Entzauberte Spione Bis heute gilt die für Spionage in der Bundesrepublik zuständige Abteilung der DDR-Staatssicherheit, die HVA, als einer der besten Auslandsgeheimdienste seiner Zeit. Von ehemaligen Mitarbeitern wird dieses Bild sorgfältig gepflegt. Unabhängig überprüfen ließ es sich bislang nicht, da fast alle einschlägigen Unterlagen vernichtet wurden. Doch nun muss die Geschichte des deutsch-deutschen Geheimdienstkrieges neu geschrieben werden. Michael Wala erhielt exklusiven, vollständigen und uneingeschränkten Zugang zum Geheimarchiv der Spionageabwehr des Bundesamts für Verfassungsschutz. Sein Buch legt erstmals offen, mit welchen Methoden der Verfassungsschutz versuchte, DDR-Spione ausfindig zu machen, und welchen Erfolg er dabei hatte. Dabei widerlegt es zahlreiche Mythen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2024Anspruch und Wirklichkeit
Wie gut war der Dienst? Geschichte der Spionageabwehr des Verfassungsschutzes
Das Geständnis kam aus dem Inneren eines Bademantels: Er sei Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit, Bürger der DDR, was zu respektieren sei, wird erinnert. Diese Performance ist branchenunüblich. Für die Spionageabwehr des Verfassungsschutzes jedoch ein glanzvoller Höhepunkt einer nachrichtendienstlichen Arbeit, die unter dem Akronym "Forschung CHRISTINE" firmierte. Denn am 24. April 1974 erfolgte in Bonn der Zugriff durch die Gruppe ST 2 des Bundeskriminalamtes. Die Beamten in Zivil drängten in den Flur, aus dessen erster Tür Sohn Pierre sah, aus der zweiten Tür des elterlichen Schlafzimmers Günter Guillaume, am Ende des Flurs Oma Erna Boom und aus dem Wohnzimmer dann die Gattin Christel, die wie üblich auf einem Klappbett übernachtet hatte. Eigentlich ein gewöhnlicher Tag für Christel, die sich um 7.50 Uhr auf den Weg zur Arbeit machen musste, und für Günter, der noch etwas Zeit hatte, bis er seinen ersten Arbeitstag nach dem Osterurlaub um 10 Uhr mit einer Sitzung der Geschäftsführer der SPD-Landes- und Bezirksverbände beginnen wollte. Stattdessen wurden sie verhaftet. Bis eben noch galt Günter Guillaume bei der Spionageabwehr als CHRISTINE I und seine Frau als CHRISTINE II - und als ein "bedeutender Verdachtsfall", der nun seinen Abschluss fand. Die "Affäre" bzw. der "Fall CHRISTINE", wie er auch genannt wurde, ist ein echter Erfolg in der Geschichte der bundesdeutschen Spionageabwehr; er ist Ergebnis analytischer Arbeit und erheblichen Erfahrungswissens.
Der Staat kleckerte am 24. April 1974 nicht, sondern klotzte: Vier Dutzend Beamte waren im Einsatz. Natürlich war die Spionageabwehr des Verfassungsschutzes auch in dieser Phase eingebunden. Nach einer Viertelstunde wurden Christel und Günter Guillaume sowie Erna Boom von der Polizei abgeführt. Sie verabschiedeten sich vom minderjährigen Sohn. Günter Guillaume, der beim Ministerium für Staatssicherheit als "Hansen" firmierte, nahm ihn wortlos in den Arm; Mutter Christel ("Heinze") gab tröstende Worte ("Pierre, mach dir keine Sorgen"). Sie fuhren zu einem Haus des Bundeskriminalamtes, wo die Vernehmungen begannen. Der Verfassungsschutz hat über 50.000 Blatt in seinem Archiv über den bekanntesten Spionagefall in der bundesdeutschen Geschichte angelegt. Die Unterlagen der Spionageabwehr sind seit zwei Jahren deklassifiziert und werden in einer Dokumentation "Willy Brandt und der Spion, der ihn stürzte" am 2. Mai 2024 auf Arte zu sehen sein. Die Geschichte Guillaumes ist noch lange nicht auserzählt, da die Perspektive der Spionageabwehr bislang kaum wissenschaftlich erschlossen ist.
