Vor dem Kriegseintritt der Amerikaner brodelt es in den Straßen New Yorks. Antisemitische und rassistische Gruppierungen eifern um die Sympathie der Massen, deutsche Nationalisten feiern Hitler als den Mann der Stunde. Der rheinländische Auswanderer Josef Klein lebt davon relativ unberührt; er widmet sich lieber seiner großen Leidenschaft, dem Amateurfunken. So lernt er auch Lauren kennen, eine junge Aktivistin, die eine große Sympathie für den stillen Deutschen hegt. Doch Josefs technische Fähigkeiten im Funkerbereich erregen die Aufmerksamkeit einflussreicher Männer, und noch ehe er das Geschehen richtig deuten kann, ist Josef bereits ein Rädchen im Getriebe des Spionagenetzwerks der deutschen Abwehr.
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buecher-magazin.deJosef Klein wird überrannt von seiner eigenen Geschichte. Als junger Mann ist er aus Deutschland in die USA ausgewandert und ergattert einen Job in einer Druckerei. Viel Geld ist dort nicht zu verdienen, aber er braucht nicht viel und widmet sich in seiner Freizeit begeistert dem Amateurfunk. Irgendwann wird er angesprochen: Seine Fähigkeiten sind gefragt, er könnte sich mit ein paar Aufträgen etwas dazuverdienen. Es ist 1939 und eigentlich weiß er, was in Deutschland vor sich geht, hat selbst Kontakte zu nationalistisch eingestellten Deutschen in New York. Die Augen verschließen vor dem Offensichtlichen – wie geht das? Lenzes Erzählung arbeitet mit Rückblenden und folgt Josef Kleins Geschichte, während er sich nach dem anfänglichen Übermitteln bloßer Zahlenreihen bald nicht mehr mit Unwissenheit herausreden kann. Er arbeitet für die Deutschen, wird vom Empfänger zum Sender und bleibt doch jenseits des Funkgeräts ein Empfänger von Anweisungen. So wenig Haltung in seinem Tun steckt, so wenig zeigt er später Reue. Das Verhalten des Protagonisten, mal überstürzt und heftig, mal aufschiebend oder gar nicht reagierend, transportiert der Roman in ruhigen, ernsten Tönen. Die Chancen, Kontrolle über die Situation zu erlangen, scheinen dem Leser greifbar – für den Protagonisten sind sie es nicht wirklich.
© BÜCHERmagazin, Melanie Schippling
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Martin Halter schätzt Ulla Lenzes literarische Ausflüge um den Globus. Wenn Lenze dem "zufällig" mit den Nazis kollaborierenden Hobbyfunker Josef Klein, laut Halter ein Mann ohne Eigenschaften, 1924 von Neuss nach Amerika, weiter nach Argentinien und wieder zurück folgt, ahnt Halter, welchen Typus die Autorin im Sinn hat: den exemplarischen Mitläufer samt Heimattreue und Ausbruchsfantasien. Lenzes Einfühlung in die Figur findet der Rezensent bemerkenswert. Leider bleibt dieser Klein blass und von "begrenzter historisch-literarischer Reichweite", so Halter.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2020Amateurfunker im Rauschen des zwanzigsten Jahrhunderts
Morsesignale in die Gegenwart: Ulla Lenzes Roman "Der Empfänger" erinnert an ein vergessenes Kapitel deutsch-amerikanischer Geschichte
Ulla Lenzes "Empfänger" hat viele Deck- und Necknamen, dabei trägt er den Allerweltsnamen schlechthin: Er heißt Josef Klein, in Amerika auch "Joe", zuletzt, in Südamerika "José". Josef Klein war der Bruder von Lenzes Großvaters, aber der Name passt schon: Wo immer das Schicksal ihn hinwehte, war er der kleine Mann aus Neuss, gerade mal 1,63 Meter groß, eine Randfigur der großen Geschichte. Und mehr wollte der leidenschaftliche Amateurfunker auch eigentlich nicht sein: unsichtbare Stimme im Rauschen der Frequenzen, passiver Weltempfänger, nicht aktiver Sender.
