Der Held: ein Magnetiseur. Der Schauplatz: eine kleine Stadt in Süddeutschland. Die Zeit: jenes faszinierende und widersprüchliche 18. Jahrhundert zwischen Aufklärung und Irrationalismus. Friedrich Meisner zieht als Wunderheiler durch die Lande. Oder ist er etwa nur ein Scharlatan? Nach "Der Besuch des Leibarztes" ein neuer historischer Roman des schwedischen Erfolgsschriftstellers Per Olov Enquist.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2002Der Prügelheiler
Per Olov Enquist bringt Vernunft in eine dunkle Geschichte
Die alte Geschichte vom Rattenfänger und Seelenverführer: Ein Mann kommt in eine Stadt, von irgendwoher, niemand kennt ihn und keiner weiß, was der Fremde eigentlich will. Doch gelingt es ihm, in wenigen Wochen einen Großteil der Bewohner seinen Versprechungen und seinem Willen zu unterwerfen. Per Olov Enquist hat seinen Roman „Der fünfte Winter des Magnetiseurs” 1964 geschrieben. Der damals dreißigjährige Enquist schlägt in diesem frühen Roman den Grundton an, der auch in seinem – dreieinhalb Jahrzehnte später erschienenen – Roman „Der Besuch des Leibarztes”, der Geschichte vom Aufstieg und Fall des Arztes und Politikers Struensee, anklingt. Hier wie dort geht es um die Lust an der Macht, um Verführung, Unterwerfung und (Selbst-)Zerstörung.
Der Magnetiseur Friedrich Meisner in „Der fünfte Winter des Magnetiseurs” erinnert an Franz Anton Mesmer, den „Winkelried der modernen Seelenheilkunde” wie Stefan Zweig ihn nannte. Mesmer hatte in den siebziger Jahren des achtezhnten Jahrhunderts den „tierischen Magnetismus” als Heilmittel ausgemacht: Durch Handauflegen, Magnetisieren und Hypnose sollte der Therapeut, der im Besitz des „Fluidums” war, den angeblich stockenden Säftefluss beim Patienten wieder in Gang bringen.
Zu Zeiten, da es den Supermarkt der Psychotherapien noch nicht gibt, riskiert Meisner viel: Prügel, Prozesse und Austreibungen aus diversen Städten säumen seinen Weg. Als er seinen Häschern wieder einmal entkommen ist, fängt er in Seefond, einer fiktiven süddeutschen Stadt, sogleich von vorne an. Mit sicherem Gespür hat er erkannt, dass die Tochter des Arztes Selinger nach einer Vergewaltigung an einer hysterischen Erblindung leidet. In langen, suggestiv geführten Gesprächen gelingt es ihm, das Mädchen wieder sehend zu machen. Dieser Erfolg öffnet ihm alle Türen: Die Mühseligen und Beladenen, die Gelangweilten und die Sensationsgierigen kommen zu ihm, und in gruppentherapeutischen Sitzungen mit viel Hokuspokus bringt er es zu erstaunlichen Heilerfolgen – bis er zu weit geht und auf dem Weg zum Ruhm zu plumpen Betrügereien greift.
In diese effektsicher und perspektivenreich erzählte Geschichte webt Enquist andere, tiefgründigere Geschichten. Eine der eindringlichsten ist die Schilderung des Verhältnisses von Meisner zum Arzt Selinger. Der ist zunächst dankbar, dass seine Tochter wieder sehen kann. Doch das ist nur die Oberfläche, darunter rühren sich stärkere Impulse: Angeödet von der Mittelmäßigkeit seines Daseins, von der rationalistischen Ordnung seines Alltags, wird ihm Meisner zum Verführer, der ihn in gedanken- und tatenreichere Welten bringen kann. So entsteht eine gleichsam religiöse Situation: Selinger wird zum Jünger des Heilsbringers Meisner. Doch er wird es nicht ganz, er bleibt der Zweifler und Vernunftmensch, der Meisner zum Schluss als Betrüger entlarven wird. Enquist, der bereits in diesem frühen Werk über große sprachliche und stilistische Differenzierungs- und Modulationsfähigkeiten verfügt, zeigt den Weg zurück in die Prosa des Alltags als widerspruchs- und verlustreichen Prozess. War auf Seiten Meisners nicht mehr Wärme und Vitalität als bei den korrekten Bürgern? Ist der Betrüger und Suggestionskünstler Meisner seinen Patienten nicht viel näher gekommen als alle Schulmediziner?
