Nach der Schulzeit in Berlin studiert Gustav Behrendt erst in Freiburg, später in München gerät er in die Kreise der Künstler-Boheme der Jahrhundertwende. Immer scheint Gustav abseits zu stehen, im Zustand des Beobachtens zu verharren: zuerst in den Freundschaften als Junge, dann im Verhältnis zu den Frauen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2019Liebe im Achteck war seine Sache nicht
Langsam unterwegs zum Flaneur: Franz Hessels autobiographischer Roman "Der Kramladen des Glücks"
Als "Flaneur" ist Franz Hessel in die Literaturgeschichte eingegangen. Das Stichwort lieferte Walter Benjamin, mit dem Hessel gemeinsam einige Bände von Prousts "Recherche" übersetzte. Er widmete Hessels Buch "Spazieren in Berlin" 1929 eine lange, enthusiastische Besprechung und philosophierte darin über die "Wiederkehr des Flaneurs".
Mit "hellwachen Sinnen" durchstreift der Flaneur die Metropolen. Die Hauptfigur von Hessels Debütroman "Der Kramladen des Glücks" hat jedoch eher etwas Schlafwandlerisches, und gerade darin besteht der Reiz. Das 1913 erschienene, nun in einer bibliophilen Edition wiederaufgelegte Buch vermittelt das Lebensgefühl einer Welt, die sich ahnungslos, aber mit Anmut am Abgrund bewegt. Es ist ein autobiographisch grundiertes Werk; viele Eindrücke, Erfahrungen, Prägungen der eigenen Kindheit und Jugend vertraut Hessel seiner Hauptfigur Gustav Behrendt an, auch wenn er sich fiktive Freiheiten nimmt. Die Erzählweise unterscheidet sich angenehm vom angestrengten Duktus, in dem Benjamin die Skizzen seiner "Berliner Kindheit um 1900" verfasste, die oft so wirken, als würde die Kindheit durch die Hornbrille betrachtet.
Gustav ist ein ängstlicher, verträumter Junge. Beim Baden im Meer fürchtet er, die Hand des "Doktor Überall" könnte von unten nach ihm greifen - "Doktor Überall" ist seine Bezeichnung für Gott, bevor er den Glauben an ihn verliert. Nach dem frühen Tod der Mutter zieht der Vater mit den Söhnen nach Berlin. Dort genießt Gustav es, mit den proletarischen Jungen aus dem Hinterhaus zu spielen, bis ihm eines Tages ein "böses Wort" nachgerufen wird. Erschrocken fragt er zurück: "Was ist das, ein Jude?" Hämisch kommentieren die Jungen: "Er weiß selber nicht, was er ist." Später, als Student, besucht Gustav einen Zionistenkongress in Basel. Männer mit "Ghettoblick" debattieren dort über Auswanderung und entwickeln kühne Pläne, "die heimatlosen Juden erst einmal in Afrika anzusiedeln, bevor sie nach Zion heim konnten". Hintergrund sind die schweren Pogrome in Russland und der sich in ganz Europa verschärfende Antisemitismus. Die Berichte von "Mord und Schändung" befremden Gustav allerdings nur; sie lassen ihn merkwürdig gleichgültig, anders als der kleine Kramladen in einer verwinkelten Basler Gasse. Im "lieben Allerlei" der Auslagen findet er hier einen Nachgeschmack der Kindheit wieder: Verheißungen, denen die Enttäuschung nicht schon eingeschrieben war.
Der Abschied von der Kindheit hinterlässt Gustav einen Schmerz fürs Leben. Schon der Gymnasiast notiert mit wunderlich altklugem Degout: "Es ist unheimlich, wenn man miteinemal kein Kind mehr ist . . . Heute sah ich ein paar Straßenjungen an einem Rinnstein wirtschaften und einander bespritzen. Mir wurde beinahe schlecht." Auf seinen Gängen durch die Berliner Straßen ist Gustav bereits ein Beobachter aus Passion, aber noch fehlt ihm das einordnende, kategorisierende, ausdeutende Sehen des Flaneurs, die Kennerschaft. Eher ist er ein Poet der Wahrnehmung und Empfindung; die Welt bleibt ihm unbegriffen, rätselhaft, geheimnisvoll.
