Geschichten, geschrieben zwischen 1979 und 2011, Chronik und Prophezeiung: Die Karibik, Griechenland, Manhattan, ein Gefängnis für Wirtschaftsdelikte und das Weltall sind die Schauplätze. Unsere paranoide Gegenwart durch das Brennglas eines Visionärs. Es gibt keinen Dichter des US amerikanischen Sprachraums, der mit solcher Lakonie so viel Spannung und Geheimnis aufbauen kann. Beim Hören dieser Geschichten verändert sich die literarische Erdoberfläche, sie bekommt eine vierte, auratische Dimension.
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"DeLillos schriftstellerische Laufbahn im Mikrokosmos ... Der Band unterstreicht seinen Status als einer der größten lebenden Schriftsteller Amerikas." -- New York Observer
"Luftig und kompakt, zugespitzt und geheimnisvoll" -- The New Yorker
"Das Werk eines wahren Meisters" -- The Guardian
"Luftig und kompakt, zugespitzt und geheimnisvoll" -- The New Yorker
"Das Werk eines wahren Meisters" -- The Guardian
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2012Hier gibt es nur Geheimnisgewissheit
Don DeLillo gilt als einer der größten amerikanischen Romanciers. Doch in den letzten dreißig Jahren sind auch Erzählungen entstanden, die der Autor aber sorgsam zurückhielt. Nun erscheinen sie endlich als Buch.
Von Christian Metz
Am Anfang von Don DeLillos Erzählband "Der Engel Esmeralda" steht ein schreibökonomischer Coup. Obwohl der sechsundsiebzigjährige Autor seinem Werk nur einen einzigen, jüngst verfassten Text hinzufügt, erweitert er es doch um eine wesentliche Facette. Als steten Verfasser der traditionsreichen short story kannte man DeLillo bislang nicht. Jetzt aber präsentiert er neun Erzählungen aus einer Zeitspanne von 1979 bis 2011, die er offenbar sorgsam aufgespart hat.
Das durchaus heikle Manöver löst sich ein, weil die Kurzgeschichten eine atemberaubende erzählerische Klasse aufweisen. Worin die liegt, bekommt man in den Blick, wenn man den Erzählungen bis zu ihrer Wurzel folgt. Ihren Ausgangspunkt nehmen sie in einer Charaktereigenschaft, die alle auftretenden Protagonisten teilen. Alle neun sind hochsensibilisiert, mitunter überempfindlich gegenüber Menschen und Dingen, Gedanken und Gefühlen. Ihr Feinsinn richtet sich vor allem auf Phänomene, die "am Rande aufschimmern". Die Figuren nehmen aber nicht nur anderes, sondern auch anders wahr. Aufgrund dieser Begabung können sie - wie die Studenten in der Erzählung "Mitternacht in Dostojewskij" (aus dem Jahr 2009) - von sich behaupten, "dass wir bei aller Normalität eigentlich gewohnheitsmäßig gestört sind, alltagsverrückt".
Die einzelnen Geschichten spielen Varianten dieser Alltagsverrücktheit durch. In der genannten Erzählung beobachten die Studenten ausgerechnet ihren Logik-Professor so intensiv, bis sie davon überzeugt sind, dass er unter einer unbekannten Infektionskrankheit leidet. Das Phantasiespiel kippt in Furor, als sie auf die feuchte Aussprache des Logiklehrers aufmerksam werden: "Manchmal hustete er in die Hand, manchmal auf den Tisch, und wir stellten uns mikroskopisch kleine Lebensformen vor, die auf die Tischplatte spritzten und als Querschläger in unseren Einatmungsraum prallten. Wer ihm am nächsten saß, duckte sich mit einem Zucken weg, das zugleich ein halb entschuldigendes Lachen war."
Eine alltägliche Spielart des verrückten Blicks bildet die Keimzelle von "Der Läufer" (1988). Flüchtig bemerkt ein Jogger, wie ein Auto plötzlich eine Wiese quert: ",Haben Sie gesehen, was passiert ist?' ,Nein. Eigentlich nur das Auto ungefähr zwei Sekunden lang.'" Mehr weiß und mehr erfährt man nicht. In der Titelgeschichte "Der Engel Esmeralda" (1994), die in den Roman "Unterwelt" eingegangen ist, weicht der Blick einem Gefühl. Die Nonne Edgar erspürt "aufwirbelnde Informationen auf den staubigen Korridoren des Klosters", die in ihr ein "schreckliches Gefühl, eine jener Vorahnungen aus längst vergangenen Zeiten" auslösen. Und bei der "Akrobatin aus Elfenbein" (1988) handelt es sich um eine kleine, geschnitzte Figur, die in den Händen der verängstigten Protagonistin Kyle zu Leben erwacht und ihr unerwartet Halt bietet: "Ihr Selbstgefühl endete, wo die Akrobatin begann. Als sie das einmal erkannt hatte, packte sie die Figur in die Tasche und nahm sie überallhin mit."
