Ercks Vater wurde zweimal verlassen: einmal von seiner Ehefrau und einmal von der DDR. Beides hat der Professor aus Leipzig nicht verwunden. Erck ist mit diesem Schmerz groß geworden, aber Aufgeben ist seine Sache nicht. Als er beim besten Verlag der Republik einen Buchvertrag unterschreibt, ist er fast am Ziel. Wäre da nur nicht dieser Hans Ulrich Barsilay mit seinem extravaganten Auftreten, seinen schönen Ex-Freundinnen, seiner perfekten Prosa und seiner Gewissenlosigkeit. Das Problem: Er ist beim selben Verlag. Und vieles deutet darauf hin, dass er versucht, Erck sein Thema zu stehlen. Höchste Zeit, ihm mit einer Intrige zuvorzukommen. Maxim Biller erzählt die Geschichte von einem, der irre wird an Deutschland, weil er um jeden Preis hinein will: in die Gesellschaft, ins Scheinwerferlicht, ins Walhalla der neuen wiedervereinten Nation.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Edo Reents versucht, Maxim Billers neuen Roman zu lesen, ohne sich auf das Thema Judentum zu konzentrieren. Auch etwaige Schlüsselroman-Momente lässt er außen vor. Stattdessen schaut er auf die Konstruktion des Textes und das Exemplarische der Figuren. Dass Biller seinen Erzähler ambivalent gestaltet und ihn sich in seinem Widersacher, dem er im Verlauf der Handlung so einiges vorwirft, spiegeln lässt, gefällt Reents ebenso gut wie der generelle Anspielungsreichtum im Roman. Den Clou des Ganzen erblickt er in Billers Fähigkeit, die Kritik von seinem Personal weg und auf die Öffentlichkeit zu richten, dabei die Figuren und Ereignisse, wie sie im Text vorkommen, überhaupt zulässt. Erinnert Reents angenehm an Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2021Abfallende Selbstkritik überführt er in Zeitkritik
Erniedrigt und beleidigt: Maxim Billers neuer Roman
Auch mit Maxim Billers neuem Roman wird man nicht leicht fertig. Und vielleicht ist es jetzt, da die allermeisten Rezensionen erschienen sind, erlaubt, gleichsam einen Schritt beiseitezutreten und dabei für einen Moment sogar das Thema Judentum auf sich beruhen zu lassen, über das Biller sich im Sommer mit Max Czollek in die Haare gekriegt hatte (F.A.Z. vom 2. und vom 14. September). Konzentrieren wir uns auf die Konstruktion dieses schmalen Bandes, dem Ingeborg Harms in der Wochenzeitung Die Zeit Hinterhältigkeit attestiert hat.
Erck Dessauer, der vor publizistischem Ehrgeiz brennende Ich-Erzähler von "Der falsche Gruß", ist zugleich dessen ausführendes Organ: Am Stammtisch des Berliner Großfeuilletonisten Hans Ulrich Barsilay entbietet er diesem den Hitlergruß - eine riskante, sich einem Kurzschluss verdankende Protestnote, die vor dem Hintergrund des Konkurrenzverhältnisses dieser beiden, von dem bis zuletzt offenbleibt, ob es nicht bloß Dessauers Fantasie entspringt, eine gewisse Triftigkeit entfaltet. Dessauer hat diesen Kulturschickerialiebling durchschaut, der einen Konzentrationslager-Besuch samt Erweckungserlebnis frei erfunden und für diese spezielle Auschwitz-Lüge also eine Abreibung verdient hat.
Es wäre wohl etwas kühn, hinter Barsilay Max Czollek zu vermuten, der, so Biller in seiner sommerlichen Attacke, den deutschen Linken, "nach dem Mund redet" und bei seiner jüdischen Herkunft geschummelt hat. Doch selbst wenn es schon rein chronologisch nicht hinhauen sollte - als Biller eine Indiskretion Czolleks parierte, hatte er seinen Roman längst fertig -, es kommt auf die diagnostische Kraft an und ist nicht das erste Mal, dass Biller aus einer Figur des Literatur- oder, allgemeiner, des Debattenbetriebs die Luft herauslässt. Grundsätzlich darf man vermuten, dass der legendäre Verfasser von "100 Zeilen Hass" diese Dinge weniger persönlich nimmt, als seine Heftigkeit vermuten lässt. Ihn ruft vielmehr das Exemplarische solcher Figuren auf den Plan; und er stellt einer Öffentlichkeit, die auf sie hereinfällt und sich eine Moral, die nichts kostet, andrehen lässt, kein gutes Zeugnis aus.
