Natascha Wodin erzählt in fünf Geschichten meisterhaft und mit großer Dringlichkeit vom Gefühl des Fremdseins im eigenen Leben und schenkt ihren Figuren eine Heimat in der Literatur. In der Titelgeschichte zieht die Erzählerin eine Spur von Mariupol am Asowschen Meer, an dem ihre Mutter aufwuchs, bis zur Regnitz in Franken, dem Fluss, in dem diese sich das Leben nahm. Zu einer anderen Zeit in ihrem Leben verliebt sie sich in einen Fremden, mit dem sie die Magie der Musik verbindet, oder sie beobachtet eine verwahrloste Nachbarin, die ihre Umgebung wissentlich zugrunde gehen lässt. In Sri Lanka lernt sie Hunger und extremes Elend kennen, das die Welt sehenden Auges geschehen lässt, und in einer schweren existenziellen Krise zieht sie sich schließlich in eine Einsiedelei in den südpfälzischen Weinbergen zurück und ringt dort mit einer dunklen inneren Macht. Natascha Wodin führt uns auf die Nachtseite des Lebens und gibt den Außenseitern, den Einsamen und Verwundeten eine Stimme, die auch nach der Lektüre nicht verklingt. Für die Hörbuchlesung des Vorgängerromans Nastjas Tränen erhielt Martina Gedeck 2022 den Deutschen Hörbuchpreis als beste Interpretin.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Autofiktionale Prosa von großer Klarheit schreibt Natascha Wodin laut Rezensentin Katharina Granzin auch in diesem Band, der Erzählungen versammelt, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sind. Fünf an der Zahl sind es, sie spielen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten, aber, findet Granzin, sie setzen sich durchaus zu einem einzigen Leben zusammen. Granzin fasst die Handlungen der Erzählungen kurz zusammen, es geht unter anderem um den Blick der Erzählerin auf ihre zunehmend verwahrloste Nachbarin und um eine Liebesgeschichte, die sich über Briefe entfaltet. Hochemotional und eindringlich sind viele der Situationen, von denen Wodin erzählt, beschreibt Granzin, aber die Untiefen bleiben hinter dem skeptischen Blick der Erzählerin weitgehend verborgen. Eben darin, in der Darstellung des Unbekannten, der nicht greifbaren Verzweiflung, sieht die Rezensentin die große Stärke dieses Buchs.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2024Es werden wieder Katzen und Hunde gegessen
Das zentrale Motiv ist eine durch nichts aus der Welt zu schaffende Angst: Natascha Wodins Erzählband "Der Fluss und das Meer"
Überschaubare vierundsechzig Kilometer lang ist die Regnitz. Sie fließt von Fürth nach Bamberg, um dort in den Main zu münden. Stark gefährdeten Fischarten bietet sie eine Heimat: Der Waller schwimmt in ihren Wassern, die Barbe und sogar die Nase (aus der Familie der Karpfenfische). An den Ufern kann man Knäk- und Pfeifenten beobachten. Und bei Bruck tut ein altes Wasserschöpfrad seinen Dienst.
In diesem fränkischen Idyll ertränkte sich 1956 die Mutter von Natascha Wodin. Unter Stalin wegen ihrer adeligen Herkunft verfolgt, von den Nazis zur Zwangsarbeit verschleppt, Displaced Person in der Nachkriegszeit und als eine jener "Bestien aus dem Osten" von den guten Deutschen auch nach dem Krieg fortwährend angefeindet, nahm sie sich das Leben, als ihre Tochter zehn Jahre alt war (oder elf, die Angaben weichen voneinander ab).
In "Der Fluss und das Meer", dem titelgebenden, zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung abgedruckten Text von Wodins neuem Erzählband, stellt sich die Autorin vor, dass ihre Mutter, auch wenn deren Leiche aus dem Fluss gefischt wurde, über die Regnitz, den Main und den Main-Donau-Kanal in Spurenelementen doch wieder zurückgekehrt ist in ihre Heimat, ans Asowsche Meer, nach Mariupol.