1924 wanderte Josef nach Amerika aus. New York überwältigt und erschlägt ihn, aber er fasst nie richtig Fuß. Er bleibt der kleine Hobbyfunker, der Druckereigehilfe aus dem Dunstkreis der großdeutschen Gemeinde. 1939 wird er vorübergehend wichtig, und das bekommt ihm nicht gut: Josef baut, angeblich ahnungslos, ein mobiles Funkgerät für den berüchtigten Nazi-Spionagering, der mit Filmen wie "Confessions of a Nazi Spy" (1939) und "The House on 92nd Street" (1945) in die Hollywood-Mythologie einging. Mit fünf Jahren Gefängnis kommt er relativ glimpflich davon, auch weil er sich als Spion umdrehen ließ und sein Prozess vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten stattfand.
Nach seiner Haftentlassung - an diesem Punkt setzt Lenzes Geschichte ein - kehrt Josef vorübergehend nach Neuss zurück. Deutschland ist ihm fremd geworden, und die Zuhausegebliebenen mögen die heimkehrenden Emigranten nicht. Carl ist ein Wirtschaftswunderspießer, ordentlich, misstrauisch, unbelehrbar; die unerklärte Zuneigung zu seiner schönen, kühlen Frau macht Josef das Bleiben unmöglich. Er zieht weiter nach Argentinien, ins Zufluchtsland der untergetauchten Nazis, dabei will er auch jetzt nicht mit den alten Kameraden paktieren. So treibt er immer weiter ins Abseits, bis sich seine Spur 1953 im Dschungel Costa Ricas verliert. Sein großes Ziel, die Wiedereinbürgerung in die Vereinigten Staaten, wird Klein nie erreichen.
Er bewundert und liebt schwarze Jazzmusik, Hochhäuser, die Vielfalt der Immigranten, aber er ist zu schüchtern, um sich in den brodelnden Strudel des melting pot zu stürzen. Thoreaus "Walden" ist seine Bibel, New York seine Traumstadt, aber nachts denkt er heimlich an Deutschland. Die Massenaufmärsche der Nazi-Sympathisanten im Madison Square Garden 1939 erlebt er allerdings nur als skeptischer Zaungast. Ihre Führer, großmäulige kleine Hitlers wie Fritz Joubert Duquesne, Schmuederrich oder Fritz Kuhn, sind ihm nicht geheuer, aber als sie den Tüftler Klein bitten, ab und zu kryptische "geschäftliche" Nachrichten heim ins Reich zu morsen, stellt er keine Fragen. Anders seine Freundin, die selbstbewusste junge Lauren: Die resolute Patriotin wird Joe ans FBI verraten, weil er es selbst nicht schafft, Position zu beziehen.
Man braucht kein besonders feines Ohr, um die Signale zu hören, die "Der Empfänger" in die Gegenwart sendet. Josef Klein ist der exemplarische Mitläufer, ein heimatloser, entwurzelter Nerd, hin- und hergerissen zwischen den globalen Synkopen des Jazz und dem deutschen Dumpfsinn von Blasmusik, Sauerkraut und Bier im "Alt-Heidelberg", zwischen trotziger Heimattreue und dem Wunsch nach Ausbruch und Verwandlung. Ulla Lenze hat in ihrem Werk immer wieder Wunder und Glück der Globalisierung beschrieben, aber auch deren Kosten und Opfer nie unterschlagen. Reisen und Schreiben, Fremdheit erfahren und literarisch reflektieren, waren für sie seit jeher eins. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr war sie unterwegs, erst als Rucksacktouristin in Indien, später dann auch als Stadtschreiberin in Damaskus, Writer in Residence in Istanbul und Goethe-Stipendiatin in Mumbai. In bislang vier Romanen erzählte sie von den Krisen und interkulturellen Konflikte, die westliche Besucher abseits touristischer Routen und Routinen erleben.
In "Der kleine Rest des Todes" hatte sie sich mit dem Tod ihres Vaters auseinander, jetzt hat Lenze den Familien- und Globalisierungsroman an einen historischen Stoff anzudocken versucht. Auf drei Zeitebenen - 1939, 1949, 1953 -, mit großem Einfühlungsvermögen und kurzen lakonischen Sätzen, nähert sie sich einer verlorenen Seele in der Fremde und einem weithin vergessenen Kapitel deutscher Geschichte an. Aber die Hauptfigur bleibt zu blass und passiv, um die Geschichte zu beleben: Josef Klein ist ein Mann fast ohne Eigenschaften, ein naiver Tagträumer ohne Leidenschaften und Meinungen. Lenze insistiert in einer Vorbemerkung, dass er ihre literarische Erfindung sei, auch wenn der Roman auf der Lebensgeschichte und den Briefen ihres Großonkels beruhe. Aber der Hobbyfunker, der wie aus Versehen Nazispion wird, bleibt trotz weltumspannender Funk- und Morseverbindungen eine Figur von begrenzter historisch-literarischer Reichweite und Wellenlänge.