Dass er die romanhafte Abrechnung einen nervenschwachen, ebenso wehleidigen wie ambitionierten Ich-Erzähler mit gleichfalls nicht ganz astreiner Vergangenheit erledigen und die Angelegenheit in dem fast slapstickhaften Gruß kulminieren lässt, ehrt ihn unbedingt: Temperament schlägt Prätention. Biller, der nichts ohne Absicht tut, wird sich jedenfalls gut überlegt haben, welcher Zeitpunkt günstig dafür sein würde, mit einer Czollek-Attacke die Aufmerksamkeit auf sein aktuelles Romanpersonal zu lenken. Solche Manöver gehören in die Kategorie "literarisches Leben"; und Biller spielt darin, keineswegs unbeherrscht, aber doch ziemlich ungeschützt, als einer der Letzten seiner Art eine Hauptrolle.
Auch dieser mit erfrischender Direktheit erzählte, witzig-unterhaltsame und trotz seiner Kürze auf mehreren Zeitebenen spielende Roman ist ein Spiegelkabinett, aus dem es kein Entrinnen gibt, in dem jede Verbindung, jede Anspielung denkbar ist. Staunend registriert man, wie die Selbstreferenzialität diesmal auf die Spitze getrieben wird, eine handgreifliche "Esra"-Anspielung inbegriffen: "Sie redete dann auch darüber, dass man Barsilays Buch, das eigentlich für immer und ewig verboten sei, trotzdem überall kriegen könne, sogar bei Amazon, für 200 Euro, dass also immer noch jeder lesen könne, wie sie im Bett sei." Valeria verklagt ihren ehemaligen Liebhaber Barsilay wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten, wie dies Biller im wirklichen Leben auch passiert ist, wobei sein verbotener Roman "Esra" zumindest bei Amazon so billig gar nicht zu haben ist; eine aktuelle Anfrage ergab 489 Euro.
Es gibt vermutlich nicht viele Schriftsteller, die sich trauen, ihren (Anti-)Helden in eine dermaßen unerhörte Begebenheit zu verwickeln. Und es gehört zu Billers Kunst, Dessauer mit nicht rundum lauteren Ansichten und Motiven auszustatten, ihn in seiner ganzen Schwäche aber menschlich, ja sympathisch erscheinen zu lassen. Von Anfang an wirkt der falsche Gruß wie ein Dummejungenstreich, der sich nur in Dessauers Vorstellung zu einem ruinösen Skandal auswächst. Am Ende reüssiert er, dessen Magisterarbeit den Titel "Spätbolschewismus als Identität und Nachteil" trug, als Autor einer Naftali-Frenkel-Biographie: über den Erfinder des betrieblichen Massenmords in Stalins Diensten - ein Stoff, von dem Dessauer lange fürchtete, Barsilay würde ihm den vor der Nase wegschnappen.
Die kulturbetrieblichen und zeitgeschichtlichen Versatzstücke, mit denen Biller hantiert - von der hohepriesterlichen Suhrkamp-Verlegerin über Herfried Münkler und Rainald Goetz bis hin zum Historikerstreit -, sind mit Händen zu greifen. Dreh- und Angelpunkt ist, wieder einmal, der Holocaust: Dessauer schreibt seine erste große Radiorezension über das "Zwiebel"-Buch, in dem Günter Grass seine SS-Vergangenheit ausbreitete.
Über dem zeitgeschichtlichen Gehalt sollte man das Nervenkostüm, das auch dem Roman gleichsam übergeworfen ist, nicht übersehen. Dessauer, außerordentlich reizbar, nah am Wasser gebaut, dem die Angst vor einer gesellschaftlichen Blamage im Nacken sitzt, hat in Barsilay einen inneren, spiegelverkehrten Doppelgänger, dem er den Erfolg, die Freundin und die Selbstsicherheit, mit der er auftritt, neidet. Biller macht ihn dabei nicht besser, als er ist, zeigt ihn in seinem Einzelgängertum, sogar in einer gewissen Schäbigkeit, durch welche die Sehnsucht, doch auch dazuzugehören, permanent hindurchschimmert.
Die Selbstkritik, die dabei abfällt, überführt er in Zeitkritik. So richtet sich Billers schriftstellerische Aggression weniger gegen das Personal, sondern vielmehr gegen eine Öffentlichkeit, die solche Wichtigtuer zu Einfluss kommen lässt. Dies alles geschieht zulasten auch des Protagonisten: Er erfährt in seiner konsequent literarischen Aneignung der Welt einen persönlichen Substanzverlust, der durch die Reibung an Barsilay erst recht hervortritt.
Für diesen Antihelden-Typus gibt es ein berühmtes Urbild: Es ist Dostojewskis namenloser Verfasser der "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" (wahlweise "Kellerloch"). Dieser aus einem fortschrittskritischen Monolog und einer Gesellschaftsburleske zusammengezimmerte Novellenzwitter führt, wohl erstmals in der literarischen Moderne, die einerseits zerstörerische, andererseits aber auch erkenntnisstiftende, ja geradezu hellsichtige Kraft des Ressentiments vor, sodass Nietzsche darin ganz richtig einen psychologischen Geniestreich sah.