Fragen, die Enquist offen lässt. Sein Roman kann als farbiges Sittengemälde t gelesen werden, aber auch als eine große Parabel, in der der Prozess der Zivilisation mit seinen Gegenläufigkeiten von Vernunftgläubigkeit und Irrationalismus, Ordnung und Anarchie, Aufklärung und Romantik auf höchst originelle und anregende Art geschildert wird. Wie Enquist die Spannung zwischen diesen beiden Polen aufrecht erhält, das zeugt von großer und verführerischer Erzählkunst.
CLAUS ULRICH BIELEFELD
PER OLOV ENQUIST: Der fünfte Winter des Magnetiseurs. Roman. Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass. 264 Seiten, 21,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Per Olov Enquist bringt Vernunft in eine dunkle Geschichte
Die alte Geschichte vom Rattenfänger und Seelenverführer: Ein Mann kommt in eine Stadt, von irgendwoher, niemand kennt ihn und keiner weiß, was der Fremde eigentlich will. Doch gelingt es ihm, in wenigen Wochen einen Großteil der Bewohner seinen Versprechungen und seinem Willen zu unterwerfen. Per Olov Enquist hat seinen Roman „Der fünfte Winter des Magnetiseurs” 1964 geschrieben. Der damals dreißigjährige Enquist schlägt in diesem frühen Roman den Grundton an, der auch in seinem – dreieinhalb Jahrzehnte später erschienenen – Roman „Der Besuch des Leibarztes”, der Geschichte vom Aufstieg und Fall des Arztes und Politikers Struensee, anklingt. Hier wie dort geht es um die Lust an der Macht, um Verführung, Unterwerfung und (Selbst-)Zerstörung.
Der Magnetiseur Friedrich Meisner in „Der fünfte Winter des Magnetiseurs” erinnert an Franz Anton Mesmer, den „Winkelried der modernen Seelenheilkunde” wie Stefan Zweig ihn nannte. Mesmer hatte in den siebziger Jahren des achtezhnten Jahrhunderts den „tierischen Magnetismus” als Heilmittel ausgemacht: Durch Handauflegen, Magnetisieren und Hypnose sollte der Therapeut, der im Besitz des „Fluidums” war, den angeblich stockenden Säftefluss beim Patienten wieder in Gang bringen.
Zu Zeiten, da es den Supermarkt der Psychotherapien noch nicht gibt, riskiert Meisner viel: Prügel, Prozesse und Austreibungen aus diversen Städten säumen seinen Weg. Als er seinen Häschern wieder einmal entkommen ist, fängt er in Seefond, einer fiktiven süddeutschen Stadt, sogleich von vorne an. Mit sicherem Gespür hat er erkannt, dass die Tochter des Arztes Selinger nach einer Vergewaltigung an einer hysterischen Erblindung leidet. In langen, suggestiv geführten Gesprächen gelingt es ihm, das Mädchen wieder sehend zu machen. Dieser Erfolg öffnet ihm alle Türen: Die Mühseligen und Beladenen, die Gelangweilten und die Sensationsgierigen kommen zu ihm, und in gruppentherapeutischen Sitzungen mit viel Hokuspokus bringt er es zu erstaunlichen Heilerfolgen – bis er zu weit geht und auf dem Weg zum Ruhm zu plumpen Betrügereien greift.
In diese effektsicher und perspektivenreich erzählte Geschichte webt Enquist andere, tiefgründigere Geschichten. Eine der eindringlichsten ist die Schilderung des Verhältnisses von Meisner zum Arzt Selinger. Der ist zunächst dankbar, dass seine Tochter wieder sehen kann. Doch das ist nur die Oberfläche, darunter rühren sich stärkere Impulse: Angeödet von der Mittelmäßigkeit seines Daseins, von der rationalistischen Ordnung seines Alltags, wird ihm Meisner zum Verführer, der ihn in gedanken- und tatenreichere Welten bringen kann. So entsteht eine gleichsam religiöse Situation: Selinger wird zum Jünger des Heilsbringers Meisner. Doch er wird es nicht ganz, er bleibt der Zweifler und Vernunftmensch, der Meisner zum Schluss als Betrüger entlarven wird. Enquist, der bereits in diesem frühen Werk über große sprachliche und stilistische Differenzierungs- und Modulationsfähigkeiten verfügt, zeigt den Weg zurück in die Prosa des Alltags als widerspruchs- und verlustreichen Prozess. War auf Seiten Meisners nicht mehr Wärme und Vitalität als bei den korrekten Bürgern? Ist der Betrüger und Suggestionskünstler Meisner seinen Patienten nicht viel näher gekommen als alle Schulmediziner?