MARTIN HALTER
Ulla Lenze: "Der Empfänger". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 302 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Morsesignale in die Gegenwart: Ulla Lenzes Roman "Der Empfänger" erinnert an ein vergessenes Kapitel deutsch-amerikanischer Geschichte
Ulla Lenzes "Empfänger" hat viele Deck- und Necknamen, dabei trägt er den Allerweltsnamen schlechthin: Er heißt Josef Klein, in Amerika auch "Joe", zuletzt, in Südamerika "José". Josef Klein war der Bruder von Lenzes Großvaters, aber der Name passt schon: Wo immer das Schicksal ihn hinwehte, war er der kleine Mann aus Neuss, gerade mal 1,63 Meter groß, eine Randfigur der großen Geschichte. Und mehr wollte der leidenschaftliche Amateurfunker auch eigentlich nicht sein: unsichtbare Stimme im Rauschen der Frequenzen, passiver Weltempfänger, nicht aktiver Sender.
1924 wanderte Josef nach Amerika aus. New York überwältigt und erschlägt ihn, aber er fasst nie richtig Fuß. Er bleibt der kleine Hobbyfunker, der Druckereigehilfe aus dem Dunstkreis der großdeutschen Gemeinde. 1939 wird er vorübergehend wichtig, und das bekommt ihm nicht gut: Josef baut, angeblich ahnungslos, ein mobiles Funkgerät für den berüchtigten Nazi-Spionagering, der mit Filmen wie "Confessions of a Nazi Spy" (1939) und "The House on 92nd Street" (1945) in die Hollywood-Mythologie einging. Mit fünf Jahren Gefängnis kommt er relativ glimpflich davon, auch weil er sich als Spion umdrehen ließ und sein Prozess vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten stattfand.
Nach seiner Haftentlassung - an diesem Punkt setzt Lenzes Geschichte ein - kehrt Josef vorübergehend nach Neuss zurück. Deutschland ist ihm fremd geworden, und die Zuhausegebliebenen mögen die heimkehrenden Emigranten nicht. Carl ist ein Wirtschaftswunderspießer, ordentlich, misstrauisch, unbelehrbar; die unerklärte Zuneigung zu seiner schönen, kühlen Frau macht Josef das Bleiben unmöglich. Er zieht weiter nach Argentinien, ins Zufluchtsland der untergetauchten Nazis, dabei will er auch jetzt nicht mit den alten Kameraden paktieren. So treibt er immer weiter ins Abseits, bis sich seine Spur 1953 im Dschungel Costa Ricas verliert. Sein großes Ziel, die Wiedereinbürgerung in die Vereinigten Staaten, wird Klein nie erreichen.
Er bewundert und liebt schwarze Jazzmusik, Hochhäuser, die Vielfalt der Immigranten, aber er ist zu schüchtern, um sich in den brodelnden Strudel des melting pot zu stürzen. Thoreaus "Walden" ist seine Bibel, New York seine Traumstadt, aber nachts denkt er heimlich an Deutschland. Die Massenaufmärsche der Nazi-Sympathisanten im Madison Square Garden 1939 erlebt er allerdings nur als skeptischer Zaungast. Ihre Führer, großmäulige kleine Hitlers wie Fritz Joubert Duquesne, Schmuederrich oder Fritz Kuhn, sind ihm nicht geheuer, aber als sie den Tüftler Klein bitten, ab und zu kryptische "geschäftliche" Nachrichten heim ins Reich zu morsen, stellt er keine Fragen. Anders seine Freundin, die selbstbewusste junge Lauren: Die resolute Patriotin wird Joe ans FBI verraten, weil er es selbst nicht schafft, Position zu beziehen.