Auch Billers Ich-Erzähler fördert aus dem Untergrund wenig Schmeichel-, gar Heldenhaftes zutage, immer vor dem Hintergrund, vor dem sein Werk grundsätzlich zu lesen ist und dem man den Arbeitstitel "Spätjudentum als Identität und Nachteil" geben könnte. Es ist verblüffend, wie rückhaltlos er hier wieder (seine eigene?) Feinnervigkeit zum Sujet macht. Dessauer räsoniert über die Bistrogäste, unter die er sich immer wieder mischt: "Sie alle strahlten so viel unneurotisches Selbstbewusstsein und professionelle Ellbogenhaftigkeit aus."
Dostojewskis früher Geist, der von religiöser Ergriffenheit noch einigermaßen frei war, ist hier recht lebendig, Billers Sympathie für die Erniedrigten und Beleidigten notorisch. Zu deren Ehrenrettung ist ihm jedes Mittel recht. Der titelgebende Gruß mag dabei falsch sein, der Roman ist es nicht. EDO REENTS
Maxim Biller: "Der falsche Gruß". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 128 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erniedrigt und beleidigt: Maxim Billers neuer Roman
Auch mit Maxim Billers neuem Roman wird man nicht leicht fertig. Und vielleicht ist es jetzt, da die allermeisten Rezensionen erschienen sind, erlaubt, gleichsam einen Schritt beiseitezutreten und dabei für einen Moment sogar das Thema Judentum auf sich beruhen zu lassen, über das Biller sich im Sommer mit Max Czollek in die Haare gekriegt hatte (F.A.Z. vom 2. und vom 14. September). Konzentrieren wir uns auf die Konstruktion dieses schmalen Bandes, dem Ingeborg Harms in der Wochenzeitung Die Zeit Hinterhältigkeit attestiert hat.
Erck Dessauer, der vor publizistischem Ehrgeiz brennende Ich-Erzähler von "Der falsche Gruß", ist zugleich dessen ausführendes Organ: Am Stammtisch des Berliner Großfeuilletonisten Hans Ulrich Barsilay entbietet er diesem den Hitlergruß - eine riskante, sich einem Kurzschluss verdankende Protestnote, die vor dem Hintergrund des Konkurrenzverhältnisses dieser beiden, von dem bis zuletzt offenbleibt, ob es nicht bloß Dessauers Fantasie entspringt, eine gewisse Triftigkeit entfaltet. Dessauer hat diesen Kulturschickerialiebling durchschaut, der einen Konzentrationslager-Besuch samt Erweckungserlebnis frei erfunden und für diese spezielle Auschwitz-Lüge also eine Abreibung verdient hat.
Es wäre wohl etwas kühn, hinter Barsilay Max Czollek zu vermuten, der, so Biller in seiner sommerlichen Attacke, den deutschen Linken, "nach dem Mund redet" und bei seiner jüdischen Herkunft geschummelt hat. Doch selbst wenn es schon rein chronologisch nicht hinhauen sollte - als Biller eine Indiskretion Czolleks parierte, hatte er seinen Roman längst fertig -, es kommt auf die diagnostische Kraft an und ist nicht das erste Mal, dass Biller aus einer Figur des Literatur- oder, allgemeiner, des Debattenbetriebs die Luft herauslässt. Grundsätzlich darf man vermuten, dass der legendäre Verfasser von "100 Zeilen Hass" diese Dinge weniger persönlich nimmt, als seine Heftigkeit vermuten lässt. Ihn ruft vielmehr das Exemplarische solcher Figuren auf den Plan; und er stellt einer Öffentlichkeit, die auf sie hereinfällt und sich eine Moral, die nichts kostet, andrehen lässt, kein gutes Zeugnis aus.
Dass er die romanhafte Abrechnung einen nervenschwachen, ebenso wehleidigen wie ambitionierten Ich-Erzähler mit gleichfalls nicht ganz astreiner Vergangenheit erledigen und die Angelegenheit in dem fast slapstickhaften Gruß kulminieren lässt, ehrt ihn unbedingt: Temperament schlägt Prätention. Biller, der nichts ohne Absicht tut, wird sich jedenfalls gut überlegt haben, welcher Zeitpunkt günstig dafür sein würde, mit einer Czollek-Attacke die Aufmerksamkeit auf sein aktuelles Romanpersonal zu lenken. Solche Manöver gehören in die Kategorie "literarisches Leben"; und Biller spielt darin, keineswegs unbeherrscht, aber doch ziemlich ungeschützt, als einer der Letzten seiner Art eine Hauptrolle.
Auch dieser mit erfrischender Direktheit erzählte, witzig-unterhaltsame und trotz seiner Kürze auf mehreren Zeitebenen spielende Roman ist ein Spiegelkabinett, aus dem es kein Entrinnen gibt, in dem jede Verbindung, jede Anspielung denkbar ist. Staunend registriert man, wie die Selbstreferenzialität diesmal auf die Spitze getrieben wird, eine handgreifliche "Esra"-Anspielung inbegriffen: "Sie redete dann auch darüber, dass man Barsilays Buch, das eigentlich für immer und ewig verboten sei, trotzdem überall kriegen könne, sogar bei Amazon, für 200 Euro, dass also immer noch jeder lesen könne, wie sie im Bett sei." Valeria verklagt ihren ehemaligen Liebhaber Barsilay wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten, wie dies Biller im wirklichen Leben auch passiert ist, wobei sein verbotener Roman "Esra" zumindest bei Amazon so billig gar nicht zu haben ist; eine aktuelle Anfrage ergab 489 Euro.