Fragen, die Enquist offen lässt. Sein Roman kann als farbiges Sittengemälde t gelesen werden, aber auch als eine große Parabel, in der der Prozess der Zivilisation mit seinen Gegenläufigkeiten von Vernunftgläubigkeit und Irrationalismus, Ordnung und Anarchie, Aufklärung und Romantik auf höchst originelle und anregende Art geschildert wird. Wie Enquist die Spannung zwischen diesen beiden Polen aufrecht erhält, das zeugt von großer und verführerischer Erzählkunst.
CLAUS ULRICH BIELEFELD
PER OLOV ENQUIST: Der fünfte Winter des Magnetiseurs. Roman. Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass. 264 Seiten, 21,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Lahme sehen, Blinde gehen
Der Embryo hat Hühnerknochen: Per Olov Enquist magnetisiert eine ganze Stadt / Von Tilman Spreckelsen
Ist Friedrich Meisner ein Betrüger? Ein Scharlatan, der den Kranken Heilung verspricht und sich doch nur an ihnen bereichern will? Ein Illusionist, der die Leichtgläubigkeit seiner Umgebung ohne jede Rücksicht für seine Zwecke ausnutzt? Per Olov Enquist hütet sich, ein Urteil über seine Romanfigur zu sprechen. Seine Zurückhaltung geht so weit, daß er die Handlung um Meisner stetig bis zu dem Punkt erzählt, an dem über den Magnetiseur vor Gericht ein Urteil in dieser Frage gesprochen werden soll. Dann bricht er ab - wie die sichtlich ratlosen Richter in wenigen Minuten entscheiden werden, ist völlig offen.
Diese Ambivalenz ist Prinzip, sie zieht sich durch das gesamte Buch und kommt dem Phänomen des Magnetismus damit möglicherweise näher, als es die überlieferten Begeisterungsausbrüche seiner Anhänger oder die grundsätzliche Ablehnung seiner Gegner vermögen. Meisner ist ein Magnetiseur in der Nachfolge Franz Anton Mesmers, des großen Popularisators dieser Lehre. Mesmer verkündete kurz vor der Französischen Revolution die Entdeckung eines "Fluidum", das im Kosmos wie im einzelnen Menschen wirksam sei. Krankheiten seien auf einen gestörten Fluß dieser Substanz zurückzuführen, Heilung müsse vom Kranken selbst kommen. Dabei unterstützt ihn ein Magnetiseur, der ihn in einen künstlichen Schlaf versetzt. In diesem somnambulen Zustand vermag der Kranke selbst das Mittel zu seiner Heilung anzugeben und Fragen zu beantworten, von denen sein Alltagsbewußtsein nichts weiß.
So glauben es jedenfalls Mesmers Anhänger, und die Lehre vom "tierischen Magnetismus", dessen man sich in therapeutischer Absicht bedienen könne, verbreitet sich über Europa und die Neue Welt als vor allem literarisch ungemein folgenreiche und kontrovers dargestellte Innovation. Edgar Allan Poe widmet diesem Thema zwei seiner düstersten Erzählungen, aber mit einem deutlich zustimmenden Tenor, während andere Autoren in ihren Werken Magnetiseure lediglich als Scharlatane zeichnen, die am Ende entlarvt werden. Seit dem mittleren neunzehnten Jahrhundert schien der Fall zumindest literarisch entschieden und der Magnetismus in das Arsenal der okkulten Relikte verbannt. Allerdings wurde auch erkannt, daß sich von Mesmers Ansatz, der auf die Befragung des Unterbewußten setzt, eine verschlungene Linie zu Freud ziehen läßt. Mesmers Lehre steht im Kontext der Aufklärungszeit keineswegs isoliert da, und ihre Entsprechung findet sie in den Forschungen wegweisender Naturwissenschaftler sogar aus dem Umkreis der Encyclopédie.