Aus diesen Wahrnehmungen erwachsen Handlungen, indem sich an sie wie bei der Kristallbildung Szenen und Ereignisse lagern. Damit dies gelingt, geben die Figuren ihren flüchtigen Gedanken und Beobachtungen Raum. Sie gehen den Geheimnissen nach, die in den Dingen ruhen, lüften aber die Rätsel nicht. Die geheimnisgewissen Erzählungen werfen Fragen auf, geben aber keine Antworten. Denn nur so tragen die Unschärfemomente ein doppeltes Potential in sich. Von ihnen geht die diffuse Unsicherheit aus, die das vermeintlich feste Lebensgefüge destabilisiert.
In ihnen liegt zugleich die Poesie geborgen, die den Alltag aus seiner starren Mechanik löst. Je nach Charakter der Perspektivfigur, je nach ihrer momentanen Situation entspinnt sich aus dem Wahrnehmungsmoment eine andere Handlung. Im Fall von "Schöpfung" (1979) initiiert der flüchtige Blick eine Liebesgeschichte. Als der verheiratete Schriftsteller Rupert auf der Rückreise von einem Segeltörn auf einem Flughafen strandet, fällt ihm eine Frau auf: "Sein Blick irrte ständig nach rechts. Eine Frau stand ein paar Schritte entfernt." Im ersten Augenblick erscheint sie ihm unattraktiv. Doch gerade dies erweist sich als besonders reizvoll. Aus dem Seitenblick wird ein Seitensprung.
"Der Engel Esmeralda" verschiebt dieselbe Wahrnehmungsform von der Liebe in das Feld der Religion und kulminiert in einem mysteriösen Massenereignis: Mitten in der South Bronx bewegt ein Windzug ein Reklamebanner. Für einen Moment zeichnen sich die Züge eines verstorbenen Mädchens ab. Die Erscheinung zieht eine wachsende Menschenmenge in ihren Bann. Und "Baader-Meinhof" (2002) schließlich nimmt die feinsinnige Blickweise für die ästhetische Betrachtung in Anspruch: Dort verliert sich eine Frau in einem Detail von Gerhard Richters "RAF-Zyklus". Täglich kehrt sie deshalb in die New Yorker Ausstellung zurück.
Mit diesen Inszenierungen schließt DeLillo bei einer Kulturgeschichte, die fragt, ob die Welt so ist, wie wir sie wahrnehmen. Angefangen bei Platons "Höhlengleichnis", Orpheus' Gebot "Schau dich nicht um" oder Petrarcas "Blick vom Mont Ventoux" bis zur romantischen Natur- oder expressionistischen Großstadtwahrnehmung.
Nicht zuletzt aber knüpft DeLillo bei seinen eigenen Schreibverfahren an. Die Figuren blicken in derselben Weise auf die Welt wie ihr Autor. Sie sind seine Widergänger. Denn zu den Konstanten von DeLillos Schreiben gehört, die Unschärfemomente der amerikanischen Historie aufzuspüren, um Überempfindlichkeit und Angst der Gesellschaft aufzuzeigen. In "Unterwelt" genügt ihm die Szene eines Baseballspiels, um von dort aus die diffuse Furcht vor einem nuklearen Anschlag als treibende Kraft der amerikanischen Kultur zu dechiffrieren. "Falling Man" schließt an diese subtile Diagnose an. Der Roman zeigt, wie die zuvor wirksamen Ängste durch das akute Bedrohungsgefühl nach den Anschlägen vom 11. September 2001 überlagert werden. In DeLillos Erzählband lässt sich ebenfalls eine solche Analyse erkennen. In erster Linie erzählt eine Geschichte wie "Die Akrobatin aus Elfenbein" von jenen fünf Wochen des Jahres 1981, in denen die unfassbare Folge von angeblich 15 000 Erdbeben Athens Bevölkerung in Schrecken versetzte. DeLillo zeichnet ein realistisches Bild dieser Zeit. Aus heutiger Sicht jedoch liest sich die Geschichte gleichzeitig wie ein Kommentar zur gegenwärtigen ökonomischen Lage. Muss Griechenlands Bevölkerung die Krise nicht als schicksalhaftes, übermächtiges Ereignis auffassen? Lebt sie nicht in ständiger Angst vor der nächsten, stärkeren Erschütterung?
Auf solche Aktualitätseffekte legt es DeLillos Auswahl an. Hatte er die Abgründigkeit des Ökonomischen bereits in "Cosmopolis" zum herrschenden Zeitgefühl erhoben, so verstärkt sein Erzählband diesen Eindruck. Auf dieser Ebene treten die Erzählungen miteinander in Dialog. "Hammer und Sichel" (2011) forciert diese ökonomische Lesart. Dort tragen zwei Mädchen im Fernsehprogramm Börsennachrichten vor, ohne jedes Verständnis dafür, was sie sagen: ",Ganz Europa schaut gen Süden. Was sehen Sie da?' ,Sie sehen Griechenland.' ,Sie sehen finanzielle Instabilität, enorme Schuldenlast, möglichen Bankrott.' ,Krisis ist ein griechisches Wort.'"