Er zieht ins leuchtende München zum Studieren, mischt sich unter all die Künstler und Naturprediger in Sandalen, all die Apostel und Propheten eigenmächtiger Erlösungslehren. Mit Charme schildert der Roman das Leben der Boheme. Allerdings ist es gerade das Leichte und Schwebende seiner Existenz, das Gustav auf Dauer beschwerlich wird. Er wusste nicht, "wovon er wieder einmal so todtraurig war", heißt es dann. Einen Selbstmordversuch überlebt er nur knapp. Er leidet an seiner Unzugehörigkeit, auch wenn er sie zelebriert.
Die "Sehnsucht, wirklicher zu werden" zieht ihn zu den Mädchen und Frauen. Er habe "hungrige Augen, die einen immerfort verspeisen", wird ihm von einer gesagt. Aber vom bloßen Schauen wird der Beobachter in diesem Fall nicht satt. Zwar wird viel gefeiert, Kostümfeste, Johannisnächte, Pathetiker-Partys, und es mangelt nicht an Küssen und Schmusereien. Aber das Ganze ist doch zu wenig zielgerichtet, um zu einem "richtigen Verhältnis" mit der erwünschten Wirklichkeitssättigung zu führen. Das geschwisterliche Vertrauen, das Gustav bei den Frauen weckt, gehört nicht zum Profil der erotischen Eroberer.
Seine Liebeleien werden beschrieben in einem mit feiner Ironie versetzten Ton, der an Robert Walser erinnert. Etwa wenn Gustav mit einer gewissen Annie essen geht. Sehr bescheiden bestellt sie nur ein "kurioses Ragout", um ihn nicht finanziell zu belasten; dann bekommt sie es aber nicht herunter: "Gustav sah in die Karte. Saure Nieren, das war allerdings die billigste Speise. Ach Elend! dachte er und bestellte auch ihr einen Rostbraten." Wer diesen walseresken Tonfall mag, für den ist der "Kramladen des Glücks" eine wunderbare Lektüre.
Franz Hessel hatte eine womöglich leicht masochistische Neigung zu schwierigen Dreiecksbeziehungen (Truffauts berühmter Film "Jules und Jim" verarbeitet eine davon). In seiner Schwabinger Zeit lebte er eine Weile zusammen mit der legendären Großbohemienne Franziska zu Reventlow, die eher im Achteck zu lieben pflegte. Im Roman heißt die umschwärmte Gräfin Gerda von Broderson, und mit einem "seltsamen Lächeln" bekennt sie Gustav, dass bei ihr in der Liebe immer auch Mitleid wirksam sei. So wirkt es denn auch nicht gerade verrucht, wenn Gustav in einem Brief an seinen Bruder das Zusammenleben mit der Gräfin schildert: "Sie gab ihrem Töchterchen Brei zu essen. Ich saß daneben, bekam auch Brei."
In der Schwabinger Boheme lebte es sich leicht und sorglos, aber geschrieben wurde eher feierlich. Umso bemerkenswerter ist die Leichtigkeit von Hessels Prosa, ihr Zauber des Beiläufigen, ihre Kunst der gleitenden Übergänge zwischen Erzählung, Tagebuch und Brief. Hier wird taghell geträumt.
WOLFGANG SCHNEIDER
Franz Hessel:
"Der Kramladen des Glücks". Roman.
Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2018.
320 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Langsam unterwegs zum Flaneur: Franz Hessels autobiographischer Roman "Der Kramladen des Glücks"
Als "Flaneur" ist Franz Hessel in die Literaturgeschichte eingegangen. Das Stichwort lieferte Walter Benjamin, mit dem Hessel gemeinsam einige Bände von Prousts "Recherche" übersetzte. Er widmete Hessels Buch "Spazieren in Berlin" 1929 eine lange, enthusiastische Besprechung und philosophierte darin über die "Wiederkehr des Flaneurs".