Enquists im Original 1964 erschienener Roman "Der fünfte Winter des Magnetiseurs", der im Zuge des Erfolgs von "Der Besuch des Leibarztes" jetzt wieder auf deutsch erschienen ist, nimmt diesen Zusammenhang auf und legt ihn seinem Text so deutlich zugrunde, daß das Buch nie in die Nähe eines naiven Historienromans alter Schule gerät. Die Verbindung zum Struensee-Roman ist offensichtlich: Beide Texte spielen kurz vor der Wende zum neunzehnten Jahrhundert, in beiden geht es um Aufklärung und Okkultismus, in beiden sind die Hauptfiguren Ärzte. Aber während Enquist in "Der Besuch des Leibarztes" entschieden Partei für eine rationalistische Weltsicht bezieht, läßt er in seinem jetzt wieder publizierten Frühwerk diese Frage unentschieden - was dem Roman bestens bekommt.
Die Hauptfigur, deren Name nur durch wenige Buchstaben von dem des Vorbilds abweicht, kommt als Magnetiseur in die deutsche Kleinstadt Seefond, um dort eine Praxis zu eröffnen. Meisner gibt sich den Anschein wissenschaftlicher Seriosität, bestimmt einen Arzt als Kontrolleur seiner Behandlungen und kann sich bald zahlreicher Erfolge rühmen. Schließlich ertappt der mißtrauisch gewordene Kontrolleur eine Patientin bei einem geradezu grotesken Betrug - sie trage seit über einem Jahr einen verkümmerten Embryo in sich, sagt sie im somnambulen Zustand, den sie mit Meisners Hilfe in Einzelteilen ausscheiden werde, und präpariert ihren Kot dann mit angeblichen Embryoknochen, die tatsächlich von einem Huhn stammen. Zur Rede gestellt, behauptet Meisner, diesen Betrug geduldet zu haben, weil der Glaube an ihn und seine Behandlung die Voraussetzung für die Heilung zahlreicher Patienten sei.
Meisner ist sich jedenfalls seiner Manipulationen sehr bewußt. So erinnert er sich an eine Situation, in der er auf einem Dorf als Regenmacher auftrat: "Ich habe ihnen ein Wunder geschenkt. Ich begann mit einem kleinen Fingerschnipsen. Dann war es, als wäre ein Tuch, ein Stofffetzen vor ihre Gesichter gezogen worden, ein Netz. Sie konnten nicht sehen, wie die Wirklichkeit um sie herum aussah. Sie sahen ihren eigenen Glauben."
In seiner Absicht, die Bewertung von Meisners Aktivitäten bewußt in der Schwebe zu lassen, wählt Enquist einen Kunstgriff, der es ihm erlaubt, jede eigene Festlegung zu vermeiden: Er läßt die Geschehnisse abwechselnd von einem auktorialen Erzähler und aus der Perspektive des zunehmend von Meisner überzeugten Kontrolleurs erzählen, der von der Entdeckung des Betrugs zutiefst erschüttert ist. Diesen Arzt entwirft Enquist als eine Figur, die Meisner gegenüber eine zwiespältige Haltung einnehmen muß: Denn Claus Seligers Heilkunst versagt an der eigenen Tochter, die nach einem traumatischen Erlebnis buchstäblich die Augen vor der Welt verschließt und seitdem blind ist. Meisner gibt ihr die Sehkraft zurück, und selbst im heftigsten Zweifel muß Seliger anerkennen, daß der Magnetiseur dort reüssierte, wo die Methoden des eigenen Berufsstandes nicht ausreichten: "Wir taten, was wir konnten, wir lernen immer mehr hinzu, und wir müssen weitermachen. Aber irgendwo ist eine Leere, ein Bedürfnis, das wir nicht erreichen." Diese Leere füllt Meisner aus, einige Wochen lang, solange Seefonds Bevölkerung ihn läßt.