Keine wirklich tröstliche Vorstellung, denn die Stadt ist heute zerstört durch "die Bomben eines wahnsinnigen russischen Hegemons. Es ist wie ein dritter Mordversuch an meiner Mutter. Sie kennt das vom Krieg verheerte Mariupol: die Steinhaufen der zertrümmerten Häuser in den Straßen, die leise brennenden Möbel in den Häusern mit den abgerissenen Fassaden, das ständige Sirenengeheul. Kein Trinkwasser, kein Strom, keine Nahrungsmittel. Es werden wieder Katzen und Hunde gegessen. Die verwaisten, ausgehungerten Hunde fressen unterdessen die Menschenleichen an, die in den Straßen liegen. Zum Glück muss sie das alles nicht noch einmal erleben. Die Geschichte wiederholt sich, sie bewegt sich nicht linear, sondern dreht sich im Kreis."
Das gilt auch, so Natascha Wodin jüngst in einem langen biographischen Gespräch für die Zeitschrift "Sinn und Form", für das Bild der Russen als "Bestien aus dem Osten". Bei allem Verständnis für den Freiheitswillen der Ukraine (wenngleich sie Waffenlieferungen skeptisch sieht), beklagt Wodin den Russenhass, der aus der Ukraine zu uns, so meint sie, herüberschwappe: "In Wahrheit fühle ich mich jetzt in Deutschland immer weniger zu Hause - ein bitteres Ende meiner Geschichte in diesem Land."
So beginnt "Der Fluss und das Meer" mit einer in vielerlei Hinsicht bitteren, aktuellen Note. Die folgenden Erzählungen wurden ebenfalls früher zuvor veröffentlicht und reichen weit zurück in die Geschichte der Bundesrepublik. In "Nachbarinnen" erzählt Wodin von den Sechzigerjahren, als ihr Alter Ego alles daransetzt, das Schandmal der Herkunft vergessen zu machen, und das neue Reihenhaus-Glück (im wirklichen Leben mit einem NPD-Funktionär) durch eine verwahrloste Nachbarin gefährdet sieht.
Chronologisch fortschreitend geht es in "Notturno" um die Liebe zu einem im psychiatrischen System gefangenen Musikliebhaber und zugleich um die eigene, pathologische Züge tragende Obsession des Schreibens.
In "Das Singen der Fische", der zentralen und längsten Erzählung des Bandes, bilden wieder ein anderer Mann und ein gänzlich anderes Umfeld, die linke WG-Kultur Münchens der Siebzigerjahre, den Ausgangspunkt. Mit diesem Mann und seiner Schwester reist die Erzählerin nach Sri Lanka in die vermeintliche große Freiheit: "Mein Deutschland war nie das ihre gewesen, sie rebellierten gegen Verhältnisse, die ich nicht kannte, gegen Täter-Eltern, die nicht die meinen waren, gegen Wohlstandseltern, die ich nie gehabt hatte. Ich wollte so sein wie sie, ich wollte dazugehören, aber ich konnte nicht zu etwas gehören, das ich in seinem Wesen weder kannte noch verstand. Ich gehörte zu gar nichts. Weder zu Deutschland noch zu Russland oder zur Ukraine und immer weniger auch zu mir selbst. Ich gehörte zu Sri Lanka. Hier war ich in meiner eigenen inneren Wildnis angekommen, in genau jener Fremde, in der ich immer schon war."
Den Ton dieser Erzählungen kennt man in Wodins Romanen: Durch die scheinbare Kunstlosigkeit wird sogleich ein Vertrauensverhältnis zwischen Erzählerin und Leser hergestellt. Nähe und Distanz tariert Wodin dabei genau aus: Man erfährt von den prägenden Gewalterfahrungen, den Traumata, Obsessionen und Zwangsvorstellungen auf eine so sachliche, zuweilen fast lapidare Art, dass man nie das Gefühl hat, einer Beichte, einer unangenehmen Offenbarung beizuwohnen. Das zentrale Motiv dieser Texte aber ist die Angst. Die namenlose Angst, die Angst, die allem innewohnt, das grundlegende Gefühl, der Welt und den Menschen fremd zu sein.
