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Anpassung ist alles, weiß Inge Lohmark. Schließlich unterrichtet die schrullige Lehrerin seit mehr als dreißig Jahren Biologie. Dass ihre Schule in vier Jahren geschlossen werden soll, ist nicht zu ändern - in der schrumpfenden Kreisstadt im vorpommerschen Hinterland fehlt es an Kindern. Lohmarks Mann, der zu DDR-Zeiten Kühe besamt hatte, züchtet nun Strauße, ihre Tochter Claudia ist vor Jahren in die USA gegangen und hat nicht vor, Kinder in die Welt zu setzen. Alle verweigern sich dem Lauf der Natur. Als die Lehrerin beginnt, Gefühle für eine Schülerin zu entwickeln, gerät ihr biologistisches Weltbild ins Wanken.…mehr

Produktbeschreibung
Anpassung ist alles, weiß Inge Lohmark. Schließlich unterrichtet die schrullige Lehrerin seit mehr als dreißig Jahren Biologie. Dass ihre Schule in vier Jahren geschlossen werden soll, ist nicht zu ändern - in der schrumpfenden Kreisstadt im vorpommerschen Hinterland fehlt es an Kindern. Lohmarks Mann, der zu DDR-Zeiten Kühe besamt hatte, züchtet nun Strauße, ihre Tochter Claudia ist vor Jahren in die USA gegangen und hat nicht vor, Kinder in die Welt zu setzen. Alle verweigern sich dem Lauf der Natur. Als die Lehrerin beginnt, Gefühle für eine Schülerin zu entwickeln, gerät ihr biologistisches Weltbild ins Wanken.

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Autorenporträt
Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr Werk, darunter der international erfolgreiche Bestseller Atlas der abgelegenen Inseln sowie der Roman Der Hals der Giraffe, ist in mehr als 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin der Naturkunden und lebt als Gestalterin und freie Schriftstellerin in Berlin.
Rezensionen
»Judith Schalansky hat eine wunderbar-grausame und mindestens ebenso bemitleidenswerte und anrührende Figur geschaffen. Sie hat dafür eine grandiose, eindrückliche Stimme entwickelt, die sarkastisch ist und für den Leser zugleich sehr lustig. ...eine Stimme, die dem Leser noch lange im Ohr bleiben wird.« Ulrich Rüdenauer taz. die tageszeitung 20110919

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2012

Am Anfang war die Qualle

Und am Ende behauptet sich die Kontinuität der Evolution auch in den Sackgassen - wenn man Judith Schalanskys Roman "Der Hals der Giraffe" nur genau genug liest

Wo man Erika sehen will, muss Heideboden sein", lehrt Rudolf Borchardt in "Der leidenschaftliche Gärtner". Inge Lohmark will Erika zuerst gar nicht sehen. Sie hat sie schon in der ersten Stunde des neuen Schuljahrs klassifiziert, nach charakteristischen Merkmalen eingeordnet. Fortgesetzte Beobachtung erübrigt sich. "Ein Blick auf den Sitzplan genügte. Die Benennung war alles."

Der Sitzplan füllt in Judith Schalanskys Roman "Der Hals der Giraffe" eine Doppelseite, verzweigt wie der weiter hinten abgebildete Stammbaum zweier reinerbiger Rinderrassen und so penibel annotiert, als sollte das Blatt nach Schuljahresende der "Sammlung zusammengerollter Schautafeln" eingefügt werden. Erika sitzt auf dem Mittelplatz der zweiten Reihe, im Zentrum der Klasse, dem Tisch der Lehrerin leicht schräg gegenüber. Die Benennung ist bei Erika, anders als bei Laura, Tom und Jennifer, tatsächlich die Angabe der Gattung. "Erika. Das Heidekraut." Beschreibung: "Gepflegte Traurigkeit in geneigter Haltung. Sommersprossen auf milchiger Haut. Abgekaute Fingernägel. Strähniges, braunes Haar. Verrutschtes Auge. Fester, schiefer Blick. Müde und gleichzeitig wach."

Frau Lohmark hält Standards hoch, doch das Kultivierte hält sie für ein Zeichen der Schwäche. In ihrem Unterricht und in ihrer Welt waltet das harte Naturgesetz. Eine Schülerin, die auf Haare und Hände nicht achtet, aber die Traurigkeit pflegt, fällt ihrer Verachtung anheim. Sie gibt ja auch nicht zu erkennen, dass sie der DDR nachtrauert oder zumindest der Züchtung von Wettkämpfern für die Bezirksspartakiade. Die geneigte Haltung ruft bei ihr Abneigung hervor. Es gibt auch fehlgeleitete Anpassung.

