Er ist Mitte 20, Student, wohnt bescheiden und hat sich sie in den Kopf gesetzt. Sie ist Mitte 50, an einem anderen Punkt und lässt sich fallen in diese Leidenschaft.
Im gewohnten Ernaux-Stil erkundet die Autorin diese Episode ihres Lebens, legt mehr ihre als seine Motive, Reaktionen und Emotionen
frei. Ernaux vermittelt Neugier an dem Altersunterschied, erfreut sich an einer überwundenen Scham.…mehrEr ist Mitte 20, Student, wohnt bescheiden und hat sich sie in den Kopf gesetzt. Sie ist Mitte 50, an einem anderen Punkt und lässt sich fallen in diese Leidenschaft.
Im gewohnten Ernaux-Stil erkundet die Autorin diese Episode ihres Lebens, legt mehr ihre als seine Motive, Reaktionen und Emotionen frei. Ernaux vermittelt Neugier an dem Altersunterschied, erfreut sich an einer überwundenen Scham. Sie zeigt Lust, Konventionen zu brechen, sich immerzu zu entwickeln, diesen Bruch literarisch zu verarbeiten und in ihr Gesamtwerk einzufügen, denn »Der Junge Mann« erzählt auch die Geburt von »Das Ereignis«.
Mit »Der Junge Mann« bricht Ernaux nicht nur mit thematischen Konventionen, sondern auch formal mit einer Konvention, die uns Leser:innen wichtig ist. Ein Roman sollte schon 300 bis 400 Seiten lang sein, weniger als 200 bitte nicht. Hat er aber weniger Seiten, winden wir uns, ihn Roman zu nennen. Und unter 100 Seiten, da hadern wir, so wenig Seiten, was ist das und ja, das ist teuer pro Seite sozusagen. Gerade jetzt, wo die Preise steigen und die Buchpreise zu steigen drohen, wirkt »Der Junge Mann« wie eine Provokation, denn er ist nur 41 Seiten lang, effektiv nur 32, groß geschrieben auch noch.
Natürlich irritierte auch mich die Kürze, in gut einer halben Stunde bin ich durch diese leidenschaftliche und zugleich lakonische Miniatur gestürmt, denn Tempo hat sie auch noch. Doch »Der Junge Mann« lohnt sich sehr, sowie der Inhalt als auch die radikal kurze Form haben meine Erinnerungen wie Haltungen provoziert und in einem neuen Licht gezeigt.
Ernaux erzählt mit »Der junge Mann« eine Geschichte, die mit jedem Wort mehr zu einer anderen würde. Der Nachhall würde sich mindern, ich wäre wahrscheinlich weniger inspiriert, je mehr Ernaux den Text in die Länge gezogen hätte. Vielleicht hinterfrage ich nun den Drang, Kunst an ihrer Seitenzahl messen zu wollen.