Und wenn alles nur Betrug, nur Illusion ist, wie kann Meisner dann Seligers Tochter heilen? Und dies so nachhaltig, daß das Mädchen auch über Meisners Sturz hinaus ihr Augenlicht behält? Tatsächlich wird der Magentiseur im gesamten Verlauf des Romans immer wieder nicht nur als Scharlatan, sondern auch als Christusfigur gezeichnet, die sich ihrer Macht über die Menschen bewußt ist. Und in den Augen seines Gefolgsmanns, Schuldners, Kontrolleurs und Denunzianten, in den Augen Seligers also, verkörpert Meisner beide Seiten in verwirrender Symbiose: Der Magnetiseur sei "ein Scharlatan, der ein Wunder vollbringen konnte".
Per Olov Enquist: "Der fünfte Winter des Magnetiseurs". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Hans-Joachim Maass. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2002. 264 S., geb., 21,50.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Embryo hat Hühnerknochen: Per Olov Enquist magnetisiert eine ganze Stadt / Von Tilman Spreckelsen
Ist Friedrich Meisner ein Betrüger? Ein Scharlatan, der den Kranken Heilung verspricht und sich doch nur an ihnen bereichern will? Ein Illusionist, der die Leichtgläubigkeit seiner Umgebung ohne jede Rücksicht für seine Zwecke ausnutzt? Per Olov Enquist hütet sich, ein Urteil über seine Romanfigur zu sprechen. Seine Zurückhaltung geht so weit, daß er die Handlung um Meisner stetig bis zu dem Punkt erzählt, an dem über den Magnetiseur vor Gericht ein Urteil in dieser Frage gesprochen werden soll. Dann bricht er ab - wie die sichtlich ratlosen Richter in wenigen Minuten entscheiden werden, ist völlig offen.
Diese Ambivalenz ist Prinzip, sie zieht sich durch das gesamte Buch und kommt dem Phänomen des Magnetismus damit möglicherweise näher, als es die überlieferten Begeisterungsausbrüche seiner Anhänger oder die grundsätzliche Ablehnung seiner Gegner vermögen. Meisner ist ein Magnetiseur in der Nachfolge Franz Anton Mesmers, des großen Popularisators dieser Lehre. Mesmer verkündete kurz vor der Französischen Revolution die Entdeckung eines "Fluidum", das im Kosmos wie im einzelnen Menschen wirksam sei. Krankheiten seien auf einen gestörten Fluß dieser Substanz zurückzuführen, Heilung müsse vom Kranken selbst kommen. Dabei unterstützt ihn ein Magnetiseur, der ihn in einen künstlichen Schlaf versetzt. In diesem somnambulen Zustand vermag der Kranke selbst das Mittel zu seiner Heilung anzugeben und Fragen zu beantworten, von denen sein Alltagsbewußtsein nichts weiß.
So glauben es jedenfalls Mesmers Anhänger, und die Lehre vom "tierischen Magnetismus", dessen man sich in therapeutischer Absicht bedienen könne, verbreitet sich über Europa und die Neue Welt als vor allem literarisch ungemein folgenreiche und kontrovers dargestellte Innovation. Edgar Allan Poe widmet diesem Thema zwei seiner düstersten Erzählungen, aber mit einem deutlich zustimmenden Tenor, während andere Autoren in ihren Werken Magnetiseure lediglich als Scharlatane zeichnen, die am Ende entlarvt werden. Seit dem mittleren neunzehnten Jahrhundert schien der Fall zumindest literarisch entschieden und der Magnetismus in das Arsenal der okkulten Relikte verbannt. Allerdings wurde auch erkannt, daß sich von Mesmers Ansatz, der auf die Befragung des Unterbewußten setzt, eine verschlungene Linie zu Freud ziehen läßt. Mesmers Lehre steht im Kontext der Aufklärungszeit keineswegs isoliert da, und ihre Entsprechung findet sie in den Forschungen wegweisender Naturwissenschaftler sogar aus dem Umkreis der Encyclopédie.
Enquists im Original 1964 erschienener Roman "Der fünfte Winter des Magnetiseurs", der im Zuge des Erfolgs von "Der Besuch des Leibarztes" jetzt wieder auf deutsch erschienen ist, nimmt diesen Zusammenhang auf und legt ihn seinem Text so deutlich zugrunde, daß das Buch nie in die Nähe eines naiven Historienromans alter Schule gerät. Die Verbindung zum Struensee-Roman ist offensichtlich: Beide Texte spielen kurz vor der Wende zum neunzehnten Jahrhundert, in beiden geht es um Aufklärung und Okkultismus, in beiden sind die Hauptfiguren Ärzte. Aber während Enquist in "Der Besuch des Leibarztes" entschieden Partei für eine rationalistische Weltsicht bezieht, läßt er in seinem jetzt wieder publizierten Frühwerk diese Frage unentschieden - was dem Roman bestens bekommt.