Worthülse folgt auf Worthülse, ohne etwas zu erhellen. Einer der Zuschauer dieses absurden Szenarios ist der Vater der beiden Kinder. Er sitzt wegen Bilanzfälschung im Gefängnis und betrachtet seine Kinder jetzt auf dem Bildschirm. Grandios, was für ein Bild unserer Gegenwart DeLillos Erzählband entwirft.
Don DeLillo: "Der Engel Esmeralda". Neun Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 246 S., geb., 18,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Don DeLillo gilt als einer der größten amerikanischen Romanciers. Doch in den letzten dreißig Jahren sind auch Erzählungen entstanden, die der Autor aber sorgsam zurückhielt. Nun erscheinen sie endlich als Buch.
Von Christian Metz
Am Anfang von Don DeLillos Erzählband "Der Engel Esmeralda" steht ein schreibökonomischer Coup. Obwohl der sechsundsiebzigjährige Autor seinem Werk nur einen einzigen, jüngst verfassten Text hinzufügt, erweitert er es doch um eine wesentliche Facette. Als steten Verfasser der traditionsreichen short story kannte man DeLillo bislang nicht. Jetzt aber präsentiert er neun Erzählungen aus einer Zeitspanne von 1979 bis 2011, die er offenbar sorgsam aufgespart hat.
Das durchaus heikle Manöver löst sich ein, weil die Kurzgeschichten eine atemberaubende erzählerische Klasse aufweisen. Worin die liegt, bekommt man in den Blick, wenn man den Erzählungen bis zu ihrer Wurzel folgt. Ihren Ausgangspunkt nehmen sie in einer Charaktereigenschaft, die alle auftretenden Protagonisten teilen. Alle neun sind hochsensibilisiert, mitunter überempfindlich gegenüber Menschen und Dingen, Gedanken und Gefühlen. Ihr Feinsinn richtet sich vor allem auf Phänomene, die "am Rande aufschimmern". Die Figuren nehmen aber nicht nur anderes, sondern auch anders wahr. Aufgrund dieser Begabung können sie - wie die Studenten in der Erzählung "Mitternacht in Dostojewskij" (aus dem Jahr 2009) - von sich behaupten, "dass wir bei aller Normalität eigentlich gewohnheitsmäßig gestört sind, alltagsverrückt".
Die einzelnen Geschichten spielen Varianten dieser Alltagsverrücktheit durch. In der genannten Erzählung beobachten die Studenten ausgerechnet ihren Logik-Professor so intensiv, bis sie davon überzeugt sind, dass er unter einer unbekannten Infektionskrankheit leidet. Das Phantasiespiel kippt in Furor, als sie auf die feuchte Aussprache des Logiklehrers aufmerksam werden: "Manchmal hustete er in die Hand, manchmal auf den Tisch, und wir stellten uns mikroskopisch kleine Lebensformen vor, die auf die Tischplatte spritzten und als Querschläger in unseren Einatmungsraum prallten. Wer ihm am nächsten saß, duckte sich mit einem Zucken weg, das zugleich ein halb entschuldigendes Lachen war."
Eine alltägliche Spielart des verrückten Blicks bildet die Keimzelle von "Der Läufer" (1988). Flüchtig bemerkt ein Jogger, wie ein Auto plötzlich eine Wiese quert: ",Haben Sie gesehen, was passiert ist?' ,Nein. Eigentlich nur das Auto ungefähr zwei Sekunden lang.'" Mehr weiß und mehr erfährt man nicht. In der Titelgeschichte "Der Engel Esmeralda" (1994), die in den Roman "Unterwelt" eingegangen ist, weicht der Blick einem Gefühl. Die Nonne Edgar erspürt "aufwirbelnde Informationen auf den staubigen Korridoren des Klosters", die in ihr ein "schreckliches Gefühl, eine jener Vorahnungen aus längst vergangenen Zeiten" auslösen. Und bei der "Akrobatin aus Elfenbein" (1988) handelt es sich um eine kleine, geschnitzte Figur, die in den Händen der verängstigten Protagonistin Kyle zu Leben erwacht und ihr unerwartet Halt bietet: "Ihr Selbstgefühl endete, wo die Akrobatin begann. Als sie das einmal erkannt hatte, packte sie die Figur in die Tasche und nahm sie überallhin mit."
Aus diesen Wahrnehmungen erwachsen Handlungen, indem sich an sie wie bei der Kristallbildung Szenen und Ereignisse lagern. Damit dies gelingt, geben die Figuren ihren flüchtigen Gedanken und Beobachtungen Raum. Sie gehen den Geheimnissen nach, die in den Dingen ruhen, lüften aber die Rätsel nicht. Die geheimnisgewissen Erzählungen werfen Fragen auf, geben aber keine Antworten. Denn nur so tragen die Unschärfemomente ein doppeltes Potential in sich. Von ihnen geht die diffuse Unsicherheit aus, die das vermeintlich feste Lebensgefüge destabilisiert.