Es gibt vermutlich nicht viele Schriftsteller, die sich trauen, ihren (Anti-)Helden in eine dermaßen unerhörte Begebenheit zu verwickeln. Und es gehört zu Billers Kunst, Dessauer mit nicht rundum lauteren Ansichten und Motiven auszustatten, ihn in seiner ganzen Schwäche aber menschlich, ja sympathisch erscheinen zu lassen. Von Anfang an wirkt der falsche Gruß wie ein Dummejungenstreich, der sich nur in Dessauers Vorstellung zu einem ruinösen Skandal auswächst. Am Ende reüssiert er, dessen Magisterarbeit den Titel "Spätbolschewismus als Identität und Nachteil" trug, als Autor einer Naftali-Frenkel-Biographie: über den Erfinder des betrieblichen Massenmords in Stalins Diensten - ein Stoff, von dem Dessauer lange fürchtete, Barsilay würde ihm den vor der Nase wegschnappen.
Die kulturbetrieblichen und zeitgeschichtlichen Versatzstücke, mit denen Biller hantiert - von der hohepriesterlichen Suhrkamp-Verlegerin über Herfried Münkler und Rainald Goetz bis hin zum Historikerstreit -, sind mit Händen zu greifen. Dreh- und Angelpunkt ist, wieder einmal, der Holocaust: Dessauer schreibt seine erste große Radiorezension über das "Zwiebel"-Buch, in dem Günter Grass seine SS-Vergangenheit ausbreitete.
Über dem zeitgeschichtlichen Gehalt sollte man das Nervenkostüm, das auch dem Roman gleichsam übergeworfen ist, nicht übersehen. Dessauer, außerordentlich reizbar, nah am Wasser gebaut, dem die Angst vor einer gesellschaftlichen Blamage im Nacken sitzt, hat in Barsilay einen inneren, spiegelverkehrten Doppelgänger, dem er den Erfolg, die Freundin und die Selbstsicherheit, mit der er auftritt, neidet. Biller macht ihn dabei nicht besser, als er ist, zeigt ihn in seinem Einzelgängertum, sogar in einer gewissen Schäbigkeit, durch welche die Sehnsucht, doch auch dazuzugehören, permanent hindurchschimmert.
Die Selbstkritik, die dabei abfällt, überführt er in Zeitkritik. So richtet sich Billers schriftstellerische Aggression weniger gegen das Personal, sondern vielmehr gegen eine Öffentlichkeit, die solche Wichtigtuer zu Einfluss kommen lässt. Dies alles geschieht zulasten auch des Protagonisten: Er erfährt in seiner konsequent literarischen Aneignung der Welt einen persönlichen Substanzverlust, der durch die Reibung an Barsilay erst recht hervortritt.
Für diesen Antihelden-Typus gibt es ein berühmtes Urbild: Es ist Dostojewskis namenloser Verfasser der "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" (wahlweise "Kellerloch"). Dieser aus einem fortschrittskritischen Monolog und einer Gesellschaftsburleske zusammengezimmerte Novellenzwitter führt, wohl erstmals in der literarischen Moderne, die einerseits zerstörerische, andererseits aber auch erkenntnisstiftende, ja geradezu hellsichtige Kraft des Ressentiments vor, sodass Nietzsche darin ganz richtig einen psychologischen Geniestreich sah.
Auch Billers Ich-Erzähler fördert aus dem Untergrund wenig Schmeichel-, gar Heldenhaftes zutage, immer vor dem Hintergrund, vor dem sein Werk grundsätzlich zu lesen ist und dem man den Arbeitstitel "Spätjudentum als Identität und Nachteil" geben könnte. Es ist verblüffend, wie rückhaltlos er hier wieder (seine eigene?) Feinnervigkeit zum Sujet macht. Dessauer räsoniert über die Bistrogäste, unter die er sich immer wieder mischt: "Sie alle strahlten so viel unneurotisches Selbstbewusstsein und professionelle Ellbogenhaftigkeit aus."