Diese Angst erfährt in der abschließenden Erzählung "Les Sables-d'Olonne" eine Analyse, wie nur die Literatur in der Lage ist sie zu vorzunehmen: "Durch nichts, was ich in einem Jahrzehnt unternommen habe, konnte ich dem Unerklärlichen auf die Spur kommen. In einer Psychotherapie habe ich jahrelang meine Kindheit seziert, ich habe mehrere Kilo psychologischer Bücher gelesen und viel über mich gelernt, ich habe es mit der Philosophie versucht, mit der Theologie, mit Gestalttherapie, mit Biodynamik, mit Yoga, mit Meditation, mit Psychopharmaka, ich habe es mit Gott und mit dem Teufel versucht, aber die Angst lachte." TOBIAS LEHMKUHL
Natascha Wodin: "Der Fluss und das Meer". Erzählungen.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das zentrale Motiv ist eine durch nichts aus der Welt zu schaffende Angst: Natascha Wodins Erzählband "Der Fluss und das Meer"
Überschaubare vierundsechzig Kilometer lang ist die Regnitz. Sie fließt von Fürth nach Bamberg, um dort in den Main zu münden. Stark gefährdeten Fischarten bietet sie eine Heimat: Der Waller schwimmt in ihren Wassern, die Barbe und sogar die Nase (aus der Familie der Karpfenfische). An den Ufern kann man Knäk- und Pfeifenten beobachten. Und bei Bruck tut ein altes Wasserschöpfrad seinen Dienst.
In diesem fränkischen Idyll ertränkte sich 1956 die Mutter von Natascha Wodin. Unter Stalin wegen ihrer adeligen Herkunft verfolgt, von den Nazis zur Zwangsarbeit verschleppt, Displaced Person in der Nachkriegszeit und als eine jener "Bestien aus dem Osten" von den guten Deutschen auch nach dem Krieg fortwährend angefeindet, nahm sie sich das Leben, als ihre Tochter zehn Jahre alt war (oder elf, die Angaben weichen voneinander ab).
In "Der Fluss und das Meer", dem titelgebenden, zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung abgedruckten Text von Wodins neuem Erzählband, stellt sich die Autorin vor, dass ihre Mutter, auch wenn deren Leiche aus dem Fluss gefischt wurde, über die Regnitz, den Main und den Main-Donau-Kanal in Spurenelementen doch wieder zurückgekehrt ist in ihre Heimat, ans Asowsche Meer, nach Mariupol.
Keine wirklich tröstliche Vorstellung, denn die Stadt ist heute zerstört durch "die Bomben eines wahnsinnigen russischen Hegemons. Es ist wie ein dritter Mordversuch an meiner Mutter. Sie kennt das vom Krieg verheerte Mariupol: die Steinhaufen der zertrümmerten Häuser in den Straßen, die leise brennenden Möbel in den Häusern mit den abgerissenen Fassaden, das ständige Sirenengeheul. Kein Trinkwasser, kein Strom, keine Nahrungsmittel. Es werden wieder Katzen und Hunde gegessen. Die verwaisten, ausgehungerten Hunde fressen unterdessen die Menschenleichen an, die in den Straßen liegen. Zum Glück muss sie das alles nicht noch einmal erleben. Die Geschichte wiederholt sich, sie bewegt sich nicht linear, sondern dreht sich im Kreis."
Das gilt auch, so Natascha Wodin jüngst in einem langen biographischen Gespräch für die Zeitschrift "Sinn und Form", für das Bild der Russen als "Bestien aus dem Osten". Bei allem Verständnis für den Freiheitswillen der Ukraine (wenngleich sie Waffenlieferungen skeptisch sieht), beklagt Wodin den Russenhass, der aus der Ukraine zu uns, so meint sie, herüberschwappe: "In Wahrheit fühle ich mich jetzt in Deutschland immer weniger zu Hause - ein bitteres Ende meiner Geschichte in diesem Land."