In ihnen liegt zugleich die Poesie geborgen, die den Alltag aus seiner starren Mechanik löst. Je nach Charakter der Perspektivfigur, je nach ihrer momentanen Situation entspinnt sich aus dem Wahrnehmungsmoment eine andere Handlung. Im Fall von "Schöpfung" (1979) initiiert der flüchtige Blick eine Liebesgeschichte. Als der verheiratete Schriftsteller Rupert auf der Rückreise von einem Segeltörn auf einem Flughafen strandet, fällt ihm eine Frau auf: "Sein Blick irrte ständig nach rechts. Eine Frau stand ein paar Schritte entfernt." Im ersten Augenblick erscheint sie ihm unattraktiv. Doch gerade dies erweist sich als besonders reizvoll. Aus dem Seitenblick wird ein Seitensprung.
"Der Engel Esmeralda" verschiebt dieselbe Wahrnehmungsform von der Liebe in das Feld der Religion und kulminiert in einem mysteriösen Massenereignis: Mitten in der South Bronx bewegt ein Windzug ein Reklamebanner. Für einen Moment zeichnen sich die Züge eines verstorbenen Mädchens ab. Die Erscheinung zieht eine wachsende Menschenmenge in ihren Bann. Und "Baader-Meinhof" (2002) schließlich nimmt die feinsinnige Blickweise für die ästhetische Betrachtung in Anspruch: Dort verliert sich eine Frau in einem Detail von Gerhard Richters "RAF-Zyklus". Täglich kehrt sie deshalb in die New Yorker Ausstellung zurück.
Mit diesen Inszenierungen schließt DeLillo bei einer Kulturgeschichte, die fragt, ob die Welt so ist, wie wir sie wahrnehmen. Angefangen bei Platons "Höhlengleichnis", Orpheus' Gebot "Schau dich nicht um" oder Petrarcas "Blick vom Mont Ventoux" bis zur romantischen Natur- oder expressionistischen Großstadtwahrnehmung.
Nicht zuletzt aber knüpft DeLillo bei seinen eigenen Schreibverfahren an. Die Figuren blicken in derselben Weise auf die Welt wie ihr Autor. Sie sind seine Widergänger. Denn zu den Konstanten von DeLillos Schreiben gehört, die Unschärfemomente der amerikanischen Historie aufzuspüren, um Überempfindlichkeit und Angst der Gesellschaft aufzuzeigen. In "Unterwelt" genügt ihm die Szene eines Baseballspiels, um von dort aus die diffuse Furcht vor einem nuklearen Anschlag als treibende Kraft der amerikanischen Kultur zu dechiffrieren. "Falling Man" schließt an diese subtile Diagnose an. Der Roman zeigt, wie die zuvor wirksamen Ängste durch das akute Bedrohungsgefühl nach den Anschlägen vom 11. September 2001 überlagert werden. In DeLillos Erzählband lässt sich ebenfalls eine solche Analyse erkennen. In erster Linie erzählt eine Geschichte wie "Die Akrobatin aus Elfenbein" von jenen fünf Wochen des Jahres 1981, in denen die unfassbare Folge von angeblich 15 000 Erdbeben Athens Bevölkerung in Schrecken versetzte. DeLillo zeichnet ein realistisches Bild dieser Zeit. Aus heutiger Sicht jedoch liest sich die Geschichte gleichzeitig wie ein Kommentar zur gegenwärtigen ökonomischen Lage. Muss Griechenlands Bevölkerung die Krise nicht als schicksalhaftes, übermächtiges Ereignis auffassen? Lebt sie nicht in ständiger Angst vor der nächsten, stärkeren Erschütterung?
Auf solche Aktualitätseffekte legt es DeLillos Auswahl an. Hatte er die Abgründigkeit des Ökonomischen bereits in "Cosmopolis" zum herrschenden Zeitgefühl erhoben, so verstärkt sein Erzählband diesen Eindruck. Auf dieser Ebene treten die Erzählungen miteinander in Dialog. "Hammer und Sichel" (2011) forciert diese ökonomische Lesart. Dort tragen zwei Mädchen im Fernsehprogramm Börsennachrichten vor, ohne jedes Verständnis dafür, was sie sagen: ",Ganz Europa schaut gen Süden. Was sehen Sie da?' ,Sie sehen Griechenland.' ,Sie sehen finanzielle Instabilität, enorme Schuldenlast, möglichen Bankrott.' ,Krisis ist ein griechisches Wort.'"
Worthülse folgt auf Worthülse, ohne etwas zu erhellen. Einer der Zuschauer dieses absurden Szenarios ist der Vater der beiden Kinder. Er sitzt wegen Bilanzfälschung im Gefängnis und betrachtet seine Kinder jetzt auf dem Bildschirm. Grandios, was für ein Bild unserer Gegenwart DeLillos Erzählband entwirft.