Von dem Hohn, den die Pädagogin im permanenten Selbstgespräch sekretiert, bekommt die Klasse nichts mit. Besonders dumme Unterrichtsbeiträge fordern allerdings den Einsatz der Giftspritze. Von Erika sind sie nicht zu erwarten. Aber Tabea, die sich meldet, um die Erbinformation von Bohnen, die auf unterschiedlichen Böden unterschiedlich gut gedeihen, mit dem Horoskop zu vergleichen, bei dem es auch darauf ankomme, was man daraus mache, wird darüber aufgeklärt, dass sie bei fortgesetzter Propagierung des albernen Aberglaubens ihre Zulassung zur Abiturprüfung am Charles-Darwin-Gymnasium gefährde. Eintrag im ungeschriebenen Klassenbuch: "Na klar, Sterntaler. Nicht nur dumm, sondern auch vorlaut. Die kam wirklich vom Mond."

Dabei spekuliert auch Inge Lohmark auf die Möglichkeit, günstige Gelegenheiten zu nutzen, die sich aus der Gliederung des Jahreslaufs nach den Tierkreiszeichen ergeben. "Geburtstag hatte sie im August. In den Ferien. Löwe. Schade eigentlich." Schade, weil die Lehrerin der Löwegeborenen nicht vor der Klasse gratulieren kann. Unverfänglich. Ohne Geheimniskrämerei. Erika ist das Löwenkind.

"Inge Lohmark hatte keinen Liebling, und sie würde nie einen haben." In dieser Gewissheit war sie ins neue Schuljahr hineingegangen, wie jedes Jahr in dreißig Jahren. Sie will sich nicht mit den Schülern gemein machen. "Das Schwärmen war ein unreifer, fehlgeleiteter Gefühlsüberschwang, eine hormonell bedingte Exaltiertheit, die Heranwachsende befiel." Aber nun sitzt sie Mitte November im Schulbus und malt sich einen Hausbesuch bei Erika aus. "Das Kinderzimmer besichtigen. Eine Pinnwand. Buntstifte. Poster. Von der Kaulquappe zum Frosch." Sie ist sonst immer mit dem Auto zur Schule gefahren. Seit den Sommerferien nimmt sie jeden Tag den Bus, zur allgemeinen Verwunderung. Der Direktor fragt sie nach dem Grund und glaubt ihr nicht, als sie "Ökologie" sagt.

An der Bushaltestelle hat alles angefangen. "Etwas abseits stand Erika, den Rucksack zwischen den Füßen, das rechte Bein angewinkelt, eine Schulter höher als die andere, das Gesicht unsymmetrisch wie ein Ulmenblatt." Unversehens sieht Inge Lohmark ihr beim Warten zu, wie sie in jedem Herbst den Kranichen zusieht, die auf ihre Reise in den Süden warten. Jederzeit kann die Vögel der Abflugbefehl erreichen, sie schlafen auf einem Bein, müde und gleichzeitig wach.

An der Wand vor dem Biologieraum hängen Quallenposter, ausgeschnitten aus Ernst Haeckels Monographie von 1879. Judith Schalansky, die ihre eigene preisgekrönte Buchgestalterin ist, hat lebende Kolumnentitel über die Seiten des Romans gesetzt, wie sie im wissenschaftlichen Schrifttum gebräuchlich sind: Links steht die Wiederholung der Kapitelüberschrift, rechts ein Stichwort zum Seiteninhalt. Der typographische Fachausdruck passt perfekt zu einem Buch, das in der positivistischen Tradition Haeckels die Vielfalt des Lebens zelebriert. Inge Lohmark sieht es überall, auch im totesten Winkel der abgestorbenen Landschaft Vorpommerns. Der Kolumnentitel von Seite 35 zitiert Haeckels Buchtitel: "Medusen".