Dostojewskis früher Geist, der von religiöser Ergriffenheit noch einigermaßen frei war, ist hier recht lebendig, Billers Sympathie für die Erniedrigten und Beleidigten notorisch. Zu deren Ehrenrettung ist ihm jedes Mittel recht. Der titelgebende Gruß mag dabei falsch sein, der Roman ist es nicht. EDO REENTS
Maxim Biller: "Der falsche Gruß". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 128 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»'Der falsche Gruß' veredelt eigene Obsessionen zu brillanter Literatur [...] Maxim Biller hat ein brillantes Buch darüber geschrieben, wie der Glaube an die eigene Marginalisierung und an die Verworfenheit des Gegners in Repression und moralische Selbstgefälligkeit umschlägt.« Erika Thomalla Der Freitag 20210825
Tobias Rüther bietet eine einfache Lesart des neuen, kurzen Romans von Maxim Biller an. Derzufolge schreibt Biller eine Art Schlüsselroman, in dem sich zwei Berliner Autoren bekriegen, ein erfolgreicher jüdischer und ein weniger erfolgreicher nicht-jüdischer mit einem Minderwertigkeitskomplex und einem Faible für Ernst Nolte. Dazu passen Klarnamen und Berliner Orte wie der Teutoburger Platz und das Café Einstein. Doch damit ist es laut Rüther nicht getan. Der Roman, meint er, bietet zwar allerhand Verweise auf aktuelle geschichtspolitische Debatten über den Holocaust, die Schuld und die "Faszination fürs Totalitäre", aber er entzieht sich zugleich immer wieder aller Eindeutigkeit. Dass hinter dem jüdischen Intellektuellen im Buch ein Maxim Biller steckt, vermag Rüther zum Beispiel nicht zu behaupten. Nein, schließt er, der Roman kann entschieden mehr: Er hebt ab auf die tödlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts und die Unsitte, aus ihnen immer wieder karrieristisch Kapital zu schlagen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Arm
ohne Charme
In seinem neuen Roman porträtiert Maxim Biller
einen Antisemiten, der nur manchmal einer sein will
VON NILS MINKMAR
In Berlin, wo doch nach der Wiedervereinigung alles ganz neu und besser beginnen sollte, spukt es und von diesem Spuk handelt der neue Roman von Maxim Biller. Er beschreibt eine Szene von Literaten und Künstlern, Journalisten und Verlagsmenschen, die gerne in einem französischen Lokal an der Torstraße essen und trinken. Dort geschieht es: Erck Dessauer, der Protagonist des Buchs, gerät in einen Streit oder eher in einen Zustand und imaginiert, dass der erfolgreiche jüdische Autor Hans Ulrich Barsilay etwas gegen ihn ausheckt. Und dann hebt er seinen rechten Arm zum Hitlergruß.
Darauf entfaltet sich vielleicht einer der vielen semiliterarischen Skandale, die das deutsche Kulturleben regelmäßig heimsuchen, ohne dass der Lerneffekt bemerkenswert wäre. Oder es passiert einfach gar nichts. In Billers Buch würde nun stehen, dass man nicht „spoilern“ möchte – denn die flüchtigen Anglizismen des jetzigen Deutschs sind wichtige Marker im Monolog des Erck Dessauer.
Biller schildert die Gedanken und Erfahrungen von Dessauer in der Ich-Perspektive, aber den einen guten Grund für den versuchten, verrutschen Nazigruß erfahren die Leserinnen und Leser nicht. Es geht stattdessen viel um Selbstmitleid, um die Furcht vor den sozialen Folgen der Geste, die gar nicht zur schönen neuen Biederkeit von Berlin-Mitte passt. Erck ist ein Mann, der allein lebt und viel weint, insbesondere um sein eigenes Schicksal oder das seines Großvaters Julius, der auch schon viel geweint hat. Zwar hat Dessauer in Berlin einiges erreicht, bewohnt eine schöne Wohnung und wird von seinen Nachbarn respektiert, aber er muss fürchten, alles zu verlieren, weil der rechte Arm nicht unten blieb.
Erck kommt aus Leipzig, wurde noch in der DDR groß und hat das Gefühl, in Berlin nur sehr langsam anzukommen. Für ihn sind Männer wie Barsilay Torwächter zu einem guten Leben in der Gelehrtenrepublik.
Diesen wiederum, Barsilay, muss man sich als ziemliche Nervensäge vorstellen. Er trägt Züge von Maxim Biller – eines der Barsilay-Bücher wurde wegen Verstoßes gegen Persönlichkeitsrechte verboten –, ist aber im Gegensatz zu ihm eifriger Lieferant steiler, geschichtsphilosophischer Thesen. Er nennt die Menschen in der DDR „bolschewisierte Menschenaffen“ und wirft gleichzeitig den Westdeutschen vor, mit ihnen nach der Wiedervereinigung ähnlich brutal umgegangen zu sein wie die „Truppen des Leutnants von Trotha mit den hilflosen, mutigen Hereros“.
Von solchen schwindelerregenden Phrasen, Vergleichen und Beschreibungen ist das Buch durchweht: Erinnerungen an die Familiengeschichte während des Krieges und der DDR, an Ähnlichkeiten mit toten Personen aus dem Umfeld Lenins, und immer wieder zur Nazizeit und ihres Personals. Ein alter Baum wird beschrieben und Dessauer stellt sich vor, wer schon alles daran vorbei spaziert ist, Bert Brecht, Horst Wessel und Hans Rosenthal. Schon hat man den Baum vergessen, aber auch nichts wirklich verstanden. All diese lustvoll parodierten Bezüge bringen keine Klarheit, sondern führen in einen historischen Schwindel, in dem alles nur noch Verweis und Zitat ist.