Don DeLillo: "Der Engel Esmeralda". Neun Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 246 S., geb., 18,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Don DeLillo ist bisher nicht für seine Kurzgeschichten bekannt, weiß Eberhard Falcke, meist dienten kürzere Erzählungen als Vorstudie zu seinen Romanen oder gingen als Episoden in ihnen auf. Der Band "Der Engel Esmeralda" hat das Zeug, das zu ändern, glaubt der Rezensent und betont, dass es sich bei den neun darin enthaltenen Erzählungen aus der Feder DeLillos nicht einfach um "Nebenprodukte" eines Romanciers handelt, auch wenn manches hier oder da, etwa in "Unterwelt", bereits Verwendung gefunden haben mag. Im Folgenden bringt Falcke knappe Zusammenfassungen der einzelnen Geschichten und stellt erfreut fest, dass sich das aus seinen Romanen bekannte Talent DeLillos, Abstraktionen, "die das Hier und Jetzt auf den Punkt bringen", in seine Erzählung zu integrieren, auch in den kürzeren Texten niederschlägt. Ein äußerst lesenswerter Band also, bilanziert Falcke, "hochaktuell und von staunenswerter erzählerischer Intelligenz".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.11.2012Die Apokalypse
ist auch schon vorbei
Don DeLillo, der große Chronist der
spätmodernen Paranoia, erweist sich in seinen Erzählungen
abermals als Meister der „zeitgeist anxiety“.
Und doch ist der Band „Der Engel Esmeralda“ für seine
Verhältnisse erstaunlich menschenfreundlich
VON CHRISTOPH BARTMANN
Man kann Don DeLillo nicht vorhalten, seine Bücher spielten in einer heilen Welt. Im Gegenteil, es ist etwas verlässlich Ungemütliches an seinen Szenarien, etwas unterschwellig Bedrohliches, das seine Leser hellhörig macht für Katastrophen. Selten nehmen sie bei DeLillo konkrete Gestalt an, eher sind sie gegenwärtig in der Zeitform der Angst. Man hat DeLillo als den Meister der „zeitgeist anxiety“ beschreiben. In seinen Büchern schlagen sich die epochentypischen urbanen Bedrohungstopoi nieder, Weltkriege, Terrorismus, Finanzkrisen und anderes mehr. Nicht dass DeLillo die Angst schürt – dafür ist sein Blick auf die Dinge zu distanziert, ja abständig. Mal schaut der Autor aus dem Weltraum auf das irdische Geschehen, mal geht er wie mit dem Seziermesser an die Ereignisse heran, immer aber hat man das Gefühl, der Erzähler bewahre eine konstitutive Fremdheit gegenüber seiner Welt. Die Welt mag schrecklich sein, aber solange es jemanden gibt, der sie mit dieser Klarheit, Kühle und Schärfe beschreibt, kann sie nicht verloren sein.
DeLillo ist auch deshalb ein so suggestiver Erzähler, weil er sich auf die Kunst des einzelnen Satzes versteht. Immer wieder stehen, leuchtend isoliert, Sätze in seinen Geschichten, die ohne Anschluss sind: „Alles auf der Welt ist entweder drinnen oder draußen“, heißt es einmal. Solche Sätze verstärken den Geist der Einsamkeit, den diese Texte verbreiten, gerade wenn sie unter die Menschen gehen. Natürlich bergen solche einsamen Sätze auch eine Gefahr. Sie überhöhen eine Leere, die tatsächlich von einer Schwäche kündet, die Erzählung mit konventionellen, also wahrscheinlichen Mitteln weiter zu entwickeln.
Nun gibt es neun ältere und neuere Erzählungen in einem Band. Die Geschichten entstanden zwischen 1979 und 2011, teilweise flossen sie in größere Projekte wie den Roman „Unterwelt“ ein, teils blieben sie unveröffentlicht. Mit „Unterwelt“, einem Roman von epochalen Ansprüchen, hatte sich DeLillo als einer der Großmeister des postmodernen Romans etabliert. Seitdem ist es stiller geworden um ihn . Romane wie „Falling Men“ oder „Cosmopolis“ aus dem vergangenen Jahrzehnt, fanden, obwohl reich an Zeitdiagnostik und vor allem -prognostik, nicht mehr dieselbe Zustimmung.
Etwas an DeLillos Dauerbetrachtung der amerikanischen Dystopie schien von den Tatsachen überrollt worden zu sein. Die Fiktionalisierung von 9/11 oder des Finanzdesasters mit den gewohnten postmodernen Mitteln kommt an eine Grenze angesichts der Fiktionalität der realen Ereignisse selbst. Plötzlich schien DeLillo, sonst ein Meister der literarischen Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft, nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Die Frage ist, ob dieser Erzählungsband den Eindruck einer leise schwindenden Relevanz von DeLillos Chronistentum entkräften kann. Martin Amis und andere prominente Kollegen haben das neue Buch geradezu hymnisch begrüßt. Amis hat diese Geschichten „luftig und kompakt, zugespitzt und geheimnisvoll“ genannt, eine Wertung, der man zustimmen möchte, ohne doch ein gewisses Unbehagen an DeLillos Markenzeichen, eben dem Unbehagen, unterdrücken zu können.