Man braucht kein besonders feines Ohr, um die Signale zu hören, die "Der Empfänger" in die Gegenwart sendet. Josef Klein ist der exemplarische Mitläufer, ein heimatloser, entwurzelter Nerd, hin- und hergerissen zwischen den globalen Synkopen des Jazz und dem deutschen Dumpfsinn von Blasmusik, Sauerkraut und Bier im "Alt-Heidelberg", zwischen trotziger Heimattreue und dem Wunsch nach Ausbruch und Verwandlung. Ulla Lenze hat in ihrem Werk immer wieder Wunder und Glück der Globalisierung beschrieben, aber auch deren Kosten und Opfer nie unterschlagen. Reisen und Schreiben, Fremdheit erfahren und literarisch reflektieren, waren für sie seit jeher eins. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr war sie unterwegs, erst als Rucksacktouristin in Indien, später dann auch als Stadtschreiberin in Damaskus, Writer in Residence in Istanbul und Goethe-Stipendiatin in Mumbai. In bislang vier Romanen erzählte sie von den Krisen und interkulturellen Konflikte, die westliche Besucher abseits touristischer Routen und Routinen erleben.
In "Der kleine Rest des Todes" hatte sie sich mit dem Tod ihres Vaters auseinander, jetzt hat Lenze den Familien- und Globalisierungsroman an einen historischen Stoff anzudocken versucht. Auf drei Zeitebenen - 1939, 1949, 1953 -, mit großem Einfühlungsvermögen und kurzen lakonischen Sätzen, nähert sie sich einer verlorenen Seele in der Fremde und einem weithin vergessenen Kapitel deutscher Geschichte an. Aber die Hauptfigur bleibt zu blass und passiv, um die Geschichte zu beleben: Josef Klein ist ein Mann fast ohne Eigenschaften, ein naiver Tagträumer ohne Leidenschaften und Meinungen. Lenze insistiert in einer Vorbemerkung, dass er ihre literarische Erfindung sei, auch wenn der Roman auf der Lebensgeschichte und den Briefen ihres Großonkels beruhe. Aber der Hobbyfunker, der wie aus Versehen Nazispion wird, bleibt trotz weltumspannender Funk- und Morseverbindungen eine Figur von begrenzter historisch-literarischer Reichweite und Wellenlänge.
MARTIN HALTER
Ulla Lenze: "Der Empfänger". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 302 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Elastizität von Ulla Lenzes Sprache sorgt dafür, dass der Roman Thriller und Seelenporträt zugleich sein kann. [...] Das Gespenstische an Der Empfänger ist eine Aktualität, die aber niemals deutlich ausgestellt wird. [...] Der Empfänger morst die Zeichen der Vergangenheit in die Gegenwart. Im Äther des Politischen bleibt alles für immer da. Von Josef Klein ist ein Bündel Briefe geblieben, die er seinem Bruder geschrieben hat. Und jetzt gibt es einen ganzen, hoch sensiblen Roman über einen Menschen, der nicht viele Gefühle kannte. Ausser einem: 'das lebenswichtige Gefühl des Verschwindenkönnens'« Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 10.07.2020 Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung 20200710
Er hat nichts gewusst
Während des Zweiten Weltkriegs spionierte Ulla Lenzes Großonkel für die Nazis in den USA.
In ihrem Roman „Der Empfänger“ zeichnet sie ihn als eigenschaftslosen Mitläufer
VON JÖRG MAGENAU
Eine Romanfigur, die mit 1,63 Meter ein ausgesprochen kleiner Mann ist, sollte vielleicht nicht unbedingt Josef Klein heißen. Würde man der Autorin den sprechenden Namen ihres Helden zum Vorwurf machen, würde sie aber wohl antworten: So ist es halt gewesen. Ulla Lenze hat mit „Der Empfänger“ einen historischen Roman geschrieben, dessen Personal sich googeln lässt. So ist im Internet sogar ein Foto von diesem Josef Klein zu finden. Er war eines von 33 verurteilten Mitgliedern des sogenannten Duquesne-Spionagerings, der vor und während des Zweiten Weltkriegs in den USA Informationen für Hitler-Deutschland sammelte und Sabotageakte plante.