Die Hauptfigur, deren Name nur durch wenige Buchstaben von dem des Vorbilds abweicht, kommt als Magnetiseur in die deutsche Kleinstadt Seefond, um dort eine Praxis zu eröffnen. Meisner gibt sich den Anschein wissenschaftlicher Seriosität, bestimmt einen Arzt als Kontrolleur seiner Behandlungen und kann sich bald zahlreicher Erfolge rühmen. Schließlich ertappt der mißtrauisch gewordene Kontrolleur eine Patientin bei einem geradezu grotesken Betrug - sie trage seit über einem Jahr einen verkümmerten Embryo in sich, sagt sie im somnambulen Zustand, den sie mit Meisners Hilfe in Einzelteilen ausscheiden werde, und präpariert ihren Kot dann mit angeblichen Embryoknochen, die tatsächlich von einem Huhn stammen. Zur Rede gestellt, behauptet Meisner, diesen Betrug geduldet zu haben, weil der Glaube an ihn und seine Behandlung die Voraussetzung für die Heilung zahlreicher Patienten sei.
Meisner ist sich jedenfalls seiner Manipulationen sehr bewußt. So erinnert er sich an eine Situation, in der er auf einem Dorf als Regenmacher auftrat: "Ich habe ihnen ein Wunder geschenkt. Ich begann mit einem kleinen Fingerschnipsen. Dann war es, als wäre ein Tuch, ein Stofffetzen vor ihre Gesichter gezogen worden, ein Netz. Sie konnten nicht sehen, wie die Wirklichkeit um sie herum aussah. Sie sahen ihren eigenen Glauben."
In seiner Absicht, die Bewertung von Meisners Aktivitäten bewußt in der Schwebe zu lassen, wählt Enquist einen Kunstgriff, der es ihm erlaubt, jede eigene Festlegung zu vermeiden: Er läßt die Geschehnisse abwechselnd von einem auktorialen Erzähler und aus der Perspektive des zunehmend von Meisner überzeugten Kontrolleurs erzählen, der von der Entdeckung des Betrugs zutiefst erschüttert ist. Diesen Arzt entwirft Enquist als eine Figur, die Meisner gegenüber eine zwiespältige Haltung einnehmen muß: Denn Claus Seligers Heilkunst versagt an der eigenen Tochter, die nach einem traumatischen Erlebnis buchstäblich die Augen vor der Welt verschließt und seitdem blind ist. Meisner gibt ihr die Sehkraft zurück, und selbst im heftigsten Zweifel muß Seliger anerkennen, daß der Magnetiseur dort reüssierte, wo die Methoden des eigenen Berufsstandes nicht ausreichten: "Wir taten, was wir konnten, wir lernen immer mehr hinzu, und wir müssen weitermachen. Aber irgendwo ist eine Leere, ein Bedürfnis, das wir nicht erreichen." Diese Leere füllt Meisner aus, einige Wochen lang, solange Seefonds Bevölkerung ihn läßt.
Und wenn alles nur Betrug, nur Illusion ist, wie kann Meisner dann Seligers Tochter heilen? Und dies so nachhaltig, daß das Mädchen auch über Meisners Sturz hinaus ihr Augenlicht behält? Tatsächlich wird der Magentiseur im gesamten Verlauf des Romans immer wieder nicht nur als Scharlatan, sondern auch als Christusfigur gezeichnet, die sich ihrer Macht über die Menschen bewußt ist. Und in den Augen seines Gefolgsmanns, Schuldners, Kontrolleurs und Denunzianten, in den Augen Seligers also, verkörpert Meisner beide Seiten in verwirrender Symbiose: Der Magnetiseur sei "ein Scharlatan, der ein Wunder vollbringen konnte".
Per Olov Enquist: "Der fünfte Winter des Magnetiseurs". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Hans-Joachim Maass. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2002. 264 S., geb., 21,50
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main