Die neun Erzählungen weisen unverkennbar eine Familienähnlichkeit auf, sie sind in ihrer leisen, latenten Dramatik und ihrer Art, eine Bedrohungs- und Gefahrenlage zu umspielen, unschwer miteinander in Beziehung zu setzen. Trotzdem handelt es sich dann manchmal tatsächlich nur um kleine, atmosphärisch starke, aber inhaltlich nicht besonders ergiebige Stücke. So etwa die erste Erzählung, „Schöpfung“, in der ein Touristen-Ehepaar zum Zwangsurlaub auf einer Karibikinsel verdammt ist, weil das Flugzeug nach Hause überbucht ist. Irgendwann überredet der Mann seine immer nervöser werdende Frau, allein die Heimreise anzutreten, während er sich in eine kleine Affäre mit Christa stürzt, einer deutschen Ferienbekanntschaft. Alles scheint ganz einfach: „Wenn alles neu ist, liegt der Spaß auf der Haut.“ Ein Satz wie von James Bond. Am Pool gibt es Drinks. Natürlich führt der Flirt nirgendwohin. Bald wird ein Flugzeug die gestrandeten Urlauber nach Hause bringen. Viel ist nicht passiert, außer dass ein paar Menschen für ein paar Tage wie durch eine Tapetentür in ein anderes Leben getreten ist, ein Leben, das auch wieder dystopisch ist.
Selten oder nie löst sich bei DeLillo etwas auf, schon gar nicht zum Guten. Immer bleibt Beklemmung übrig. So auch in „Der Läufer“, wo die Titelfigur bei ihren Runden durch den Park bemerkt oder auch nur matt registriert, wie unten am See offenbar ein Kind entführt, jedenfalls in ein Auto gezerrt und weggebracht wird. Der Läufer greift nicht ein, und später fühlt er sich „wie von der Szene abgespalten, als beobachtete er alles von einem verborgenen Ort aus“. DeLillo konzentriert sich ganz auf die Beschreibung des Abstandes, der den Läufer und Augenzeugen von dem beobachteten Geschehen trennt. Das gibt Erzählungen wie dieser eine schmerzhaft frustrierende Note: etwas Gravierendes ist geschehen, aber wir haben es, während wir es gesehen haben, auch schon versäumt.
Von den vielen denkbaren Natur- und Zivilisationskatastrophen, die jemand von DeLillos literarischer Statur beschäftigen, ist das Erdbeben, gewissermaßen formal, eine der interessantesten. In der Erzählung „Die Akrobatin aus Elfenbein“ geht es um eine Amerikanerin, die in Griechenland lebt und dort Zeugin eines Erdbebens wird. In der Schilderung der gesamten Physiologie der Bebenerwartung und -verarbeitung entfaltet DeLillo sein ganzes Instrumentarium: „Sie lebte in einer Pause“, heißt es da. „Sie pausierte immer, wenn sie allein in ihrer Wohnung war, um zu lauschen. Ihr Gehör entwickelte eine Reinheit, eine differenzierende Schärfe. (. . .) Das Zimmer hatte ein Dutzend Klänge, vor allem Tonstörungen.“ Und weiter: „Die Gefahr lag komplett drinnen.“ Nicht immer weiß man, wohin diese Geschichten treiben, was sie wollen, und ob sie überhaupt etwas wollen. Sie sind nicht auf Spannung und Drama aus, aber manchmal erreichen sie in einem solchen einfachen Satz ihren Siedepunkt.
Begegnungen zwischen Menschen müssen nichts Schönes sein, jedenfalls nicht bei DeLillo. „Schöpfung“, „Der Läufer“ oder auch „Baader-Meinhof“, wo eine Zufallsbegegnung vor Gerhard Richters berühmten Bilderzyklus in ein Stalking mündet – man darf nicht viel Schönheit im Zwischenmenschlichen von diesen Geschichten erwarten. Trotzdem gewinnt man den Eindruck, als habe sich DeLillo in seinen letzten Erzählungen erstmals überhaupt auf das Soziale besonnen.
Das Soziale als ein Ort, der nicht nur Kälte generiert und wenn schon keine Wärme, dann doch wenigstens Witz: das lässt sich an Geschichten wie „Hammer und Sichel“ erleben, in der es um ein Luxus-Guantanamo für Finanzkriminelle geht, oder in der abschließenden Erzählung „Die Hungerleiderin“, in der ein Mann sein Leben in einem Kino von Manhattan zubringt – er ist sicher keine soziale Natur im herkömmlichen Sinn, aber doch ein Mann, der sich in dieser kalten Welt auf seine Weise Trost verschafft, stets eingedenk der Worte, die er „vor Jahren in seinem Philosophieseminar gehört oder gelesen hatte: „Jegliche menschliche Existenz ist eine optische Täuschung.“
Legt man diesen Satz dem ganzen literarischen Schaffen DeLillos zugrunde, dann hat er in seinen Erzählungen einen weiten Weg hinein in die Menschenfreundlichkeit zurückgelegt.
DeLillo entdeckt das Soziale
als Ort, der zwar keine Wärme,
aber wenigstens Witz ausstrahlt
Von allen Katastrophen ist das Erdbeben für DeLillo die interessanteste. Gleichwohl scheint es angesichts realer Erschütterungen, als sei die Zeit für literarische Seismologen abgelaufen.
FOTO: DPA
Don DeLillo, geboren 1936 in New York, gilt seit Erscheinen seines Monumentalromans „Unterwelt“ 1997 als neben Thomas Pynchon
bedeutendster Vertreter der postmodernen Literatur in den USA.