Mit "hellwachen Sinnen" durchstreift der Flaneur die Metropolen. Die Hauptfigur von Hessels Debütroman "Der Kramladen des Glücks" hat jedoch eher etwas Schlafwandlerisches, und gerade darin besteht der Reiz. Das 1913 erschienene, nun in einer bibliophilen Edition wiederaufgelegte Buch vermittelt das Lebensgefühl einer Welt, die sich ahnungslos, aber mit Anmut am Abgrund bewegt. Es ist ein autobiographisch grundiertes Werk; viele Eindrücke, Erfahrungen, Prägungen der eigenen Kindheit und Jugend vertraut Hessel seiner Hauptfigur Gustav Behrendt an, auch wenn er sich fiktive Freiheiten nimmt. Die Erzählweise unterscheidet sich angenehm vom angestrengten Duktus, in dem Benjamin die Skizzen seiner "Berliner Kindheit um 1900" verfasste, die oft so wirken, als würde die Kindheit durch die Hornbrille betrachtet.
Gustav ist ein ängstlicher, verträumter Junge. Beim Baden im Meer fürchtet er, die Hand des "Doktor Überall" könnte von unten nach ihm greifen - "Doktor Überall" ist seine Bezeichnung für Gott, bevor er den Glauben an ihn verliert. Nach dem frühen Tod der Mutter zieht der Vater mit den Söhnen nach Berlin. Dort genießt Gustav es, mit den proletarischen Jungen aus dem Hinterhaus zu spielen, bis ihm eines Tages ein "böses Wort" nachgerufen wird. Erschrocken fragt er zurück: "Was ist das, ein Jude?" Hämisch kommentieren die Jungen: "Er weiß selber nicht, was er ist." Später, als Student, besucht Gustav einen Zionistenkongress in Basel. Männer mit "Ghettoblick" debattieren dort über Auswanderung und entwickeln kühne Pläne, "die heimatlosen Juden erst einmal in Afrika anzusiedeln, bevor sie nach Zion heim konnten". Hintergrund sind die schweren Pogrome in Russland und der sich in ganz Europa verschärfende Antisemitismus. Die Berichte von "Mord und Schändung" befremden Gustav allerdings nur; sie lassen ihn merkwürdig gleichgültig, anders als der kleine Kramladen in einer verwinkelten Basler Gasse. Im "lieben Allerlei" der Auslagen findet er hier einen Nachgeschmack der Kindheit wieder: Verheißungen, denen die Enttäuschung nicht schon eingeschrieben war.
Der Abschied von der Kindheit hinterlässt Gustav einen Schmerz fürs Leben. Schon der Gymnasiast notiert mit wunderlich altklugem Degout: "Es ist unheimlich, wenn man miteinemal kein Kind mehr ist . . . Heute sah ich ein paar Straßenjungen an einem Rinnstein wirtschaften und einander bespritzen. Mir wurde beinahe schlecht." Auf seinen Gängen durch die Berliner Straßen ist Gustav bereits ein Beobachter aus Passion, aber noch fehlt ihm das einordnende, kategorisierende, ausdeutende Sehen des Flaneurs, die Kennerschaft. Eher ist er ein Poet der Wahrnehmung und Empfindung; die Welt bleibt ihm unbegriffen, rätselhaft, geheimnisvoll.
Er zieht ins leuchtende München zum Studieren, mischt sich unter all die Künstler und Naturprediger in Sandalen, all die Apostel und Propheten eigenmächtiger Erlösungslehren. Mit Charme schildert der Roman das Leben der Boheme. Allerdings ist es gerade das Leichte und Schwebende seiner Existenz, das Gustav auf Dauer beschwerlich wird. Er wusste nicht, "wovon er wieder einmal so todtraurig war", heißt es dann. Einen Selbstmordversuch überlebt er nur knapp. Er leidet an seiner Unzugehörigkeit, auch wenn er sie zelebriert.