Mit wissenschaftlichen Methoden will der Historiker Michael Wala nun an die Geschichte herangehen. Er verspricht einleitend: "Es ist endlich möglich, die Geschichte der bundesdeutschen Spionageabwehr auf einer gesicherten Quellengrundlage zu erzählen und damit eine wichtige Dimension deutsch-deutscher Geschichte neu zu beleuchten. Ereignisse und Zusammenhänge können umfassender dargestellt, Gerüchte und bisherige Erzählungen korrigiert werden. Das Ergebnis ist eine Gegengeschichte, die den angeblich 'besten' Geheimdienst" - er meint das Ministerium für Staatssicherheit - "entzaubert." Das wäre am Beispiel Guillaume exemplarisch zu beschreiben. Wala führt in Sachen Guillaume aus: "Der Fall Guillaume ist allgemein bekannt und muss hier nicht im Detail ausgeführt werden." Und dann erzählt Wala auf ein paar Seiten dazu etwas und stützt sich dabei allein auf die Erinnerungen des ehemaligen Verfassungsschutz-Präsidenten Günther Nollau (1978) und einen Zeitschriftenartikel (1974). Kein Hinweis auf das Standardwerk von Eckard Michels zu Guillaume (2013) oder die Erinnerungen des Sohnes Pierre Boom (2004) geschweige denn die Selbstdarstellung Guillaumes selbst (zuletzt 1993) oder den zweiten, Guillaume betreffenden Bericht des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages (1975). Selbst der von der Spionageabwehr zu Guillaume angelegte Aktenvorgang IV A1-103-S-160006 wird von Wala weder beigezogen noch zitiert. Der berühmteste Fall der Spionageabwehr findet bei Wala nun eine Skizze, die in einem drastischen Missverhältnis zu seinem vollmundigen Versprechen steht. Damit ist ein erster, seine gesamte Untersuchung betreffender Befund Walas zu benennen: Eine Kenntnis des Forschungs- und Literaturstandes sowie der Aktenlage in nahezu allen Fragen der deutschen Spionage und Spionageabwehr während des Kalten Krieges ist nicht zu erkennen.
Er beschreibt streckenweise ohne Belege teils detaillierte Sachverhalte. Exemplarisch das: "So zeigt sich beispielsweise, dass es der Spionageabwehr des Verfassungsschutzes gelang, Tausende DDR-Spione zu 'überwerben'. Ein großer Teil der etwa 12.000 Agenten der DDR-Dienste in der Bundesrepublik in der Zeit von 1950 bis 1990 arbeitete demnach als sogenannte Countermen gegen ihre ursprünglichen Auftraggeber, ohne dass diese davon erfuhren." An anderer Stelle heißt es: "'Quellen' und Agenten der DDR-Auslandsspionage wurden zwischen 1950 und 1990 zu Tausenden 'umgedreht' und in Gegenoperationen (GOP) gegen ihre ursprünglichen Auftraggeber eingesetzt." Starke Aussagen - ohne Beleg. Es gibt in keiner Unterlage der Spionageabwehr einen Hinweis auf die Anzahl von etwa 12.000 Agenten der DDR-Dienste in vier Jahrzehnten - und auch nicht, dass ein "großer Teil" davon in Wirklichkeit für den Verfassungsschutz gearbeitet hat. Ein origineller Ansatz, wobei sonderbar ist, dass Wala sich an anderer Stelle selbst widerlegt: In einer Analyse gelangte die Spionageabwehr 1994 zu dem Ergebnis, dass von den zuletzt aktiven 1553 Quellen des Auslandsnachrichtendienstes Hauptverwaltung A des MfS bis April 1993 lediglich 24 Prozent - trotz Überläufer und eigener analytischer Arbeit - überhaupt in Verdacht geraten waren, nachrichtendienstlich aktiv gewesen zu sein. Der "große Teil" an Countermen entpuppt sich dort als zu drei Viertel unbekannte Spione.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat sich sehr entgegenkommend gezeigt, seine nachrichtendienstliche Arbeit wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Unglücklicherweise wurde nicht die Arbeit der DDR-Nachrichtendienste entzaubert, sondern deutlich, dass die Geschichte der bundesdeutschen Spionageabwehr und der Fall Guillaume noch geschrieben werden muss. HELMUT MÜLLER-ENBERGS
Michael Wala: Der Stasi-Mythos. DDR-Auslandsspionage und der Verfassungsschutz.