Josef Klein ist außerdem der Großonkel von Ulla Lenze. Er emigrierte 1924 in die USA, nannte sich dort Joe und schlug sich in New York als Gelegenheitsarbeiter und Hobbyfunker durch. Er war ein Einzelgänger und Abenteurer ohne besondere ideologische Prägungen, dessen technische Leidenschaft fürs Funken ihn jedoch zu einem geeigneten Kandidaten für den deutschen Geheimdienst werden ließ. Eigentlich wollte er zusammen mit seinem Bruder Carl auswandern, dem Großvater von Ulla Lenze, doch der erlitt kurz vor der geplanten Ausreise einen Arbeitsunfall, bei dem er ein Auge verlor, und erhielt deshalb keine Einreisegenehmigung. So blieb Carl als Händler und Lieferant im heimatlichen Neuss, heiratete dort eine wie er immer sagt „tüchtige Frau“, mit der er zwei Kinder hat, und wird zu einem wackeren Kleinbürger. Zwei Brüder, zwei divergierende Lebensmöglichkeiten. Die Briefe, die sie sich über all die Entfernung hinweg schrieben, dienten Ulla Lenze nun neben den Erinnerungen ihrer Mutter als Quelle für ihren fünften Roman, der jedoch viel mehr ist als bloß eine Familiengeschichte.
Der zeitliche Rahmen, in den Ulla Lenze mehrere Erzählebenen einbaut, reicht von 1924 bis 1953. In der Vergangenheitsform entwickelt sie die zentrale Spionage-Story, mit der sie ein nur wenig bekanntes Kapitel der NS-Geschichte beleuchtet. Es sind ziemlich dubiose, aber auch dilettantische Gestalten, die Josef Klein 1939 kennenlernt, und denen er als Funker dabei hilft, Daten über den Atlantik nach Europa zu senden, ohne dass er weiß, was er da eigentlich tut. Sie nehmen ihn auch mit zu einer Kundgebung der „Amerikanischen Patrioten“ im Madison Square Garden, einer faschistischen Gruppierung, die sich unter der Führerschaft des amerikanischen Nazis Fritz Julius Kuhn auf Hitlers Endsieg und die Weltherrschaft vorbereitete, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass Hitler diesem Kuhn misstraute, weil der sich allzu hemmungslos als dessen kontinentaler Stellvertreter gerierte.
Den deutschen Migranten schlug in dieser Zeit ein generelles Misstrauen entgegen, bis zur Parole „Kauft nicht bei Deutschen!“. Alle waren sie verdächtig und in ihrer tumben Sauerkrauthaftigkeit auch ein wenig lächerlich. Das gilt auch für das zögerliche Liebesverhältnis zwischen Josef und der Amateurfunkerin Lauren, die sich zunächst im Äther kennenlernen, bald aber leibhaftig treffen. Lauren ist klar, dass Josef ihr etwas verschweigt, spätestens, nachdem sie zusammen im Kino den Propagandafilm „Confessions Of A Nazi Spy“ gesehen haben. Sein Geheimnis und ihr Verdacht führen zu einem gegenseitigen Belauern, in dem zwar Leidenschaft, aber keine wirkliche Liebe entstehen kann. Ob Lauren, die Josef schließlich dazu bringt, sich zu stellen, selbst für das FBI gearbeitet hat, bleibt offen. Doch er hat ihr zu verdanken, dass er schließlich mit sieben Jahren Haft davonkommt.
Für die Haftzeit interessiert Ulla Lenze sich kaum. Erst 1949 wendet sie sich wieder ihren Figuren zu, als Josef, frisch entlassen und sofort aus den USA ausgewiesen, zu seinem Bruder nach Neuss zurückkehrt. Obwohl er wahrlich Zeit genug gehabt hätte, über seine Rolle als Mitläufer und Mittäter nachzudenken, inszeniert er sich dort als einer, dem, wie allen Deutschen, Unrecht widerfahren ist, weil es schon genügt habe, Deutscher zu sein, um interniert zu werden.
Auch die Bedeutung des Spionagerings changiert: Mal möchte Josef glauben, es habe sich tatsächlich um Widerständler gegen Hitler gehandelt, weil sie ihr Scheitern einplanten und dem „Reich“ damit schadeten. Mal sieht er sich bloß als nützlichen Idioten, der mit seiner eigentlich harmlosen Funkerei von den wirklichen Aktionen, Sabotageakten und einem Sprengstoffanschlag in einer Munitionsfabrik ablenken sollte. Doch zu solchen Anschlägen war die Gruppe wohl gar nicht in der Lage gewesen; bei der Explosion in einer Munitionsfabrik in New Jersey handelte es sich wohl eher um einen Unfall.
Rechtfertigung für das, was man getan hat oder auch nicht, vergiftet das Verhältnis der beiden Brüder, das Lenze im Präsens und in eindrücklichen Szenen schildert. Zwischen den beiden befindet sich Carls Frau, in die Josef sich ein bisschen verliebt, und der er zu verstehen geben möchte, dass sie ein besseres Leben verdient hätte, als bloß Hausfrau in der Provinz zu sein. Er ist der Welterfahrene, Weitgereiste und spielt diese Karte ohne zu zögern aus.