FOTO: JOYCE RAVID
Don DeLillo: Der Engel Esmeralda. Neun Erzählungen.
Aus dem Englischen von Frank Heibert. Verlag
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2012. 248 Seiten,
18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ist auch schon vorbei
Don DeLillo, der große Chronist der
spätmodernen Paranoia, erweist sich in seinen Erzählungen
abermals als Meister der „zeitgeist anxiety“.
Und doch ist der Band „Der Engel Esmeralda“ für seine
Verhältnisse erstaunlich menschenfreundlich
VON CHRISTOPH BARTMANN
Man kann Don DeLillo nicht vorhalten, seine Bücher spielten in einer heilen Welt. Im Gegenteil, es ist etwas verlässlich Ungemütliches an seinen Szenarien, etwas unterschwellig Bedrohliches, das seine Leser hellhörig macht für Katastrophen. Selten nehmen sie bei DeLillo konkrete Gestalt an, eher sind sie gegenwärtig in der Zeitform der Angst. Man hat DeLillo als den Meister der „zeitgeist anxiety“ beschreiben. In seinen Büchern schlagen sich die epochentypischen urbanen Bedrohungstopoi nieder, Weltkriege, Terrorismus, Finanzkrisen und anderes mehr. Nicht dass DeLillo die Angst schürt – dafür ist sein Blick auf die Dinge zu distanziert, ja abständig. Mal schaut der Autor aus dem Weltraum auf das irdische Geschehen, mal geht er wie mit dem Seziermesser an die Ereignisse heran, immer aber hat man das Gefühl, der Erzähler bewahre eine konstitutive Fremdheit gegenüber seiner Welt. Die Welt mag schrecklich sein, aber solange es jemanden gibt, der sie mit dieser Klarheit, Kühle und Schärfe beschreibt, kann sie nicht verloren sein.
DeLillo ist auch deshalb ein so suggestiver Erzähler, weil er sich auf die Kunst des einzelnen Satzes versteht. Immer wieder stehen, leuchtend isoliert, Sätze in seinen Geschichten, die ohne Anschluss sind: „Alles auf der Welt ist entweder drinnen oder draußen“, heißt es einmal. Solche Sätze verstärken den Geist der Einsamkeit, den diese Texte verbreiten, gerade wenn sie unter die Menschen gehen. Natürlich bergen solche einsamen Sätze auch eine Gefahr. Sie überhöhen eine Leere, die tatsächlich von einer Schwäche kündet, die Erzählung mit konventionellen, also wahrscheinlichen Mitteln weiter zu entwickeln.
Nun gibt es neun ältere und neuere Erzählungen in einem Band. Die Geschichten entstanden zwischen 1979 und 2011, teilweise flossen sie in größere Projekte wie den Roman „Unterwelt“ ein, teils blieben sie unveröffentlicht. Mit „Unterwelt“, einem Roman von epochalen Ansprüchen, hatte sich DeLillo als einer der Großmeister des postmodernen Romans etabliert. Seitdem ist es stiller geworden um ihn . Romane wie „Falling Men“ oder „Cosmopolis“ aus dem vergangenen Jahrzehnt, fanden, obwohl reich an Zeitdiagnostik und vor allem -prognostik, nicht mehr dieselbe Zustimmung.
Etwas an DeLillos Dauerbetrachtung der amerikanischen Dystopie schien von den Tatsachen überrollt worden zu sein. Die Fiktionalisierung von 9/11 oder des Finanzdesasters mit den gewohnten postmodernen Mitteln kommt an eine Grenze angesichts der Fiktionalität der realen Ereignisse selbst. Plötzlich schien DeLillo, sonst ein Meister der literarischen Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft, nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Die Frage ist, ob dieser Erzählungsband den Eindruck einer leise schwindenden Relevanz von DeLillos Chronistentum entkräften kann. Martin Amis und andere prominente Kollegen haben das neue Buch geradezu hymnisch begrüßt. Amis hat diese Geschichten „luftig und kompakt, zugespitzt und geheimnisvoll“ genannt, eine Wertung, der man zustimmen möchte, ohne doch ein gewisses Unbehagen an DeLillos Markenzeichen, eben dem Unbehagen, unterdrücken zu können.
Die neun Erzählungen weisen unverkennbar eine Familienähnlichkeit auf, sie sind in ihrer leisen, latenten Dramatik und ihrer Art, eine Bedrohungs- und Gefahrenlage zu umspielen, unschwer miteinander in Beziehung zu setzen. Trotzdem handelt es sich dann manchmal tatsächlich nur um kleine, atmosphärisch starke, aber inhaltlich nicht besonders ergiebige Stücke. So etwa die erste Erzählung, „Schöpfung“, in der ein Touristen-Ehepaar zum Zwangsurlaub auf einer Karibikinsel verdammt ist, weil das Flugzeug nach Hause überbucht ist. Irgendwann überredet der Mann seine immer nervöser werdende Frau, allein die Heimreise anzutreten, während er sich in eine kleine Affäre mit Christa stürzt, einer deutschen Ferienbekanntschaft. Alles scheint ganz einfach: „Wenn alles neu ist, liegt der Spaß auf der Haut.“ Ein Satz wie von James Bond. Am Pool gibt es Drinks. Natürlich führt der Flirt nirgendwohin. Bald wird ein Flugzeug die gestrandeten Urlauber nach Hause bringen. Viel ist nicht passiert, außer dass ein paar Menschen für ein paar Tage wie durch eine Tapetentür in ein anderes Leben getreten ist, ein Leben, das auch wieder dystopisch ist.