Ch. Links Verlag, Berlin 2023. 352 S. , 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie gut war der Dienst? Geschichte der Spionageabwehr des Verfassungsschutzes
Das Geständnis kam aus dem Inneren eines Bademantels: Er sei Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit, Bürger der DDR, was zu respektieren sei, wird erinnert. Diese Performance ist branchenunüblich. Für die Spionageabwehr des Verfassungsschutzes jedoch ein glanzvoller Höhepunkt einer nachrichtendienstlichen Arbeit, die unter dem Akronym "Forschung CHRISTINE" firmierte. Denn am 24. April 1974 erfolgte in Bonn der Zugriff durch die Gruppe ST 2 des Bundeskriminalamtes. Die Beamten in Zivil drängten in den Flur, aus dessen erster Tür Sohn Pierre sah, aus der zweiten Tür des elterlichen Schlafzimmers Günter Guillaume, am Ende des Flurs Oma Erna Boom und aus dem Wohnzimmer dann die Gattin Christel, die wie üblich auf einem Klappbett übernachtet hatte. Eigentlich ein gewöhnlicher Tag für Christel, die sich um 7.50 Uhr auf den Weg zur Arbeit machen musste, und für Günter, der noch etwas Zeit hatte, bis er seinen ersten Arbeitstag nach dem Osterurlaub um 10 Uhr mit einer Sitzung der Geschäftsführer der SPD-Landes- und Bezirksverbände beginnen wollte. Stattdessen wurden sie verhaftet. Bis eben noch galt Günter Guillaume bei der Spionageabwehr als CHRISTINE I und seine Frau als CHRISTINE II - und als ein "bedeutender Verdachtsfall", der nun seinen Abschluss fand. Die "Affäre" bzw. der "Fall CHRISTINE", wie er auch genannt wurde, ist ein echter Erfolg in der Geschichte der bundesdeutschen Spionageabwehr; er ist Ergebnis analytischer Arbeit und erheblichen Erfahrungswissens.
Der Staat kleckerte am 24. April 1974 nicht, sondern klotzte: Vier Dutzend Beamte waren im Einsatz. Natürlich war die Spionageabwehr des Verfassungsschutzes auch in dieser Phase eingebunden. Nach einer Viertelstunde wurden Christel und Günter Guillaume sowie Erna Boom von der Polizei abgeführt. Sie verabschiedeten sich vom minderjährigen Sohn. Günter Guillaume, der beim Ministerium für Staatssicherheit als "Hansen" firmierte, nahm ihn wortlos in den Arm; Mutter Christel ("Heinze") gab tröstende Worte ("Pierre, mach dir keine Sorgen"). Sie fuhren zu einem Haus des Bundeskriminalamtes, wo die Vernehmungen begannen. Der Verfassungsschutz hat über 50.000 Blatt in seinem Archiv über den bekanntesten Spionagefall in der bundesdeutschen Geschichte angelegt. Die Unterlagen der Spionageabwehr sind seit zwei Jahren deklassifiziert und werden in einer Dokumentation "Willy Brandt und der Spion, der ihn stürzte" am 2. Mai 2024 auf Arte zu sehen sein. Die Geschichte Guillaumes ist noch lange nicht auserzählt, da die Perspektive der Spionageabwehr bislang kaum wissenschaftlich erschlossen ist.
Mit wissenschaftlichen Methoden will der Historiker Michael Wala nun an die Geschichte herangehen. Er verspricht einleitend: "Es ist endlich möglich, die Geschichte der bundesdeutschen Spionageabwehr auf einer gesicherten Quellengrundlage zu erzählen und damit eine wichtige Dimension deutsch-deutscher Geschichte neu zu beleuchten. Ereignisse und Zusammenhänge können umfassender dargestellt, Gerüchte und bisherige Erzählungen korrigiert werden. Das Ergebnis ist eine Gegengeschichte, die den angeblich 'besten' Geheimdienst" - er meint das Ministerium für Staatssicherheit - "entzaubert." Das wäre am Beispiel Guillaume exemplarisch zu beschreiben. Wala führt in Sachen Guillaume aus: "Der Fall Guillaume ist allgemein bekannt und muss hier nicht im Detail ausgeführt werden." Und dann erzählt Wala auf ein paar Seiten dazu etwas und stützt sich dabei allein auf die Erinnerungen des ehemaligen Verfassungsschutz-Präsidenten Günther Nollau (1978) und einen Zeitschriftenartikel (1974). Kein Hinweis auf das Standardwerk von Eckard Michels zu Guillaume (2013) oder die Erinnerungen des Sohnes Pierre Boom (2004) geschweige denn die Selbstdarstellung Guillaumes selbst (zuletzt 1993) oder den zweiten, Guillaume betreffenden Bericht des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages (1975). Selbst der von der Spionageabwehr zu Guillaume angelegte Aktenvorgang IV A1-103-S-160006 wird von Wala weder beigezogen noch zitiert. Der berühmteste Fall der Spionageabwehr findet bei Wala nun eine Skizze, die in einem drastischen Missverhältnis zu seinem vollmundigen Versprechen steht. Damit ist ein erster, seine gesamte Untersuchung betreffender Befund Walas zu benennen: Eine Kenntnis des Forschungs- und Literaturstandes sowie der Aktenlage in nahezu allen Fragen der deutschen Spionage und Spionageabwehr während des Kalten Krieges ist nicht zu erkennen.