Carl wirft Josef weniger dessen fragwürdiges politisches Engagement vor, als die Tatsache, das Land verlassen und deshalb Bombennächte, Zerstörung und Hunger nicht erlebt und geteilt zu haben. Josef hält ihm entgegen, dass es nicht ausreicht, Radio London gehört zu haben, um sich jetzt als Widerständler zu gerieren. So spiegelt sich im Verhältnis der Brüder das generelle Misstrauen zwischen Exilanten und Zuhausegebliebenen, wie es die deutsche Nachkriegsgesellschaft prägte.
Josef kann mit seiner Geschichte nicht mehr heimisch werden im fremd gewordenen Land seiner Herkunft. Deshalb zieht es ihn wieder weg. Mithilfe seiner Verbindungen zu alten Nazis gelangt er nach Buenos Aires und von dort schließlich nach Costa Rica, der dritten, den Roman als Klammer umschließenden Handlungsebene. Wenn er dort am Ende ein Eichhörnchen aus einem Käfig befreit, dann ist das vielleicht ein Zeichen dafür, dass auch er endlich seinen Ort und seinen Frieden gefunden haben mag.
Ulla Lenzes „Der Empfänger“ besticht durch die Fülle an historischen Details und durch eine präzise Recherche. Josef Klein fungiert darin als die leere Mitte, als Mann ohne Eigenschaften, ohne Meinung und im Grunde auch ohne Ziel – egal wie weit er auch herumgekommen ist. Seine Kleinheit ist programmatisch. Ob Lenze mit dieser Romanfigur das historische Vorbild getroffen hat, ist schwer zu sagen, spielt aber auch keine Rolle. Vielleicht ist sie auch ein wenig den Familienlegenden auf den Leim gegangen, indem sie den Großonkel als unideologischen, ins Geschehen unwillentlich hineingezogenen Mitläufer schildert. So ganz nimmt man ihm die Unschuld und die Unwissenheit, in die er sich rettete, nicht ab. Die auktoriale, immer ganz dicht an ihrem Helden bleibende Erzählstimme erlaubt es aber nicht, derlei Selbstfiktionalisierungen, wie sie in vielen deutschen Familien nach dem Krieg betrieben wurden, in den Blick zu bekommen. Die Stärke dieses beeindruckenden Romans besteht jedoch gerade darin, dass all diese Fragen anklingen, ohne penetrant erörtert zu werden. Lenze legt sich genauso wenig fest wie ihr Held. Sie erzählt, anstatt zu bewerten und zu moralisieren. So schafft sie den Raum, in dem ihre Figuren lebendig werden können und verwandelt dieses Stück ihrer Familiengeschichte in Literatur.
Ulla Lenze: Der Empfänger. Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 302 Seiten, 22 Euro.
In den USA misstraute man
deutschen Migranten, sie
waren generell verdächtig
Der Roman erörtert die
Schuldfrage nicht, sondern
entfaltet sie erzählerisch
Ihr Großonkel spionierte für die Nazis und gab sich nach dem Krieg unschuldig und unwissend. In ihrem Roman aber moralisiert sie nicht, sondern schafft einen Raum, in dem die Figuren lebendig werden können: die Schriftstellerin Ulla Lenze.
Foto: Julien Menand/Opale/Leemage/laif
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Während des Zweiten Weltkriegs spionierte Ulla Lenzes Großonkel für die Nazis in den USA.
In ihrem Roman „Der Empfänger“ zeichnet sie ihn als eigenschaftslosen Mitläufer
VON JÖRG MAGENAU
Eine Romanfigur, die mit 1,63 Meter ein ausgesprochen kleiner Mann ist, sollte vielleicht nicht unbedingt Josef Klein heißen. Würde man der Autorin den sprechenden Namen ihres Helden zum Vorwurf machen, würde sie aber wohl antworten: So ist es halt gewesen. Ulla Lenze hat mit „Der Empfänger“ einen historischen Roman geschrieben, dessen Personal sich googeln lässt. So ist im Internet sogar ein Foto von diesem Josef Klein zu finden. Er war eines von 33 verurteilten Mitgliedern des sogenannten Duquesne-Spionagerings, der vor und während des Zweiten Weltkriegs in den USA Informationen für Hitler-Deutschland sammelte und Sabotageakte plante.
