies erleidet Zürn einen Stimmverlust - der feuchte kalifornische Traum wird zum Alb; er flieht zum Alkohol und hegt omnipotente Vernichtungsphantasien ("Dann laß ich euch alle köpfen. Das wird eine Überraschung."). Dann aber kehrt er reuig zurück und wird von Anna barmherzig aufgenommen: "Und gesagt werden mußte nichts."
Martin Walsers neuer Roman, der erste nach seinem Wechsel von Suhrkamp zu Rowohlt, variiert ein weiteres Mal sein bekanntes Aventiuren-Schema von Alltag, Ausbruch und Rückkehr und benutzt dazu ein Alter ego, das ihm in mehrfacher Hinsicht besonders nahesteht: Zürn, wie Walser am Bodensee daheim und Vater von vier Töchtern, wenn auch gute zehn Jahre jünger, ist vielleicht die ideale Figur für einen Altersliebesroman, ja für einen Roman über "Altersgeilheit" - ein böses Wort, über das sich Zürn selbst gehörig erregt: "Geil, das war doch in jedem Alter die Stimmung, die nicht heraus durfte . . . Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahnung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben da eine Moral, die sie ästhetisch-sittlich drapieren."
Da läßt Walser, 77, seinen Zürn wahre Worte sprechen. Das Erotische ist auch keineswegs das Problem an dieser amour fou, die - gerade im Körperlichen jenseits der Geschmacksgrenze - überzeugend geschildert wird, wenn auch La Mettrie etwas zu penetrant als sentenzenpfeileschießender Amor im Hintergrund wirkt. Doch seinen geistigen Beistand braucht Walser eben für den Berkeley-Eklat, der unverhohlen auf seine umstrittene Paulskirchenrede und die Ablehnung seines unsäglichen Buchs "Tod eines Kritikers" anspielt.
Warum macht Walser das? Warum verzichtet er nicht auf diese - schwache und oberflächliche - Analogie, die er für seinen Plot gar nicht braucht? Angegriffen wird Zürn zudem von einem karrieristischen Kollegen Beates, der sie einst sexuell belästigte, also von vornherein als unsympathische und unglaubwürdige Figur gezeichnet ist - wie überhaupt die kolportagehaften Niederungen der campus novel zu den Schwachpunkten zählen. Also wozu dieser Schlenker? Es gibt zwei Erklärungen: Die eine müßte La Mettries These bemühen, daß jede Erkenntnis aus der sinnlichen Erfahrung kommt und vor ihr bestehen muß. Danach entspräche Zürns radikal subjektive Lesart der Gewissenslehre Walsers individuellem "Geschichtsgefühl". Jeder Versuch, es in die Sphäre des Öffentlichen zu übersetzen, auf allgemeine Begriffe zurechtzubiegen, wäre zum Scheitern verurteilt: Traduttore, traditore. Der Verräter ist immer der Übersetzer. Das zeigt sich etwa an den vielen eingestreuten Träumen der Protagonisten, die gegen den Zugriff, die "Übersetzungen" des psychoanalytischen Deutungsapparats verteidigt werden (am Ende wird Beates Analytiker gar als Triebtäter entlarvt!). Und auch La Mettrie, für dessen "L'Art de jouir" Lessing polemisch den Titel "Porneutik" vorschlug, wird ja als ewig Mißverstandener gezeichnet. Aber auch Walser muß klar sein, daß die Situation des liebeskranken Zürn, der seine Befreiung aus den Fesseln der Ehe feiert und das schlechte Gewissen gegenüber seiner Frau rationalisiert, nichts mit der des engagierten Intellektuellen zu tun hat, der an symbolischem Ort eine öffentliche Rede über den Umgang mit dem Holocaust hält.
Also bleibt nur die andere Möglichkeit: Walser weiß ganz genau, wie wenig belastbar seine Liebesgeschichte als Parabel ist, und stellt die ganze Episode als Falle auf - ähnlich wie er es schon beim "Tod eines Kritikers" tat, dessen skandalösen Charakter er ja schon beim Schreiben antizipiert hatte. Walser will abermals ein Hase-und-Igel-Spiel mit der Öffentlichkeit treiben und den - erwarteten - Entrüstungen dann ein "Ick bün all hier" entgegenrufen: Sehr ihr, so wird ein ganz privater Liebesroman an den Pranger politischer Korrektheit gestellt! Und wie Zürn darauf sarkastisch-selbstanklagend antworten: Und er habe gelernt, "daß er zuerst ein Deutscher ist, und erst dann, falls sein Ein-Deutscher-sein das noch zuläßt, erst dann ein Mensch".
