Ein russisches Dorf um das Jahr 1918. Die Revolution hat bereits stattgefunden, der Bürgerkrieg ist in vollem Gange, aber die Bewohner haben von den historischen Ereignissen noch nichts erfahren. Das untergehende Zarenreich ist groß, die Informationen fließen langsam.
Doch selbst an einem Ort wie diesem steht die Zeit nicht still: Der Dorfälteste Ilja, zum Beispiel, trifft seine Wettervorhersagen neuerdings mit Hilfe eines gläsernen Röhrchens, das er hütet wie seinen Augapfel. Der alte Pjotr dagegen belauscht lieber den nahegelegenen Fluss und dessen Geister. Aber noch scheinen die Fronten beweglich.
Nun ist ausgerechnet Iljas Frau, Inna Nikolajewna, so abergläubisch wie Pjotr. Als ihr ein Messer herunterfällt, taucht ein Fremder im Dorf auf. Der viel zu junge Mann trägt keine Stiefel, aber eine fadenscheinige Offiziersuniform, und wenn er muss, erzählt er jedem eine andere Geschichte. Man beäugt ihn, bedrängt ihn, bald nicht mehr nur mit Fragen - und doch kommt nicht einmal die junge Annuschka dahinter, weshalb er ins Dorf gekommen ist. Und vor allem: warum er bleibt ...
Ob sie vom Wetter erzählt, von der Weisheit der Menschen oder der der Fische - Yulia Marfutova macht Stimmen hörbar, die man so bald nicht wieder vergisst. In «Der Himmel vor hundert Jahren» treffen sich Ideen und Ideologen, Dorf und Welt, Gestern und Heute, Humor und Verstand. Eine zeitlose Geschichte, ein herausragendes Debüt. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2021Am äußersten Rand der Welt
1918 in ferner Nähe: Yulia Marfutovas Debüt
Wie erzählt man ein Dorf? Eines, das so abgelegen und vergessen ist, dass noch nicht einmal Gerüchte, politische oder sonstige, sich hierher verirren? Die 1988 in Moskau geborene Yulia Marfutova, die in Berlin studiert hat und auch dort lebt, fand für ihr eindrucksvolles Debüt einen ganz eigenen Ton: Er lässt den Alltag geheimnisvoll und Geheimnisse alltäglich erscheinen, fängt die Sprachlosigkeit und Ängste der Dorfbewohner kunstvoll ein und erzählt von der Macht der Ideologie.
Wir befinden uns im Russland des Jahres 1918, die Revolution hat bereits stattgefunden, und der Bürgerkrieg ist in vollem Gange, doch davon weiß man hier nichts. Mit Hilfe eines geheimnisvollen Röhrchens kann Ilja, der Dorfälteste, Regen, Sturm und das Hochwasser des nahen Flusses vorhersagen. Eigentlich sagt er nur "Mhm", doch das in so vielen Abstufungen und Tonlagen, dass jeder zu wissen glaubt, was gemeint ist. Ilja kann nicht lesen, aber er ist ein kluger Mann mit philosophischem Blick auf die Welt und einem phantasievollen Wortschatz für alle nur denkbaren Wetterphänomene. Mit dem Verwalter des Gutsherrn, der regelmäßig die Steuern einzutreiben versucht, verhandelt er so geschickt, dass dieser mit leeren Händen, aber betrunken und höchst zufrieden wieder abzieht. Er nimmt auch den jungen Mann in Offiziersuniform unter seine Fittiche, der mit verstörtem Blick und barfuß im Dorf auftaucht. Seine abergläubische Frau hatte ihn schon erwartet, denn am Vortag war ihr ein Messer heruntergefallen. Oder deutet dies auf noch größeres Unheil hin?
Anna, die Enkelin, freut sich über das neue Gesicht im Dorf. Sie ist "ein überall umherschwirrendes Dorfundwaldwesen", nur auf den Marktplatz geht sie nicht gern, da herrscht das vielstimmige Dorfgerede wie ein unerbittlicher antiker Chor, und sie folgt lieber ihren eigenen Gesetzen. Anna ist das leuchtende Zentrum dieser Geschichte, eine Figur, die sich einprägt: Das wissbegierige Kind beobachtet seine Umgebung genau, achtet auf jedes Geräusch und hat eine verstörend realistische Phantasie. Es führt nicht nur eine Liste der unbegrabenen Toten, die durch den fernen Krieg immer länger wird, sondern versucht sich auch an einer Traum-Inventur der Nachbarn, die sich aus Gehörtem, Gefühltem und Gedachtem genauso speist wie aus der eigenen Sehnsucht und Intuition.