Josef Klein ist außerdem der Großonkel von Ulla Lenze. Er emigrierte 1924 in die USA, nannte sich dort Joe und schlug sich in New York als Gelegenheitsarbeiter und Hobbyfunker durch. Er war ein Einzelgänger und Abenteurer ohne besondere ideologische Prägungen, dessen technische Leidenschaft fürs Funken ihn jedoch zu einem geeigneten Kandidaten für den deutschen Geheimdienst werden ließ. Eigentlich wollte er zusammen mit seinem Bruder Carl auswandern, dem Großvater von Ulla Lenze, doch der erlitt kurz vor der geplanten Ausreise einen Arbeitsunfall, bei dem er ein Auge verlor, und erhielt deshalb keine Einreisegenehmigung. So blieb Carl als Händler und Lieferant im heimatlichen Neuss, heiratete dort eine wie er immer sagt „tüchtige Frau“, mit der er zwei Kinder hat, und wird zu einem wackeren Kleinbürger. Zwei Brüder, zwei divergierende Lebensmöglichkeiten. Die Briefe, die sie sich über all die Entfernung hinweg schrieben, dienten Ulla Lenze nun neben den Erinnerungen ihrer Mutter als Quelle für ihren fünften Roman, der jedoch viel mehr ist als bloß eine Familiengeschichte.
Der zeitliche Rahmen, in den Ulla Lenze mehrere Erzählebenen einbaut, reicht von 1924 bis 1953. In der Vergangenheitsform entwickelt sie die zentrale Spionage-Story, mit der sie ein nur wenig bekanntes Kapitel der NS-Geschichte beleuchtet. Es sind ziemlich dubiose, aber auch dilettantische Gestalten, die Josef Klein 1939 kennenlernt, und denen er als Funker dabei hilft, Daten über den Atlantik nach Europa zu senden, ohne dass er weiß, was er da eigentlich tut. Sie nehmen ihn auch mit zu einer Kundgebung der „Amerikanischen Patrioten“ im Madison Square Garden, einer faschistischen Gruppierung, die sich unter der Führerschaft des amerikanischen Nazis Fritz Julius Kuhn auf Hitlers Endsieg und die Weltherrschaft vorbereitete, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass Hitler diesem Kuhn misstraute, weil der sich allzu hemmungslos als dessen kontinentaler Stellvertreter gerierte.
Den deutschen Migranten schlug in dieser Zeit ein generelles Misstrauen entgegen, bis zur Parole „Kauft nicht bei Deutschen!“. Alle waren sie verdächtig und in ihrer tumben Sauerkrauthaftigkeit auch ein wenig lächerlich. Das gilt auch für das zögerliche Liebesverhältnis zwischen Josef und der Amateurfunkerin Lauren, die sich zunächst im Äther kennenlernen, bald aber leibhaftig treffen. Lauren ist klar, dass Josef ihr etwas verschweigt, spätestens, nachdem sie zusammen im Kino den Propagandafilm „Confessions Of A Nazi Spy“ gesehen haben. Sein Geheimnis und ihr Verdacht führen zu einem gegenseitigen Belauern, in dem zwar Leidenschaft, aber keine wirkliche Liebe entstehen kann. Ob Lauren, die Josef schließlich dazu bringt, sich zu stellen, selbst für das FBI gearbeitet hat, bleibt offen. Doch er hat ihr zu verdanken, dass er schließlich mit sieben Jahren Haft davonkommt.
Für die Haftzeit interessiert Ulla Lenze sich kaum. Erst 1949 wendet sie sich wieder ihren Figuren zu, als Josef, frisch entlassen und sofort aus den USA ausgewiesen, zu seinem Bruder nach Neuss zurückkehrt. Obwohl er wahrlich Zeit genug gehabt hätte, über seine Rolle als Mitläufer und Mittäter nachzudenken, inszeniert er sich dort als einer, dem, wie allen Deutschen, Unrecht widerfahren ist, weil es schon genügt habe, Deutscher zu sein, um interniert zu werden.