So ist sein Buch kein Skandal - zum Glück, denn wer will schon Skandalbücher lesen -, sondern nur eine Enttäuschung. Es ist einfach schade, daß Walser seinem eigenen Credo, der radikalen Erfahrungs- und Empfindungsnähe, nicht treu blieb. Was sich so nie vom schalen Beigeschmack einer politisch-medialen Instrumentalisierung freimachen kann, würde ein berührender Alters-Eheroman sein. In seinem Zentrum stünde nicht Zürn und nicht Beate und schon gar nicht der verruchte Übersetzer, sondern Anna, die Ehefrau, die als geduldige Penelope während der Odyssee ihres Gatten im hauseigenen Yachthafen ausharrt. Die schönsten Passagen ergeben eine Hymne auf eine wunderbare, lebenskluge Frau: "Und er dachte, als er jetzt Anna ansah, daß ein Gesicht, das man kennt, seit es jung war, nie bloß alt werden kann." Walser hat die Sprache für diesen Roman gefunden, auch den Mut für eine radikale, eine buchstäbliche Selbstentblößung, aber nicht die Klugheit, ihn ohne Überhöhung, ohne Provokation, ohne Deutungsballast - einfach unübersetzt - zu lassen.
Martin Walser: "Der Augenblick der Liebe". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 254 S., geb., 19,90 [Euro].
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Mut gibt es an Tankstellen: Martin Walsers neuer Roman schickt einen Liebenden auf Reisen
Das Thema von Martin Walsers neuem Roman sind Übersetzungsprobleme. Mit dem Titel fängt das Dilemma bereits an: "L'Homme Maschine". Schon wenn man die Hauptschrift des Arztes und Philosophen La Mettrie "Der Mensch als Maschine" überschreibt, hat man ihn verfehlt. Und dann kann sich daran nur noch eine Kette von Mißverständnissen reihen. Etwas anderes als platter Materialismus ist nicht mehr zu erwarten, die ganze deutsche Rezeption seines Werkes folgerichtig eine einzige Fehlleistung. Bis zu Wendelin Krall. Unter diesem Namen hat Gottlieb Zürn, Exmakler und Antiheld aus Martin Walsers Romanen "Das Schwanenhaus" und "Jagd", einst zwei Aufsätze über La Mettrie verfaßt, die das Bild des Aufklärers geraderückten und ihn als Denker der beseelten Natur und Verteidiger der sinnlichen Erfahrung feierten.
Diesen Krall will nun Beate Gutbrod, die an der University of North Carolina über La Mettries Wirkung in Deutschland promoviert, persönlich kennenlernen. Ein Kurzbesuch auf der Terrasse der Zürns reicht aus, um die beiden zu entflammen; der Forschungsgegenstand dient dabei zusammen mit einer Flasche Calvados als eine Art Katalysator, wie Klopstock einst Lotte und Werthern: "Der Animateur La Mettrie! Sie sei so unbescheiden zu vermuten, daß sie Zeuge einer Wiederbelebung geworden sei. Die sei La Mettries Werk. Wendelin Krall redivivus!" Tatsächlich aber muß Zürn fortan darüber nachdenken, wie die Doktorandin "scharf" mit drei f's aussprach und wie ihn ihre Schuhe aus Schlangenleder "attackierten": "Total tropisch beziehungsweise: die Schlange persönlich." Die junge Frau geht, der alte Zürn bleibt zurück und trinkt den Calvados leer. Es hat Zoom gemacht, soviel ist klar.
Anna Zürn kennt ihren Gottlieb und weiß, was ihr nun blüht: Ihr Mann fährt aus der Haut, will sein "Scheinleben" verlassen und den Altersunterschied (sind es wirklich vierzig Jahre oder vielleicht nur 38?) vergessen: "Mut gibt's an Tankstellen. Fahr hin. Tanke. Dann los." Das tut ein Privatgelehrter natürlich nicht, sondern schreibt und telefoniert nach Amerika, wo Beate einen Kurs "Deutsch als Philosophensprache" absolviert, während sich die Seelenverwandtschaft der beiden "fernmündlich" - "von allen behördlich gezeugten Worten das schönste" - in eine tolle Liebesraserei und ein wahres Sprachfeuerwerk steigert.