Also jonglieren die Figuren des Romans mit Konzepten und Begriffen, üben Posen und geben generell recht viel von sich, von dem sie nicht wissen, woher es stammt. Als der arme Dessauer einmal die Wahrheit über die Kriegsjahre seines Opas enthüllen möchte, bemerkt er, dass er sie gar nicht kennt, stattdessen fällt ihm eine Kriegsepisode aus dem Roman „Neue Zeit“ von Hermann Lenz ein, also erzählt er die. Doch Barsilay erkennt die Stelle und liefert cool die fehlende Fußnote zum Zitat. Ist die Erinnerung nur eine Collage aus Büchern und Filmen, oder eher ein böser Spuk, dem durch Aufklärung beizukommen sein müsste?
Ein Buch, das erwähnt wird und in der Jugend von Dessauer wichtig war, ist „Orientalismus“ von Edward Said. In dem geisteswissenschaftlichen Klassiker aus dem Jahr 1978 geht es um die Macht der Zuschreibung. Said legt dar, wie Autoren aus dem Westen die Kulturen der arabischen Welt als geheimnisvoll und mystisch beschreiben und so zu etwas Anderem machen, über das man sich noch in der Faszination erheben kann. Dessauer, der immer meint, nicht dazuzugehören, erkennt sich in der Rolle des Bevormundeten. Said, der Roman erinnert zu Recht daran, war seinerzeit einer der berühmtesten Palästinenser. Später kam heraus, dass er nie in Palästina gelebt hat, sondern in Kairo aufgewachsen ist. Solche fragmentierten, widersprüchlichen Identitäten sind typisch für „Der falsche Gruß“: Der berühmte Barsilay gibt immer wieder mit einer Erfahrung beim Besuch der Gedenkstätte Auschwitz an, dabei war er nie dort.
Nun führen die Übertreibungen und Gags mit dem identitätskulturellen Wahnsinn der Berliner Gegenwart aber nicht dazu, dass in der Nacht von Berlin-Mitte alle Katzen grau sind. Biller zeichnet in der mittelmäßigen Karriere, den familiären Belastungen und dem sexuellen Frust von Erck Dessauer ein ziemlich genaues Porträt eines Antisemiten, der nur manchmal einer sein möchte. Hier erinnert Biller an Jean-Paul Sartres treffenden Essay „Kindheit eines Chefs“, in dem eine fragile Männlichkeit, eine Sehnsucht nach sozialer Relevanz und sexueller Bestätigung als Motive einer rechten Gesinnung beschreiben werden. Aber Biller macht es so, dass man sich gern mit ihm beschäftigt, ihm zuhört und ziemlich oft lachen muss.
Eines Tages etwa klingelt die von ihm sehr verehrte, sehr begehrte Ex-Freundin von Barsilay, Valeria. Dessauer öffnet ihr mit einer roten Stirn, denn er hatte duschen wollen, sich aber beim Ausziehen so ungeschickt in seinen Boxershorts verheddert, dass er umfiel und mit dem Kopf am Waschbecken aufkam. Überhaupt wird in dem Buch viel gefuchtelt und gestolpert, als seien die Menschen von Mitte nicht ganz zuhause in ihrer schicken Welt. Dennoch lädt er sie ein, eine Tasse Tee zu trinken und natürlich geht es schief, wir haben es ja mit dem Leben von Erck Dessauer zu tun, aber der ganz kurze Moment, an dem sie nur in der Küche sitzen und erzählen ist wunderschön beschrieben.
Valeria wurde in Moskau geboren, aber landet wie so viele bei der Wohnungssuche in Berlin-Mitte. Dort lebt auch der Autor des Romans, in Prag geboren, in Hamburg aufgewachsen, seit vielen Jahren. Er beschreibt hier die Straßen, Kneipen und Parks, die seinen Alltag prägen. Ebenso reflektiert er an verschiedenen Stellen des Buchs mehr oder weniger deutlich seine eigene Entwicklung als Figur im deutschen Kulturbetrieb, mal liebevoll, mal fassungslos.
Er verarbeitet all die Walser- und Grass-Debatten, ohne sie namentlich zu erwähnen, kompensiert und sublimiert Rainald Goetz, Frank Schirrmacher und Christian Kracht in spätem Staunen oder frecher Parodie. Längst ist Biller selbst berühmt und in der Position, von jüngeren Autorinnen und Autoren angegriffen zu werden, aber hier schreibt er wie jemand, der sich nun etwas Neues zutraut.