Auch die Bedeutung des Spionagerings changiert: Mal möchte Josef glauben, es habe sich tatsächlich um Widerständler gegen Hitler gehandelt, weil sie ihr Scheitern einplanten und dem „Reich“ damit schadeten. Mal sieht er sich bloß als nützlichen Idioten, der mit seiner eigentlich harmlosen Funkerei von den wirklichen Aktionen, Sabotageakten und einem Sprengstoffanschlag in einer Munitionsfabrik ablenken sollte. Doch zu solchen Anschlägen war die Gruppe wohl gar nicht in der Lage gewesen; bei der Explosion in einer Munitionsfabrik in New Jersey handelte es sich wohl eher um einen Unfall.
Rechtfertigung für das, was man getan hat oder auch nicht, vergiftet das Verhältnis der beiden Brüder, das Lenze im Präsens und in eindrücklichen Szenen schildert. Zwischen den beiden befindet sich Carls Frau, in die Josef sich ein bisschen verliebt, und der er zu verstehen geben möchte, dass sie ein besseres Leben verdient hätte, als bloß Hausfrau in der Provinz zu sein. Er ist der Welterfahrene, Weitgereiste und spielt diese Karte ohne zu zögern aus.
Carl wirft Josef weniger dessen fragwürdiges politisches Engagement vor, als die Tatsache, das Land verlassen und deshalb Bombennächte, Zerstörung und Hunger nicht erlebt und geteilt zu haben. Josef hält ihm entgegen, dass es nicht ausreicht, Radio London gehört zu haben, um sich jetzt als Widerständler zu gerieren. So spiegelt sich im Verhältnis der Brüder das generelle Misstrauen zwischen Exilanten und Zuhausegebliebenen, wie es die deutsche Nachkriegsgesellschaft prägte.
Josef kann mit seiner Geschichte nicht mehr heimisch werden im fremd gewordenen Land seiner Herkunft. Deshalb zieht es ihn wieder weg. Mithilfe seiner Verbindungen zu alten Nazis gelangt er nach Buenos Aires und von dort schließlich nach Costa Rica, der dritten, den Roman als Klammer umschließenden Handlungsebene. Wenn er dort am Ende ein Eichhörnchen aus einem Käfig befreit, dann ist das vielleicht ein Zeichen dafür, dass auch er endlich seinen Ort und seinen Frieden gefunden haben mag.
Ulla Lenzes „Der Empfänger“ besticht durch die Fülle an historischen Details und durch eine präzise Recherche. Josef Klein fungiert darin als die leere Mitte, als Mann ohne Eigenschaften, ohne Meinung und im Grunde auch ohne Ziel – egal wie weit er auch herumgekommen ist. Seine Kleinheit ist programmatisch. Ob Lenze mit dieser Romanfigur das historische Vorbild getroffen hat, ist schwer zu sagen, spielt aber auch keine Rolle. Vielleicht ist sie auch ein wenig den Familienlegenden auf den Leim gegangen, indem sie den Großonkel als unideologischen, ins Geschehen unwillentlich hineingezogenen Mitläufer schildert. So ganz nimmt man ihm die Unschuld und die Unwissenheit, in die er sich rettete, nicht ab. Die auktoriale, immer ganz dicht an ihrem Helden bleibende Erzählstimme erlaubt es aber nicht, derlei Selbstfiktionalisierungen, wie sie in vielen deutschen Familien nach dem Krieg betrieben wurden, in den Blick zu bekommen. Die Stärke dieses beeindruckenden Romans besteht jedoch gerade darin, dass all diese Fragen anklingen, ohne penetrant erörtert zu werden. Lenze legt sich genauso wenig fest wie ihr Held. Sie erzählt, anstatt zu bewerten und zu moralisieren. So schafft sie den Raum, in dem ihre Figuren lebendig werden können und verwandelt dieses Stück ihrer Familiengeschichte in Literatur.
Ulla Lenze: Der Empfänger. Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 302 Seiten, 22 Euro.
In den USA misstraute man
deutschen Migranten, sie
waren generell verdächtig
Der Roman erörtert die
Schuldfrage nicht, sondern
entfaltet sie erzählerisch
Ihr Großonkel spionierte für die Nazis und gab sich nach dem Krieg unschuldig und unwissend. In ihrem Roman aber moralisiert sie nicht, sondern schafft einen Raum, in dem die Figuren lebendig werden können: die Schriftstellerin Ulla Lenze.
Foto: Julien Menand/Opale/Leemage/laif
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Ein leiser, überzeugender Roman über Verantwortung und Mitläufertum. BÜCHER Magazin, Februar-März 2022