Die Medusa ist Inge Lohmarks ästhetisches Ideal. "Am Anfang war die Qualle. Alles andere kam später. Ihre Vollkommenheit blieb unerreicht, kein Zwei-Seiten-Tier konnte so schön sein. Nichts ging über die Radialsymmetrie." Aber vor die Tentakel des Medusenhaupts schieben sich die braunen Strähnen der ulmenblattgesichtigen Erika. "Das unordentliche Haar. Wirbelhöcker über der hängenden Kapuze." Das Mädchen sieht aus wie ein Zwei-Geschlechter-Tier: "Von der Seite konnte man sie fast für einen Jungen halten." Die Natur des an der Bushaltestelle erwachten Gefühls ist in diesem embryonalen Stadium noch zweideutig. "Sie könnte ihre Tochter sein." Daher später auch die Vorstellung der Lehrerin, beim Besuch in Erikas Haus im Wald werde sie auf ein Froschwerdungsposter stoßen. Der Lieblingswitz ihrer Tochter Claudia, die nach Amerika ausgewandert ist, handelt von einem Frosch im Milchwarengeschäft. Unter Erikas milchiger Haut sind bei näherem Hinsehen die Knochen auszumachen. Auf der Haut bei der Fahrt des Busses durch den Wald ein bewegtes Schattenspiel: "Feine Striemen wechselten sich mit kräuselnden Wolken ab." Die zarte Zeichnung nimmt die sadistische Phantasie vorweg, in die Inge Lohmark sich hineinsteigert, als sie Erika an einem Frühlingstag mit dem Auto mitnimmt. "Sie an einen Baum fesseln. Sie dazu zwingen, genau hinzusehen."

Die Verifikation der Gesetze der Alterung, die Inge Lohmark ihr Leben lang im Unterricht behandelt hat, erlebt sie am eigenen Leib. Ihr kann niemand einreden, dass sie nach der bevorstehenden Pensionierung einen zweiten Frühling erleben wird. Es ist der rührendste Zug dieser einseitigen und daher diskreten Liebesgeschichte, dass es der Lehrerin, die sich im Vergleich mit ihren Schülern für ein höheres Lebewesen hält, im Zustand der Vernarrtheit nicht anders ergeht als jedem schüchternen Knaben. Ob die Angebetete überhaupt etwas von der Aufmerksamkeit bemerkt, die sich auf sie richtet, ist ungewiss. Jedes Element ihres normalen Verhaltens wird aber als Signal gedeutet. "Sie ging ganz langsam am Lehrertisch vorbei. Als ob sie das mit Absicht machte."

Frau Lohmarks letzte Botschaft an die Klasse ist ein Lobgesang auf die Kontinuität der Evolution. Von nichts kommt nichts. "Und alles führt zu etwas. Alles zieht etwas nach sich. Alles ist zu irgendetwas gut." Für die Geschichte von Lehrerin und Schülerin gilt das nicht. Sie entwickelt sich nicht, sie verkümmert. Dabei ist die Geduld des Heidekrauts sprichwörtlich, wie es auch Erikas Nachname sagt: Langmuth. Die Benennung ist alles.

Die von Rezensenten vertretene Ansicht, der Roman sei als Kritik der evolutionären Weltanschauung zu lesen, ist fragwürdig. Wird Inge Lohmarks Lebenswissenschaft durch den Gang der Handlung wirklich falsifiziert? Erikas Haus steht am Ende einer Sackgasse, die Geschichte mit Erika endet in einer Sackgasse, aber die allermeisten Verzweigungen in der Geschichte der Evolution erweisen sich als Sackgassen.

"Ungläubige Blicke" erntet Frau Lohmark, als sie den Schülern vor Augen führt, dass sie in ihrem Leibesinneren Hinweise auf die Stammesgeschichte finden können. "Verkümmerte Organe, nutzlose Merkmale, die wenig Schaden anrichteten und mitgeschleppt wurden, Souvenirs aus der tierischen Vergangenheit." Wie solche Relikte nehmen sich die unscheinbaren Auffälligkeiten von Erikas Körperoberfläche aus, an denen Inge Lohmarks Blick sich festbeißt. "Was für ein merkwürdiges Ohr Erika hatte. Eckige Wölbung. Ausgeprägter Knorpel. Seltsames Gebilde. Weißer Flaum auf den kräftigen Läppchen."

Über den Boden, der sein muss, wo man Erika sehen will, führt Borchardt aus: "Heideerde stammt von Heidekrautflächen und besteht aus dem feinen Abfall und Zerfall der Blüten und des Laubes." Der Wahrheit, meint Inge Lohmark, sei niemand gewachsen: "der Existenz einer einzigen, nachprüfbaren, beweisbaren Wirklichkeit". Die Einheit der Wirklichkeit ist die Wahrheit dieses Romans.