Dem ganzen Mitte-Zirkus stellt Biller literarische Präzision entgegen, wo es um die Beschreibung der Gegenwart geht. Wie Berlin aussieht, was die Leute so machen, wie der Himmel, die Bäume und die Straßen wirken – in der virtuosen Beschreibung des süßen Lebens, wie es sich im Augenblick finden lässt, arbeitet er mit einer ergreifenden, an Proust erinnernden Poesie. So bringt der Roman auf den Punkt, woran es in der Bundesrepublik fehlt: An einem Verständnis der Gegenwart, Wünschen für die Zukunft und Freude am Leben.
Einen guten Grund für den
versuchten, verrutschen Nazigruß
erfahren man nicht
Schreibt wie einer, der sich was Neues zutraut: Maxim Biller.
Foto: Thomas Lohnes/Getty
Maxim Biller: Der falsche Gruß. Kiepenheuer&Witsch. Köln 2021. 128 Seiten.
20 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ohne Charme
In seinem neuen Roman porträtiert Maxim Biller
einen Antisemiten, der nur manchmal einer sein will
VON NILS MINKMAR
In Berlin, wo doch nach der Wiedervereinigung alles ganz neu und besser beginnen sollte, spukt es und von diesem Spuk handelt der neue Roman von Maxim Biller. Er beschreibt eine Szene von Literaten und Künstlern, Journalisten und Verlagsmenschen, die gerne in einem französischen Lokal an der Torstraße essen und trinken. Dort geschieht es: Erck Dessauer, der Protagonist des Buchs, gerät in einen Streit oder eher in einen Zustand und imaginiert, dass der erfolgreiche jüdische Autor Hans Ulrich Barsilay etwas gegen ihn ausheckt. Und dann hebt er seinen rechten Arm zum Hitlergruß.
Darauf entfaltet sich vielleicht einer der vielen semiliterarischen Skandale, die das deutsche Kulturleben regelmäßig heimsuchen, ohne dass der Lerneffekt bemerkenswert wäre. Oder es passiert einfach gar nichts. In Billers Buch würde nun stehen, dass man nicht „spoilern“ möchte – denn die flüchtigen Anglizismen des jetzigen Deutschs sind wichtige Marker im Monolog des Erck Dessauer.
Biller schildert die Gedanken und Erfahrungen von Dessauer in der Ich-Perspektive, aber den einen guten Grund für den versuchten, verrutschen Nazigruß erfahren die Leserinnen und Leser nicht. Es geht stattdessen viel um Selbstmitleid, um die Furcht vor den sozialen Folgen der Geste, die gar nicht zur schönen neuen Biederkeit von Berlin-Mitte passt. Erck ist ein Mann, der allein lebt und viel weint, insbesondere um sein eigenes Schicksal oder das seines Großvaters Julius, der auch schon viel geweint hat. Zwar hat Dessauer in Berlin einiges erreicht, bewohnt eine schöne Wohnung und wird von seinen Nachbarn respektiert, aber er muss fürchten, alles zu verlieren, weil der rechte Arm nicht unten blieb.
Erck kommt aus Leipzig, wurde noch in der DDR groß und hat das Gefühl, in Berlin nur sehr langsam anzukommen. Für ihn sind Männer wie Barsilay Torwächter zu einem guten Leben in der Gelehrtenrepublik.
Diesen wiederum, Barsilay, muss man sich als ziemliche Nervensäge vorstellen. Er trägt Züge von Maxim Biller – eines der Barsilay-Bücher wurde wegen Verstoßes gegen Persönlichkeitsrechte verboten –, ist aber im Gegensatz zu ihm eifriger Lieferant steiler, geschichtsphilosophischer Thesen. Er nennt die Menschen in der DDR „bolschewisierte Menschenaffen“ und wirft gleichzeitig den Westdeutschen vor, mit ihnen nach der Wiedervereinigung ähnlich brutal umgegangen zu sein wie die „Truppen des Leutnants von Trotha mit den hilflosen, mutigen Hereros“.
Von solchen schwindelerregenden Phrasen, Vergleichen und Beschreibungen ist das Buch durchweht: Erinnerungen an die Familiengeschichte während des Krieges und der DDR, an Ähnlichkeiten mit toten Personen aus dem Umfeld Lenins, und immer wieder zur Nazizeit und ihres Personals. Ein alter Baum wird beschrieben und Dessauer stellt sich vor, wer schon alles daran vorbei spaziert ist, Bert Brecht, Horst Wessel und Hans Rosenthal. Schon hat man den Baum vergessen, aber auch nichts wirklich verstanden. All diese lustvoll parodierten Bezüge bringen keine Klarheit, sondern führen in einen historischen Schwindel, in dem alles nur noch Verweis und Zitat ist.
Also jonglieren die Figuren des Romans mit Konzepten und Begriffen, üben Posen und geben generell recht viel von sich, von dem sie nicht wissen, woher es stammt. Als der arme Dessauer einmal die Wahrheit über die Kriegsjahre seines Opas enthüllen möchte, bemerkt er, dass er sie gar nicht kennt, stattdessen fällt ihm eine Kriegsepisode aus dem Roman „Neue Zeit“ von Hermann Lenz ein, also erzählt er die. Doch Barsilay erkennt die Stelle und liefert cool die fehlende Fußnote zum Zitat. Ist die Erinnerung nur eine Collage aus Büchern und Filmen, oder eher ein böser Spuk, dem durch Aufklärung beizukommen sein müsste?