Die "Sehnsucht, wirklicher zu werden" zieht ihn zu den Mädchen und Frauen. Er habe "hungrige Augen, die einen immerfort verspeisen", wird ihm von einer gesagt. Aber vom bloßen Schauen wird der Beobachter in diesem Fall nicht satt. Zwar wird viel gefeiert, Kostümfeste, Johannisnächte, Pathetiker-Partys, und es mangelt nicht an Küssen und Schmusereien. Aber das Ganze ist doch zu wenig zielgerichtet, um zu einem "richtigen Verhältnis" mit der erwünschten Wirklichkeitssättigung zu führen. Das geschwisterliche Vertrauen, das Gustav bei den Frauen weckt, gehört nicht zum Profil der erotischen Eroberer.
Seine Liebeleien werden beschrieben in einem mit feiner Ironie versetzten Ton, der an Robert Walser erinnert. Etwa wenn Gustav mit einer gewissen Annie essen geht. Sehr bescheiden bestellt sie nur ein "kurioses Ragout", um ihn nicht finanziell zu belasten; dann bekommt sie es aber nicht herunter: "Gustav sah in die Karte. Saure Nieren, das war allerdings die billigste Speise. Ach Elend! dachte er und bestellte auch ihr einen Rostbraten." Wer diesen walseresken Tonfall mag, für den ist der "Kramladen des Glücks" eine wunderbare Lektüre.
Franz Hessel hatte eine womöglich leicht masochistische Neigung zu schwierigen Dreiecksbeziehungen (Truffauts berühmter Film "Jules und Jim" verarbeitet eine davon). In seiner Schwabinger Zeit lebte er eine Weile zusammen mit der legendären Großbohemienne Franziska zu Reventlow, die eher im Achteck zu lieben pflegte. Im Roman heißt die umschwärmte Gräfin Gerda von Broderson, und mit einem "seltsamen Lächeln" bekennt sie Gustav, dass bei ihr in der Liebe immer auch Mitleid wirksam sei. So wirkt es denn auch nicht gerade verrucht, wenn Gustav in einem Brief an seinen Bruder das Zusammenleben mit der Gräfin schildert: "Sie gab ihrem Töchterchen Brei zu essen. Ich saß daneben, bekam auch Brei."
In der Schwabinger Boheme lebte es sich leicht und sorglos, aber geschrieben wurde eher feierlich. Umso bemerkenswerter ist die Leichtigkeit von Hessels Prosa, ihr Zauber des Beiläufigen, ihre Kunst der gleitenden Übergänge zwischen Erzählung, Tagebuch und Brief. Hier wird taghell geträumt.
WOLFGANG SCHNEIDER
Franz Hessel:
"Der Kramladen des Glücks". Roman.
Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2018.
320 S., geb., 21,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Den träumerischen Helden dieses ersten, im Jahr 1913 erschienenen Romans von Franz Hessel denkt sich Ulrich Rüdenauer als Vorfahr von Hessels späteren Flaneuren und Tagträumern. Das kleine Buch beglückt Rüdenauer durch sein schwebendes Erzählen, durch sein Oszillieren zwischen Melancholie und Unbeschwertheit und seine spielerische Anlage aus knappen Dialogen, Szenen und Sequenzen, die immer mal wieder ins Fantastische hinübergleiten, wie der Rezensent anmerkt. Was noch mal das zwecklose Schauen war, lernt Rüdenauer hier ganz nebenbei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Er schrieb eine ganz eigene zarte, geschmeidige Prosa mit einem unverwechselbaren heiter-melancholischen Timbre.« WDR 3 »Es gibt keinen Zweifel: Wer sich eine Bibliothek mit Weltliteratur in Form von Hörbüchern aufbauen möchte, kommt an dieser Edition nicht vorbei.« WDR 3 »Hier wird fündig, wer an Hörbuchproduktionen Freude hat, die nicht schnell hingeschludert sind, sondern mit einer Regie-Idee zum Text vom und für den Rundfunk produziert sind.« NDR KULTUR »Mehr Zeit hätte man ja immer gern, aber für diese schönen Hörbücher, das Stück nur 10 EUR, besonders.« WAZ »Die Hörbuch-Edition 'Große Werke. Große Stimmen.' umfasst herausragende Lesungen deutschsprachiger Sprecherinnen und Sprecher, die in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern.« SAARLÄNDISCHER RUNDFUNK