So beginnt "Der Fluss und das Meer" mit einer in vielerlei Hinsicht bitteren, aktuellen Note. Die folgenden Erzählungen wurden ebenfalls früher zuvor veröffentlicht und reichen weit zurück in die Geschichte der Bundesrepublik. In "Nachbarinnen" erzählt Wodin von den Sechzigerjahren, als ihr Alter Ego alles daransetzt, das Schandmal der Herkunft vergessen zu machen, und das neue Reihenhaus-Glück (im wirklichen Leben mit einem NPD-Funktionär) durch eine verwahrloste Nachbarin gefährdet sieht.
Chronologisch fortschreitend geht es in "Notturno" um die Liebe zu einem im psychiatrischen System gefangenen Musikliebhaber und zugleich um die eigene, pathologische Züge tragende Obsession des Schreibens.
In "Das Singen der Fische", der zentralen und längsten Erzählung des Bandes, bilden wieder ein anderer Mann und ein gänzlich anderes Umfeld, die linke WG-Kultur Münchens der Siebzigerjahre, den Ausgangspunkt. Mit diesem Mann und seiner Schwester reist die Erzählerin nach Sri Lanka in die vermeintliche große Freiheit: "Mein Deutschland war nie das ihre gewesen, sie rebellierten gegen Verhältnisse, die ich nicht kannte, gegen Täter-Eltern, die nicht die meinen waren, gegen Wohlstandseltern, die ich nie gehabt hatte. Ich wollte so sein wie sie, ich wollte dazugehören, aber ich konnte nicht zu etwas gehören, das ich in seinem Wesen weder kannte noch verstand. Ich gehörte zu gar nichts. Weder zu Deutschland noch zu Russland oder zur Ukraine und immer weniger auch zu mir selbst. Ich gehörte zu Sri Lanka. Hier war ich in meiner eigenen inneren Wildnis angekommen, in genau jener Fremde, in der ich immer schon war."
Den Ton dieser Erzählungen kennt man in Wodins Romanen: Durch die scheinbare Kunstlosigkeit wird sogleich ein Vertrauensverhältnis zwischen Erzählerin und Leser hergestellt. Nähe und Distanz tariert Wodin dabei genau aus: Man erfährt von den prägenden Gewalterfahrungen, den Traumata, Obsessionen und Zwangsvorstellungen auf eine so sachliche, zuweilen fast lapidare Art, dass man nie das Gefühl hat, einer Beichte, einer unangenehmen Offenbarung beizuwohnen. Das zentrale Motiv dieser Texte aber ist die Angst. Die namenlose Angst, die Angst, die allem innewohnt, das grundlegende Gefühl, der Welt und den Menschen fremd zu sein.
Diese Angst erfährt in der abschließenden Erzählung "Les Sables-d'Olonne" eine Analyse, wie nur die Literatur in der Lage ist sie zu vorzunehmen: "Durch nichts, was ich in einem Jahrzehnt unternommen habe, konnte ich dem Unerklärlichen auf die Spur kommen. In einer Psychotherapie habe ich jahrelang meine Kindheit seziert, ich habe mehrere Kilo psychologischer Bücher gelesen und viel über mich gelernt, ich habe es mit der Philosophie versucht, mit der Theologie, mit Gestalttherapie, mit Biodynamik, mit Yoga, mit Meditation, mit Psychopharmaka, ich habe es mit Gott und mit dem Teufel versucht, aber die Angst lachte." TOBIAS LEHMKUHL
Natascha Wodin: "Der Fluss und das Meer". Erzählungen.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Da ist es wieder, das Wodin-Paradox. Denn gerade dieses unberechenbare Dunkle, das oft Quelle der schlimmsten Verzweiflung ist, diese unbekannte Dimension kann, in Literatur gefasst, ungeheuer interessant sein. Hier jedenfalls ist das so. Katharina Granzin Frankfurter Rundschau 20240409