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© BÜCHERmagazin, Meike Dannenberg (md)
Es sind die Bösen, die eine gute Geschichte ausmachen: Donato Carrisi schickt einen Sonderermittler in den undurchdringlichen Nebel eines Alpendorfs.
Eitelkeit sei die "dümmste Sünde des Teufels", sagt eine verdächtige Person, und es gehört zum raffinierten Spiel, das Donato Carrisi in seinem Roman in Bewegung setzt, dass man nicht das Geschlecht dieser Person verraten sollte und schon gar nicht ihren Namen, um nicht die Spannung zu verderben. Es lässt sich lediglich sagen, dass sich auch in diesem Satz nicht die ganze Wahrheit des Buches findet.
"Der Nebelmann" hat sich in Italien weit mehr als hunderttausend Mal verkauft und ist in viele Sprachen übersetzt worden. Der Mittvierziger Carrisi hat ihn auch schon selbst verfilmt, als Drehbuchautor und Regisseur, mit Stars wie Jean Reno und Toni Servillo, bekannt aus "La grande bellezza". Wie gut diese Selbstadaption gelungen ist, wird man im nächsten Jahr sehen. "Der Nebelmann" ist nicht Carrisis erstes Buch auf Deutsch, er hat eine Gemeinde von Lesern, die seine verschlungenen Konstruktionen und überraschenden Volten aus Thrillern wie "Der Todesflüsterer" oder "Der Seelensammler" schätzen.
"Der Nebelmann", der im italienischen Originaltitel ein Mädchen, "La ragazza nella nebbia", ist, spielt in einem öden Dorf in den Alpen. Und es gibt, nach den drei Büchern mit der Ermittlerin Mila Vazquez, eine neue Hauptfigur: den vornamenlosen Sonderermittler Vogel, einen Zyniker mit ausgewählter und geschmackvoller Garderobe, einen Profi, der mitunter etwas zu stromlinienförmig gezeichnet ist mit seinem unverhohlenen Interesse an Show und Medienpräsenz. Seine Fälle sucht er sich aus wie ein Schauspieler eine neue Rolle, die ihn möglichst gut zur Geltung kommen lässt, und die öffentliche Inszenierung ist Teil seiner Ermittlungstechnik. Ein "Zusammenspiel von Taktik und Opportunismus" heißt das im Buch.
Die Erzählung bewegt sich in moderaten Sprüngen. Es beginnt "in der Nacht, die alles veränderte" - ein Satz, der wie ein Refrain mehrfach auftaucht -, zweiundsechzig Tage nach dem spurlosen Verschwinden eines sechzehnjährigen Mädchens. Der verwirrte Sonderermittler mit Blutflecken an der Kleidung sitzt da im Zimmer des örtlichen Psychiaters. Aus den langen Rückblenden, die auch in die Zeit vor dem Verschwinden reichen, kehrt die Erzählung immer wieder in dieses Zimmer zurück. Das sieht nur auf den ersten Blick übersichtlicher und weniger vertrackt aus als in den bisherigen Romanen Carrisis. Die Perspektiven wechseln häufiger, weil der Roman sich in verschiedene Figuren hineinversetzt und uns an ihren Gedanken teilhaben lässt. Wir lernen nicht nur Vogels Blick kennen, dessen Reputation bei seinem letzten Fall gelitten hat. Wir schauen kurz dem Vater der verschwundenen Anna Lou über die Schulter, der Staatsanwältin, die Vogel für einen gefährlichen Blender hält, dem Lehrer an der örtlichen Schule, der im Literaturunterricht sagt: "Es sind die Bösen, die eine Geschichte ausmachen." Oder der leicht überbelichteten Sensationsreporterin Stella, der Vogel im Tausch gegen Ruhm und Fernsehpräsenz privilegierte Informationen zukommen lässt.
So leuchtet das Buch in verschiedene Lebenswelten hinein, und jeder Blick erzeugt zugleich neue Verdachtsmomente. Man sieht die soziale Spaltung, die durch den Verkauf von Grundstücken nach Entdeckung des Minerals Fluorit im Dorf entstanden ist, das sektenhafte Verhalten der christlichen Bruderschaft, der auch die Familie der Vermissten angehört. Es entstehen Vermutungen, ein Verdacht wächst, bis er erdrückend zu werden scheint - und dann lässt ein Detail die schönen Hypothesen wieder einstürzen. Vogel weiß, "dass es Geheimnisse gab, die Geheimnisse bleiben mussten", und er ahnt auch, dass die Aufdeckung eines Verbrechens dazu führen kann, dass ein anderes Verbrechen verdeckt wird.
Carrisi ist ein Meister solcher Volten und Twists, und manchmal manövriert er sich bei diesem riskanten Spiel auch derart in die Enge, dass eine schlüssige Lösung immer schwieriger wird. Der Nebel als Leitmotiv ist dafür gut gewählt und nie zu aufdringlich eingesetzt. Wenn es anfangs heißt, er "war so dicht, dass er die gesamte Schöpfung ausgelöscht zu haben schien", ist das ein starkes Bild, weil es die Atmosphäre des Buches in einem Satz kondensiert. Das Schleierhafte, das Undurchsichtige und Ungreifbare bleiben, das meteorologische Phänomen entfaltet seine metaphorische Qualität.
Wenn man genauer hinsieht, wird allerdings auch spürbar, dass Carrisi den Zynismus Vogels und die Sensationsgier der Medien oft ein bisschen zu deutlich akzentuiert. Das ändert nichts daran, dass dieser "Nebelmann" ein smarter und kompakter Thriller ist, in dem der Spannungsbogen nie erschlafft und dessen Schlusspointe einen noch mal überrascht, nachdem so viele Fährten sich als falsch und so viele taktische Winkelzüge sich als zu kompliziert erwiesen haben.
Carrisi agiert da wie ein geübter Pokerspieler, den man irgendwann durchschaut zu haben glaubt, der jedoch bereit ist, scheinbar alles zu verlieren, um dann doch den großen Gewinn zu machen. Er hat am Ende einfach das bessere Blatt.
PETER KÖRTE
Donato Carrisi:
"Der Nebelmann". Thriller.
Aus dem Italienischen von Karin Diemerling.
Atrium Verlag, Zürich 2017. 336 S., geb., 20,- [Euro].
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