Der Praxistest der platonischen Affäre rückt plötzlich näher, als Zürn zu einem La-Mettrie-Kongreß nach Berkeley eingeladen wird. Beate übersetzt seinen Vortrag, mühevoll, aber bei der Ankunft des Geliebten gehen die Wortfindungsstörungen erst richtig los. Wie etwa heißt das da zwischen den männlichen Beinen: "Er nannte, was er zur Verfügung stellte, Ding, und fragte, wie sie sein Ding nenne." Schopenhauer habe es "geträumtes Unding" genannt. Gottlieb ist begeistert, doch Beate versteht offenbar nichts von Sprechakttheorie: "Sie wechselte jäh in die Aktivsprache: This is no time for talk, it's time for performance. Let's have it in English." Warum wird dann aber, was "blowjob" heißen müßte, hier unter "Munddienst" beziehungsweise blasphemisch unter "Kommunion" geführt?
Das linguistische Fiasko setzt sich im Hörsaal fort: Zürns Rekonstruktion von La Mettries Kritik des Gewissens wird als unerhörter Versuch eines Deutschen verstanden, sich von seiner historischen Schuld reinzuwaschen. Die These, daß im wahren Gebrauch der Freiheit das Schuldgefühl wenigstens für Augenblicke verschwinde, wird politisch gelesen und skandalisiert - ausgerechnet von jenem Rick W. Hardy, der zuvor Beate selbstlos bei der Übertragung behilflich war: Traduttore, traditore. Überdies erleidet Zürn einen Stimmverlust - der feuchte kalifornische Traum wird zum Alb; er flieht zum Alkohol und hegt omnipotente Vernichtungsphantasien ("Dann laß ich euch alle köpfen. Das wird eine Überraschung."). Dann aber kehrt er reuig zurück und wird von Anna barmherzig aufgenommen: "Und gesagt werden mußte nichts."
Martin Walsers neuer Roman, der erste nach seinem Wechsel von Suhrkamp zu Rowohlt, variiert ein weiteres Mal sein bekanntes Aventiuren-Schema von Alltag, Ausbruch und Rückkehr und benutzt dazu ein Alter ego, das ihm in mehrfacher Hinsicht besonders nahesteht: Zürn, wie Walser am Bodensee daheim und Vater von vier Töchtern, wenn auch gute zehn Jahre jünger, ist vielleicht die ideale Figur für einen Altersliebesroman, ja für einen Roman über "Altersgeilheit" - ein böses Wort, über das sich Zürn selbst gehörig erregt: "Geil, das war doch in jedem Alter die Stimmung, die nicht heraus durfte . . . Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahnung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben da eine Moral, die sie ästhetisch-sittlich drapieren."
Da läßt Walser, 77, seinen Zürn wahre Worte sprechen. Das Erotische ist auch keineswegs das Problem an dieser amour fou, die - gerade im Körperlichen jenseits der Geschmacksgrenze - überzeugend geschildert wird, wenn auch La Mettrie etwas zu penetrant als sentenzenpfeileschießender Amor im Hintergrund wirkt. Doch seinen geistigen Beistand braucht Walser eben für den Berkeley-Eklat, der unverhohlen auf seine umstrittene Paulskirchenrede und die Ablehnung seines unsäglichen Buchs "Tod eines Kritikers" anspielt.
Warum macht Walser das? Warum verzichtet er nicht auf diese - schwache und oberflächliche - Analogie, die er für seinen Plot gar nicht braucht? Angegriffen wird Zürn zudem von einem karrieristischen Kollegen Beates, der sie einst sexuell belästigte, also von vornherein als unsympathische und unglaubwürdige Figur gezeichnet ist - wie überhaupt die kolportagehaften Niederungen der campus novel zu den Schwachpunkten zählen. Also wozu dieser Schlenker? Es gibt zwei Erklärungen: Die eine müßte La Mettries These bemühen, daß jede Erkenntnis aus der sinnlichen Erfahrung kommt und vor ihr bestehen muß. Danach entspräche Zürns radikal subjektive Lesart der Gewissenslehre Walsers individuellem "Geschichtsgefühl". Jeder Versuch, es in die Sphäre des Öffentlichen zu übersetzen, auf allgemeine Begriffe zurechtzubiegen, wäre zum Scheitern verurteilt: Traduttore, traditore. Der Verräter ist immer der Übersetzer. Das zeigt sich etwa an den vielen eingestreuten Träumen der Protagonisten, die gegen den Zugriff, die "Übersetzungen" des psychoanalytischen Deutungsapparats verteidigt werden (am Ende wird Beates Analytiker gar als Triebtäter entlarvt!). Und auch La Mettrie, für dessen "L'Art de jouir" Lessing polemisch den Titel "Porneutik" vorschlug, wird ja als ewig Mißverstandener gezeichnet. Aber auch Walser muß klar sein, daß die Situation des liebeskranken Zürn, der seine Befreiung aus den Fesseln der Ehe feiert und das schlechte Gewissen gegenüber seiner Frau rationalisiert, nichts mit der des engagierten Intellektuellen zu tun hat, der an symbolischem Ort eine öffentliche Rede über den Umgang mit dem Holocaust hält.