Er beschreibt streckenweise ohne Belege teils detaillierte Sachverhalte. Exemplarisch das: "So zeigt sich beispielsweise, dass es der Spionageabwehr des Verfassungsschutzes gelang, Tausende DDR-Spione zu 'überwerben'. Ein großer Teil der etwa 12.000 Agenten der DDR-Dienste in der Bundesrepublik in der Zeit von 1950 bis 1990 arbeitete demnach als sogenannte Countermen gegen ihre ursprünglichen Auftraggeber, ohne dass diese davon erfuhren." An anderer Stelle heißt es: "'Quellen' und Agenten der DDR-Auslandsspionage wurden zwischen 1950 und 1990 zu Tausenden 'umgedreht' und in Gegenoperationen (GOP) gegen ihre ursprünglichen Auftraggeber eingesetzt." Starke Aussagen - ohne Beleg. Es gibt in keiner Unterlage der Spionageabwehr einen Hinweis auf die Anzahl von etwa 12.000 Agenten der DDR-Dienste in vier Jahrzehnten - und auch nicht, dass ein "großer Teil" davon in Wirklichkeit für den Verfassungsschutz gearbeitet hat. Ein origineller Ansatz, wobei sonderbar ist, dass Wala sich an anderer Stelle selbst widerlegt: In einer Analyse gelangte die Spionageabwehr 1994 zu dem Ergebnis, dass von den zuletzt aktiven 1553 Quellen des Auslandsnachrichtendienstes Hauptverwaltung A des MfS bis April 1993 lediglich 24 Prozent - trotz Überläufer und eigener analytischer Arbeit - überhaupt in Verdacht geraten waren, nachrichtendienstlich aktiv gewesen zu sein. Der "große Teil" an Countermen entpuppt sich dort als zu drei Viertel unbekannte Spione.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat sich sehr entgegenkommend gezeigt, seine nachrichtendienstliche Arbeit wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Unglücklicherweise wurde nicht die Arbeit der DDR-Nachrichtendienste entzaubert, sondern deutlich, dass die Geschichte der bundesdeutschen Spionageabwehr und der Fall Guillaume noch geschrieben werden muss. HELMUT MÜLLER-ENBERGS
Michael Wala: Der Stasi-Mythos. DDR-Auslandsspionage und der Verfassungsschutz.
Ch. Links Verlag, Berlin 2023. 352 S. , 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Seinem Anspruch, den Auslandsgeheimdienst der DDR auf Grundlage umfassender Quellenstudien zu entzaubern, wird Michael Walas Buch in keiner Weise gerecht, urteilt Rezensent Helmut Müller-Enbergs. Der Rezensent legt dies am Beispiel des enttarnten Spions Günter Guillaume dar: Walas äußerst knappe Rekonstruktion des Falles lässt laut Müller-Enberg zahlreiche wichtige Quellen, unter anderem auch Guillaumes eigene Darstellung, außer Acht. An anderer Stelle werden dafür Behauptungen aufgestellt, die Walas These stützen sollen - unter anderem wird behauptet, DDR-Agenten seien zu Tausenden vom Westen abgeworben worden -, für die der Autor jedoch jeden Beleg schuldig bleibt. Am Ende seines veritablen Verrisses stellt Müller-Enberg ernüchtert fest: Auf die Geschichte der BRD-Spionageabwehr müssen wir weiter warten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Klug aufgedeckt.« P.M. History 20240219