Selten oder nie löst sich bei DeLillo etwas auf, schon gar nicht zum Guten. Immer bleibt Beklemmung übrig. So auch in „Der Läufer“, wo die Titelfigur bei ihren Runden durch den Park bemerkt oder auch nur matt registriert, wie unten am See offenbar ein Kind entführt, jedenfalls in ein Auto gezerrt und weggebracht wird. Der Läufer greift nicht ein, und später fühlt er sich „wie von der Szene abgespalten, als beobachtete er alles von einem verborgenen Ort aus“. DeLillo konzentriert sich ganz auf die Beschreibung des Abstandes, der den Läufer und Augenzeugen von dem beobachteten Geschehen trennt. Das gibt Erzählungen wie dieser eine schmerzhaft frustrierende Note: etwas Gravierendes ist geschehen, aber wir haben es, während wir es gesehen haben, auch schon versäumt.
Von den vielen denkbaren Natur- und Zivilisationskatastrophen, die jemand von DeLillos literarischer Statur beschäftigen, ist das Erdbeben, gewissermaßen formal, eine der interessantesten. In der Erzählung „Die Akrobatin aus Elfenbein“ geht es um eine Amerikanerin, die in Griechenland lebt und dort Zeugin eines Erdbebens wird. In der Schilderung der gesamten Physiologie der Bebenerwartung und -verarbeitung entfaltet DeLillo sein ganzes Instrumentarium: „Sie lebte in einer Pause“, heißt es da. „Sie pausierte immer, wenn sie allein in ihrer Wohnung war, um zu lauschen. Ihr Gehör entwickelte eine Reinheit, eine differenzierende Schärfe. (. . .) Das Zimmer hatte ein Dutzend Klänge, vor allem Tonstörungen.“ Und weiter: „Die Gefahr lag komplett drinnen.“ Nicht immer weiß man, wohin diese Geschichten treiben, was sie wollen, und ob sie überhaupt etwas wollen. Sie sind nicht auf Spannung und Drama aus, aber manchmal erreichen sie in einem solchen einfachen Satz ihren Siedepunkt.
Begegnungen zwischen Menschen müssen nichts Schönes sein, jedenfalls nicht bei DeLillo. „Schöpfung“, „Der Läufer“ oder auch „Baader-Meinhof“, wo eine Zufallsbegegnung vor Gerhard Richters berühmten Bilderzyklus in ein Stalking mündet – man darf nicht viel Schönheit im Zwischenmenschlichen von diesen Geschichten erwarten. Trotzdem gewinnt man den Eindruck, als habe sich DeLillo in seinen letzten Erzählungen erstmals überhaupt auf das Soziale besonnen.
Das Soziale als ein Ort, der nicht nur Kälte generiert und wenn schon keine Wärme, dann doch wenigstens Witz: das lässt sich an Geschichten wie „Hammer und Sichel“ erleben, in der es um ein Luxus-Guantanamo für Finanzkriminelle geht, oder in der abschließenden Erzählung „Die Hungerleiderin“, in der ein Mann sein Leben in einem Kino von Manhattan zubringt – er ist sicher keine soziale Natur im herkömmlichen Sinn, aber doch ein Mann, der sich in dieser kalten Welt auf seine Weise Trost verschafft, stets eingedenk der Worte, die er „vor Jahren in seinem Philosophieseminar gehört oder gelesen hatte: „Jegliche menschliche Existenz ist eine optische Täuschung.“
Legt man diesen Satz dem ganzen literarischen Schaffen DeLillos zugrunde, dann hat er in seinen Erzählungen einen weiten Weg hinein in die Menschenfreundlichkeit zurückgelegt.
DeLillo entdeckt das Soziale
als Ort, der zwar keine Wärme,
aber wenigstens Witz ausstrahlt
Von allen Katastrophen ist das Erdbeben für DeLillo die interessanteste. Gleichwohl scheint es angesichts realer Erschütterungen, als sei die Zeit für literarische Seismologen abgelaufen.
FOTO: DPA
Don DeLillo, geboren 1936 in New York, gilt seit Erscheinen seines Monumentalromans „Unterwelt“ 1997 als neben Thomas Pynchon
bedeutendster Vertreter der postmodernen Literatur in den USA.
FOTO: JOYCE RAVID
Don DeLillo: Der Engel Esmeralda. Neun Erzählungen.
Aus dem Englischen von Frank Heibert. Verlag
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2012. 248 Seiten,
18,99 Euro.
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»Uneinholbar auf der Kurzstrecke: Der amerikanische Romancier Don DeLillo zeigt auch in seinen Erzählungen unsere Existenz - und sein Können.« zeit.de 20121229