Ortuella im Baskenland, am 23. Oktober 1980: Als bei einer Gasexplosion in der Grundschule Marcelino Ugalde mehr als 50 Kinder und Erwachsene sterben, ist unter ihnen auch der sechsjährige Nuco. Der Kleine war der Sonnenschein seiner Eltern Mariaje und José Miguel und hatte vor allem zu seinem
Großvater Nicasio eine ganz besondere Verbindung. Mindestens einmal die Woche findet sich Nicasio auf dem…mehrOrtuella im Baskenland, am 23. Oktober 1980: Als bei einer Gasexplosion in der Grundschule Marcelino Ugalde mehr als 50 Kinder und Erwachsene sterben, ist unter ihnen auch der sechsjährige Nuco. Der Kleine war der Sonnenschein seiner Eltern Mariaje und José Miguel und hatte vor allem zu seinem Großvater Nicasio eine ganz besondere Verbindung. Mindestens einmal die Woche findet sich Nicasio auf dem Friedhof wieder und erzählt ihm von seinem Leben und den Ereignissen in seiner Umgebung. Zuhause richtet er sogar das Kinderzimmer des Jungen originalgetreu nach und wähnt ihn auch auf Spaziergängen an seiner Seite. Mariaje und José Miguel können mit dieser Art der Trauer schwer umgehen, plagen sie zudem doch ihre eigenen Eheprobleme. Über Tod, Trauer und den Umgang damit und über Liebe in der Familie generell schreibt Fernando Aramburu in seinem neuesten Roman "Der Junge", der in der deutschen Übersetzung aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen bei Rowohlt erschienen ist.
Damit knüpft der Autor an sein Großprojekt "Gentes vascas" an, in dem Aramburu in nun fünf unabhängig voneinander lesbaren Romanen die Geschichte des Baskenlandes und seiner Menschen vor allem während der Zeit der ETA erzählt. "Der Junge" basiert dabei auf historischen Begebenheiten, denn das Gasunglück gab es in dieser Form wirklich.
Die Besonderheit daran ist vor allem, dass es Aramburu gelingt, drei völlig verschiedene Textarten in Einklang zu bringen. Die Sicht des allwissenden Erzählers mischt sich mit einem Interview mit der Figur Mariaje und dem wohl größten Coup des Buches: einem erzählenden und reflektierenden Roman, der in zehn Einschüben Hintergrundinformationen liefert und die Leser so mitnimmt, dass man das Gefühl hat, am Entstehungsprozess des Romans teilhaben zu können. Aramburu kokettiert zwar im Vorwort damit, dass man diese Texte auch geflissentlich überblättern kann, was de facto aber hoffentlich niemand macht, da man den Roman so seines Alleinstellungsmerkmals berauben würde.
Rein sprachlich passiert ansonsten in "Der Junge" recht wenig, was per se nicht schlecht sein muss. Aramburu gelingt es, das Unglück sensibel und nahezu ohne Voyeurismus und die Trauer vor allem in Nicasio und Mariaje plastisch darzustellen. Dabei rührt insbesondere der Großvater, über dessen Verbindung zum Nuco Mariaje einmal sagt, sie wisse gar nicht, "wer wen mehr geliebt hat". Ein Satz, der zu Herzen geht, was bei diesem unglaublich tragischen Unglück sonst überraschend selten passiert. Ein weiterer kleinerer Kritikpunkt ist, dass die Eheprobleme zwischen José Miguel und Mariaje auf den gerade einmal 250 Seiten erstaunlich viel Raum einnehmen. Mit zunehmender Dauer verschiebt sich der Fokus des Romans auf die trauernde Mutter, wodurch einige Leserinnen zwischenzeitlich das Interesse ein wenig verlieren könnten. Erst im klugen und beeindruckenden Finale findet Fernando Aramburu zur Stärke des Beginns zurück, lässt Mariaje endlich eine veritable Entwicklung durchlaufen und diese in einem äußerst emotionalen Gespräch mit ihrem toten Sohn münden.
Bei der Stärke der Geschichte ist es kaum verwunderlich, dass sich Netflix längst die Filmrechte an "El Niño" gesichert hat. Aramburu selbst fühle sich dadurch in seiner Gewissheit bestärkt, "dass diese Kinder, die 1980 bei dieser Tragödie starben, es wert sind, einen angemessenen Platz in unserer Erinnerung zu haben", wie Quotenmeter ihn zitiert. Und man nimmt ihm diesen Standpunkt natürlich ab. Dennoch ist es schade, dass Netflix sich damit den Wünschen der Menschen von Ortuella widersetzt, die am liebsten ihre Ruhe hätten und für das 45 Jahre zurückliegende Grauen keine neuen schmerzhaften Erinnerungen wecken wollen.
Insgesamt ist "Der Junge" ein größtenteils überzeugender Roman, der vor allem mit seiner außergewöhnlichen erzählerischen Form und der Sensibilität des Autors punktet, bei einer großen Katastrophe sich auf die Einzelschicksale zu konzentrieren und seine Figuren bis zum Ende hin mit großer Empathie zu begleiten.