Den Flaum auf den Blättern bestimmter Erika-Arten hielt Darwin übrigens für ein Indiz dafür, dass es sich um fleischfressende Pflanzen handele. Aber diese Hypothese hat sich im Kampf der wissenschaftlichen Meinungen nicht durchgesetzt.

PATRICK BAHNERS

Judith Schalansky: "Der Hals der Giraffe". Roman. Suhrkamp 2011, 224 Seiten, 21,90 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Die Kunsthistorikerin und Kommunikationsdesignerin [Judith Schalansky] hat nicht nur einen traumhaft schönen Text geschrieben, einen Roman, sondern sie hat diesen Roman auch traumhaft schön gestaltet, hat ihn selbst gesetzt und auch das Material, die Schrift und die Farben ausgesucht.«

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.09.2011

Kein Artenschutz für Menschen
Ein „Bildungsroman“ voller Naturgeschichte: Judith Schalanskys „Der Hals der Giraffe“
Ein Tier müsste man sein, „ein wirkliches Tier, ohne ein Bewusstsein, das den Willen hemmt“. Da aber auch Gefühle sich eher störend auswirken, wäre es noch verlockender, als Pflanze zu existieren: Man hätte Blätter, die mit ihrem Chlorophyll Photosynthese betreiben. Die Energieversorgung wäre dauerhaft gesichert. Sorgen gäbe es keine mehr, man müsste nicht einmal mehr einkaufen gehen, sondern nur noch in der Sonne liegen. Den Rest besorgt das Blattgrün.
Solche durchaus reizvollen Gedanken macht sich die Biologielehrerin Inge Lohmark in Judith Schalanskys Roman „Der Hals der Giraffe“. Sie folgt damit Fluchtimpulsen, wie sie wohl jeder Gattung eigen sind. Bis zur Rente hat sie vielleicht noch zehn Jahre, doch ihre Schule in einer vorpommerschen Kleinstadt wird wohl schon früher geschlossen. Es gibt nicht mehr genug Kinder in dieser von Wegzug, Rückbau, Arbeitslosigkeit geprägten Region. Die Vision, dass die Vegetation die Stadträume zurückerobern und am Ende die Natur stärker sein wird als alle menschliche Kultur mit ihren flüchtigen Hervorbringungen, ist hier nicht so leicht von der Hand zu weisen.
Auch Inge Lohmarks Tochter ist in die USA gegangen; ihr Mann, der früher in einer LPG Rinder züchtete, züchtet nun Strauße und hat es damit zu lokaler Berühmtheit gebracht. Ob er die Prinzipien der Natur als Stratege der Zuchtwahl erfüllt, oder aber ad absurdum führt, indem er australische Tiere nach Vorpommern holt, ist ein Unsicherheitsfaktor, der nicht weiter erörtert wird.
Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, kennt diese Gegend und die in der Leere der Perspektivlosigkeit wuchernde Zivilisationsskepsis. Liebevoll versenkt sie sich in ihre Lehrerin und betrachtet die Welt aus deren Augen. Sie schreibt nicht in Ich-Form, aber doch ganz und gar aus deren strenger Perspektive und folgt ihr in drei Kapiteln durch drei über ein Jahr verteilte Tage. So etwas wie Mitgefühl darf es bei ihr nicht geben. Zu den Prinzipien von Inge Lohmark gehört es vielmehr, die Kinder spüren zu lassen, dass sie ihr ausgeliefert sind. Schule hat wie die Natur dem Leistungsprinzip und dem darwinistischen Konkurrenzkampf ums Überleben zu gehorchen. Wer zu dumm ist, soll durchfallen und rausfliegen, das ist doch ehrlicher, als wenn man die Unfähigen mit immer neuen Ausreden und Tröstungen jahrelang durchs Gymnasium schleppt, wo sie nichts zu suchen haben.
Das Schöne, Irritierende an dieser Suada besteht darin, dass vieles davon zwar höchst unkorrekt, aber nicht falsch ist. Wenn in manchen Bundesländern schon die Schreibschrift abgeschafft wird, weil es den Kindern nicht zuzumuten sei, zwei Schriftarten zu erlernen und frühkindliche Traumatisierungen zu befürchten wären, beginnt man, mit einer strengeren Pädagogik zu sympathisieren.