Marfutovas kluges Erzählen schmiegt sich an die Wahrnehmungen der Dorfbewohner und hört auf deren beredtes Schweigen. Die Kunst der Auslassung und Anspielung beherrscht die junge Autorin perfekt, und so entsteht im Kopf des Lesers nicht nur die dichte Atmosphäre eines eigensinnigen Dorfes, sondern auch ein genaues Bild der pointiert gezeichneten Figuren. Ein feiner Humor schwingt in diesen Schilderungen mit, und wenn die Erzählstimme abwechselnd uns Leser und die Figuren anspricht, holt sie diese ganz nah heran, um nicht nur in deren Augen, sondern auch in deren Seele zu blicken. Ganz behutsam und tastend tut sie dies, um die Balance zwischen den scheinbar offen daliegenden Fakten und dem darunter Versteckten, dem Geahnten und Ausgedachten, nicht zu zerstören. Nur auf diese Weise, denkt Anna einmal, lässt sich gut sinnieren und ausmalen, nur so lässt sich eine luftige Leichtigkeit erhalten - das kann als Credo des Romans gelten.
Ohne jede Verklärung ist das Leben im Dorf geschildert, aber mit einer raffinierten Zoomtechnik, die Nahes und Fernes, Vergangenes und Gegenwärtiges bruchlos miteinander verschmelzen lässt. So wirkt der Einbruch einer neuen Realität gegen Ende des Romans bedrohlich und irreal zugleich: Ein neuer Krieg wird geführt, es geht um Ideen, erfahren die Dorfbewohner, und dass sie die alten Ikonen entfernen müssen. Man ist es hier gewohnt, stoisch und innerlich störrisch auf derlei Anordnungen zu reagieren, und so fragt man sich auf dem Markt: "Gibt es bald Ikonen, auf denen Ideen abgebildet sein werden? Mit golden strahlenden Heiligenscheinen?" Die Stärke der Menschen ist ihre durch Jahrhunderte, durch Elend und Leibeigenschaft geübte Lakonie und ihre Skepsis gegenüber allen "Geistern" - seien es die des Flusses oder die in den Köpfen. Sie lassen sich nur mit Geschichten bannen, deshalb ist das Erzählen hier lebenswichtig. Damit, und das führt dieser Roman grandios vor, kann man sich das Dorf, die Landschaft, das Leben mit seinen Zumutungen zwar nicht vom Leib, aber doch "auf lebbarem Abstand" halten.
NICOLE HENNEBERG
Yulia Marfutova: "Der Himmel vor hundert Jahren". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 192 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
1918 in ferner Nähe: Yulia Marfutovas Debüt
Wie erzählt man ein Dorf? Eines, das so abgelegen und vergessen ist, dass noch nicht einmal Gerüchte, politische oder sonstige, sich hierher verirren? Die 1988 in Moskau geborene Yulia Marfutova, die in Berlin studiert hat und auch dort lebt, fand für ihr eindrucksvolles Debüt einen ganz eigenen Ton: Er lässt den Alltag geheimnisvoll und Geheimnisse alltäglich erscheinen, fängt die Sprachlosigkeit und Ängste der Dorfbewohner kunstvoll ein und erzählt von der Macht der Ideologie.
Wir befinden uns im Russland des Jahres 1918, die Revolution hat bereits stattgefunden, und der Bürgerkrieg ist in vollem Gange, doch davon weiß man hier nichts. Mit Hilfe eines geheimnisvollen Röhrchens kann Ilja, der Dorfälteste, Regen, Sturm und das Hochwasser des nahen Flusses vorhersagen. Eigentlich sagt er nur "Mhm", doch das in so vielen Abstufungen und Tonlagen, dass jeder zu wissen glaubt, was gemeint ist. Ilja kann nicht lesen, aber er ist ein kluger Mann mit philosophischem Blick auf die Welt und einem phantasievollen Wortschatz für alle nur denkbaren Wetterphänomene. Mit dem Verwalter des Gutsherrn, der regelmäßig die Steuern einzutreiben versucht, verhandelt er so geschickt, dass dieser mit leeren Händen, aber betrunken und höchst zufrieden wieder abzieht. Er nimmt auch den jungen Mann in Offiziersuniform unter seine Fittiche, der mit verstörtem Blick und barfuß im Dorf auftaucht. Seine abergläubische Frau hatte ihn schon erwartet, denn am Vortag war ihr ein Messer heruntergefallen. Oder deutet dies auf noch größeres Unheil hin?