Also bleibt nur die andere Möglichkeit: Walser weiß ganz genau, wie wenig belastbar seine Liebesgeschichte als Parabel ist, und stellt die ganze Episode als Falle auf - ähnlich wie er es schon beim "Tod eines Kritikers" tat, dessen skandalösen Charakter er ja schon beim Schreiben antizipiert hatte. Walser will abermals ein Hase-und-Igel-Spiel mit der Öffentlichkeit treiben und den - erwarteten - Entrüstungen dann ein "Ick bün all hier" entgegenrufen: Sehr ihr, so wird ein ganz privater Liebesroman an den Pranger politischer Korrektheit gestellt! Und wie Zürn darauf sarkastisch-selbstanklagend antworten: Und er habe gelernt, "daß er zuerst ein Deutscher ist, und erst dann, falls sein Ein-Deutscher-sein das noch zuläßt, erst dann ein Mensch".
So ist sein Buch kein Skandal - zum Glück, denn wer will schon Skandalbücher lesen -, sondern nur eine Enttäuschung. Es ist einfach schade, daß Walser seinem eigenen Credo, der radikalen Erfahrungs- und Empfindungsnähe, nicht treu blieb. Was sich so nie vom schalen Beigeschmack einer politisch-medialen Instrumentalisierung freimachen kann, würde ein berührender Alters-Eheroman sein. In seinem Zentrum stünde nicht Zürn und nicht Beate und schon gar nicht der verruchte Übersetzer, sondern Anna, die Ehefrau, die als geduldige Penelope während der Odyssee ihres Gatten im hauseigenen Yachthafen ausharrt. Die schönsten Passagen ergeben eine Hymne auf eine wunderbare, lebenskluge Frau: "Und er dachte, als er jetzt Anna ansah, daß ein Gesicht, das man kennt, seit es jung war, nie bloß alt werden kann." Walser hat die Sprache für diesen Roman gefunden, auch den Mut für eine radikale, eine buchstäbliche Selbstentblößung, aber nicht die Klugheit, ihn ohne Überhöhung, ohne Provokation, ohne Deutungsballast - einfach unübersetzt - zu lassen.
Martin Walser: "Der Augenblick der Liebe". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 254 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kein Skandal sondern "nur eine Enttäuschung" ist Martin Walsers neues Buch für Rezensent Richard Kämmerlings. Dieser erste Roman nach dem Wechsel Walsers von Suhrkamp zu Rowohlt variiere ein weiteres Mal Walsers Thema von "Alltag, Ausbruch und Rückkehr" anhand einer Liebesgeschichte zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau. Diesmal funktioniert das für den Kritiker nicht. Und das weiß auch Walser, glaubt er. Warum sonst die Anspielungen auf die umstrittene Paulskirchenrede und die FAZ-Kritik an seinem "unsäglichen" Roman "Tod eines Kritikers". Warum hat er das nötig, fragt sich Kämmerlings Die Antwort ist ernüchternd: Walser wisse genau, wie wenig sein Altersliebesroman als Parabel belastbar sei und wolle nun abermals ein Hase-und-Igel-Spiel mit der Öffentlichkeit und dem erwartbaren Entrüstungssturm treiben. Diesmal in Kämmerlings Augen freilich vergebens.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Walsers schönster Roman." - SWR
Dieser meisterhaft beschriebene Augenblick des Sich-Verliebens, dieses blitzartige Ineinander fallen [...] Wie der Sprachkünstler Walser die beiden Erzählgeschosse miteinander verbindet, die Liebesaffäre eines alten Mannes mit einer jungen Frau im Licht des Atheisten La Mettrie deutet [...], das reizt zum Widerspruch und zum Nachdenken, das macht ihm keiner nach. Die Zeit