Ein Buch, das erwähnt wird und in der Jugend von Dessauer wichtig war, ist „Orientalismus“ von Edward Said. In dem geisteswissenschaftlichen Klassiker aus dem Jahr 1978 geht es um die Macht der Zuschreibung. Said legt dar, wie Autoren aus dem Westen die Kulturen der arabischen Welt als geheimnisvoll und mystisch beschreiben und so zu etwas Anderem machen, über das man sich noch in der Faszination erheben kann. Dessauer, der immer meint, nicht dazuzugehören, erkennt sich in der Rolle des Bevormundeten. Said, der Roman erinnert zu Recht daran, war seinerzeit einer der berühmtesten Palästinenser. Später kam heraus, dass er nie in Palästina gelebt hat, sondern in Kairo aufgewachsen ist. Solche fragmentierten, widersprüchlichen Identitäten sind typisch für „Der falsche Gruß“: Der berühmte Barsilay gibt immer wieder mit einer Erfahrung beim Besuch der Gedenkstätte Auschwitz an, dabei war er nie dort.
Nun führen die Übertreibungen und Gags mit dem identitätskulturellen Wahnsinn der Berliner Gegenwart aber nicht dazu, dass in der Nacht von Berlin-Mitte alle Katzen grau sind. Biller zeichnet in der mittelmäßigen Karriere, den familiären Belastungen und dem sexuellen Frust von Erck Dessauer ein ziemlich genaues Porträt eines Antisemiten, der nur manchmal einer sein möchte. Hier erinnert Biller an Jean-Paul Sartres treffenden Essay „Kindheit eines Chefs“, in dem eine fragile Männlichkeit, eine Sehnsucht nach sozialer Relevanz und sexueller Bestätigung als Motive einer rechten Gesinnung beschreiben werden. Aber Biller macht es so, dass man sich gern mit ihm beschäftigt, ihm zuhört und ziemlich oft lachen muss.
Eines Tages etwa klingelt die von ihm sehr verehrte, sehr begehrte Ex-Freundin von Barsilay, Valeria. Dessauer öffnet ihr mit einer roten Stirn, denn er hatte duschen wollen, sich aber beim Ausziehen so ungeschickt in seinen Boxershorts verheddert, dass er umfiel und mit dem Kopf am Waschbecken aufkam. Überhaupt wird in dem Buch viel gefuchtelt und gestolpert, als seien die Menschen von Mitte nicht ganz zuhause in ihrer schicken Welt. Dennoch lädt er sie ein, eine Tasse Tee zu trinken und natürlich geht es schief, wir haben es ja mit dem Leben von Erck Dessauer zu tun, aber der ganz kurze Moment, an dem sie nur in der Küche sitzen und erzählen ist wunderschön beschrieben.
Valeria wurde in Moskau geboren, aber landet wie so viele bei der Wohnungssuche in Berlin-Mitte. Dort lebt auch der Autor des Romans, in Prag geboren, in Hamburg aufgewachsen, seit vielen Jahren. Er beschreibt hier die Straßen, Kneipen und Parks, die seinen Alltag prägen. Ebenso reflektiert er an verschiedenen Stellen des Buchs mehr oder weniger deutlich seine eigene Entwicklung als Figur im deutschen Kulturbetrieb, mal liebevoll, mal fassungslos.
Er verarbeitet all die Walser- und Grass-Debatten, ohne sie namentlich zu erwähnen, kompensiert und sublimiert Rainald Goetz, Frank Schirrmacher und Christian Kracht in spätem Staunen oder frecher Parodie. Längst ist Biller selbst berühmt und in der Position, von jüngeren Autorinnen und Autoren angegriffen zu werden, aber hier schreibt er wie jemand, der sich nun etwas Neues zutraut.
Dem ganzen Mitte-Zirkus stellt Biller literarische Präzision entgegen, wo es um die Beschreibung der Gegenwart geht. Wie Berlin aussieht, was die Leute so machen, wie der Himmel, die Bäume und die Straßen wirken – in der virtuosen Beschreibung des süßen Lebens, wie es sich im Augenblick finden lässt, arbeitet er mit einer ergreifenden, an Proust erinnernden Poesie. So bringt der Roman auf den Punkt, woran es in der Bundesrepublik fehlt: An einem Verständnis der Gegenwart, Wünschen für die Zukunft und Freude am Leben.
Einen guten Grund für den
versuchten, verrutschen Nazigruß
erfahren man nicht
Schreibt wie einer, der sich was Neues zutraut: Maxim Biller.
Foto: Thomas Lohnes/Getty
Maxim Biller: Der falsche Gruß. Kiepenheuer&Witsch. Köln 2021. 128 Seiten.
20 Euro
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