Anna, die Enkelin, freut sich über das neue Gesicht im Dorf. Sie ist "ein überall umherschwirrendes Dorfundwaldwesen", nur auf den Marktplatz geht sie nicht gern, da herrscht das vielstimmige Dorfgerede wie ein unerbittlicher antiker Chor, und sie folgt lieber ihren eigenen Gesetzen. Anna ist das leuchtende Zentrum dieser Geschichte, eine Figur, die sich einprägt: Das wissbegierige Kind beobachtet seine Umgebung genau, achtet auf jedes Geräusch und hat eine verstörend realistische Phantasie. Es führt nicht nur eine Liste der unbegrabenen Toten, die durch den fernen Krieg immer länger wird, sondern versucht sich auch an einer Traum-Inventur der Nachbarn, die sich aus Gehörtem, Gefühltem und Gedachtem genauso speist wie aus der eigenen Sehnsucht und Intuition.
Marfutovas kluges Erzählen schmiegt sich an die Wahrnehmungen der Dorfbewohner und hört auf deren beredtes Schweigen. Die Kunst der Auslassung und Anspielung beherrscht die junge Autorin perfekt, und so entsteht im Kopf des Lesers nicht nur die dichte Atmosphäre eines eigensinnigen Dorfes, sondern auch ein genaues Bild der pointiert gezeichneten Figuren. Ein feiner Humor schwingt in diesen Schilderungen mit, und wenn die Erzählstimme abwechselnd uns Leser und die Figuren anspricht, holt sie diese ganz nah heran, um nicht nur in deren Augen, sondern auch in deren Seele zu blicken. Ganz behutsam und tastend tut sie dies, um die Balance zwischen den scheinbar offen daliegenden Fakten und dem darunter Versteckten, dem Geahnten und Ausgedachten, nicht zu zerstören. Nur auf diese Weise, denkt Anna einmal, lässt sich gut sinnieren und ausmalen, nur so lässt sich eine luftige Leichtigkeit erhalten - das kann als Credo des Romans gelten.
Ohne jede Verklärung ist das Leben im Dorf geschildert, aber mit einer raffinierten Zoomtechnik, die Nahes und Fernes, Vergangenes und Gegenwärtiges bruchlos miteinander verschmelzen lässt. So wirkt der Einbruch einer neuen Realität gegen Ende des Romans bedrohlich und irreal zugleich: Ein neuer Krieg wird geführt, es geht um Ideen, erfahren die Dorfbewohner, und dass sie die alten Ikonen entfernen müssen. Man ist es hier gewohnt, stoisch und innerlich störrisch auf derlei Anordnungen zu reagieren, und so fragt man sich auf dem Markt: "Gibt es bald Ikonen, auf denen Ideen abgebildet sein werden? Mit golden strahlenden Heiligenscheinen?" Die Stärke der Menschen ist ihre durch Jahrhunderte, durch Elend und Leibeigenschaft geübte Lakonie und ihre Skepsis gegenüber allen "Geistern" - seien es die des Flusses oder die in den Köpfen. Sie lassen sich nur mit Geschichten bannen, deshalb ist das Erzählen hier lebenswichtig. Damit, und das führt dieser Roman grandios vor, kann man sich das Dorf, die Landschaft, das Leben mit seinen Zumutungen zwar nicht vom Leib, aber doch "auf lebbarem Abstand" halten.
NICOLE HENNEBERG
Yulia Marfutova: "Der Himmel vor hundert Jahren". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 192 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Viktoria Morasch lässt sich gerne von Yulia Marfutova in ein Dorf der russischen Provinz im Jahr 1918 entführen, in dem man wenig politisch ist, bis schließlich die Revolution Einzug hält. Marfutovas Zeichnung des simplen Dorflebens, in dem nichts wirklich benannt werden müsse ("Markt, Dorf, Fluss, Wald", zählt Morasch auf) und in dem mit der Besorgung einer Geburtsurkunde lieber gleich noch bis zum zweiten Kind gewartet wird, gefällt der Rezensentin größtenteils gut. Insbesondere, wie die Autorin Schweigen und Geschwätzigkeit als die einzig möglichen Sprechverhalten nebeneinander herlaufen lasse, hält sie für sehr gelungen. Nur bei den Figuren, allesamt "kauzig" und mit "harmlosen Macken", wird ihr Marfutovas poetisch-leichte Sprache etwas zu süßlich. Trotzdem eine schöne, "sprudelnde" Lektüre, die außerdem hilft, Russland besser zu verstehen, schließt Morasch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Über die atmosphärischen Verfinsterungen Europas sind viele Romane geschrieben worden, und jetzt gibt es noch einen ganz erstaunlichen ... Selten in der Literatur war der graduelle Übergang von Magie in Moderne so genau messbar und so bildhaft wie hier ... Ein mehr als nur überzeugendes Debüt. Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung 20210510