„Der Hals der Giraffe“ lässt sich als subtiler Beitrag zur Bildungsdebatte lesen. Der Untertitel des Buches lautet auch „Bildungsroman“ – ein Begriff, der in mehrfacher Hinsicht eingelöst oder vielmehr aufgelöst wird. Denn Bildung ist etwas, das in der Weltsicht der Inge Lohmark zu den Dingen gehört, die der Natur entgegengesetzt und deshalb fragwürdig sind. Tiere brauchen keine Bildung. Sie tun das Nötige mit instinktiver Sicherheit, ohne zu wissen, warum. Andererseits kommt auch die Lehrerin nicht ganz darum herum, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen. Sie müsste ja ansonsten an der eigenen Abschaffung arbeiten. Daran aber arbeiten schon die vorpommerschen Nachwende-Verhältnisse von allein, und ihre Anschauungen sind ja vielleicht nichts anderes als deren melancholische Konsequenz: Die zur Theorie gewordene Überflüssigkeit der eigenen Existenz, in der die „Klasse“ ihre Funktion als schulische Ordnungsgruppe verliert und nur noch als Rubrik im Artenkatalog überdauert. Jede Form von Bildung, Weiterbildung, Entwicklung ist demnach ein Symptom der Unvollkommenheit. Nur was nicht perfekt ist, muss sich verändern.
So gesehen sind Bakterien, Viren und Einzeller ohne Gehirn und Nervensystem die gelungensten Lebensformen. Komplexe Arten haben nie lange überlebt, lehrt die Naturgeschichte. Aber gerade daraus ergibt sich für Inge Lohmark so etwas wie Hoffnung. Der Gedanke, dass alles vorläufig und unvollkommen ist, auch und vor allem der Mensch, tröstet über die vorpommersche Kleinstadttristesse hinweg. Unklar bleibt nur, ob die Dominanz der biologistischen Weltwahrnehmung sich aus der neuen Erfahrung kapitalistischer Konkurrenz und einem sozialen „Survival of the fittest“ ergibt, oder ob es sich dabei um ein nachwirkendes Resultat der Dominanz des materialistischen Denkens und der Austreibung des Metaphysischen im Sozialismus handelt. Im Lehrerzimmer gibt es Streit um diese Frage – Inge Lohmark gilt auch dort als Auslaufmodell –, doch die Debatte führt zu keinem Ergebnis. Vermutlich stimmt beides. Das macht die Perspektive auf den Menschen als unvollkommenes Tier derzeit so zwingend.
„Bildungsroman“ ist das Buch aber auch im wortwörtlichen Sinn als bebilderter Roman. Schalansky, gelernte Typographin und Buchgestalterin, hat es mit detailgenauen Zeichnungen von Seekuh, Quallen, Flugsaurier, Fischen und Föten angereichert und es wie ein richtiges Biologiebuch angelegt. Das graphische Element spielte auch in ihren vorigen Büchern, besonders in dem schönen, abseitigen „Atlas der abgelegenen Inseln“ eine wichtige Rolle. Die Kapitelüberschriften für die drei geschilderten Tage, „Naturhaushalte“, „Vererbungsvorgänge“ und „Entwicklungslehre“ sind neben den jeweils abgehandelten Themen als Rubriken im Seitenkopf angegeben, sodass dieser Roman lesbar wird, wie von Inge Lohmark am Anfang kommandiert: „Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf!“
Es ist vergnüglich, darin zu lesen, hat aber, wie jedes Lehrbuch, ein Problem: Es wird bald auch ein wenig langweilig. Denn auch wenn es um „Entwicklungslehre“ geht – es entwickelt sich nichts mehr. Wenn man erst einmal begriffen hat, wie Inge Lohmark denkt und wahrnimmt, dann ist der Rest nur noch Durchführung und Variation. Statt Entwicklung ergibt sich Stagnation. Aber vielleicht entspricht das ja der geschilderten Lage, in der Veränderung nur noch als Verschwinden und Abwicklung vorkommt. „Fortschritt“, sagt Inge Lohmark, „war ein Denkfehler.“ Auch darin ist ihr nicht so leicht zu widersprechen.
JÖRG MAGENAU
JUDITH SCHALANSKY: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 222 Seiten, Euro
Die Biologie-Lehrerin lässt die
Kinder spüren, dass sie
ihr ausgeliefert sind
Die Autorin, gelernte Typographin,
hat ihr Buch mit Zeichnungen
von Tieren angereichert
In Judith Schalanskys Roman „Der Hals der Giraffe“ gibt es keinen Fortschritt – aus Giraffenperspektive gibt es ihn aber vielleicht doch. Foto:AFP
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