Nachdem Julien Green 1998 gestorben war, fand man in seiner Pariser Wohnung das Manuskript seines letzten Romans: "Der Unbekannte". Der Inhalt: Als Vivien, 20 Jahre, in Paris aus dem Haus stürmt, wird ihm ein teuflischer Pakt vorgeschlagen: Ein etwa doppelt so alter Herr fordert seine Jugend, er will die Welt noch einmal mit den Augen des Jüngeren sehen. Obwohl Vivien entrüstet ablehnt, stürzt er jetzt in einen Strudel, in dem sein Leben wie im Zeitraffer vergeht. Julien Green erzählt auf verblüffend heitere Weise vom Tagtraum eines jungen Mannes und stellt die zentrale Frage: Wer ist der Unbekannte in mir, der Ich sagt? Übersetzung: Elisabeth Edl, Buchvorlage: Julien Green, Der Unbekannte. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Das Buch ist 2011 im Carl Hanser Verlag, München erschienen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2011Dorian Gray hat noch einen Doppelgänger in Paris
Als Julien Green 1998 starb, fand sich im Nachlass ein Roman: "Der Unbekannte", verfasst mit Mitte neunzig und dann verworfen, beendet ein Jahrhundert-OEuvre
In seinem fast hundertjährigen Leben ließen den amerikanisch-französischen Romancier Julien Green drei Themen nie los: sein Glaube, seine Homosexualität und die Zeit. Was ist Jugend? Weshalb zeitigt das Älterwerden nicht Reife, sondern Unwirklichkeit? In Werken, die über fast achtzig Jahre hinweg entstanden, lotete Green das Verschwinden der Lebenswirklichkeit aus. Kein anderer Autor des letzten Jahrhunderts vereint so vielfältige Traum- und Albtraumdarstellungen, Spiegelgeschichten und Doppelgängermotive. Wo Nabokov hintergründiger sein mag und Borges vielleicht bizarrer ist, öffnet sich der Greensche Abgrund umso unerbittlicher mitten im Leben. In die Kluft des Wahns blickt ein Junge mit den Augen eines Greises und umgekehrt. Der Gott des Julien Green wacht auch darüber, dass sich jeder vor die eigenen Abgründe gestellt sieht.
Als Julien Green 1998 in seiner Geburtsstadt Paris starb, fand sich in seinem Nachlass auch ein kurzer Roman. Green schrieb "Der Unbekannte" mit Mitte neunzig, offenbar sogar mehrfach. 1996 schloss er das Buch ab, verwarf es jedoch. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Auffällig, wie einzig die homoerotische Grundierung der spröden, oft hastigen Handlung ein retardierendes, sinnliches Moment verleiht. War Green die Konstruktion zu gewagt? Schimmerte ihm Oscar Wildes "Bildnis des Dorian Gray" zu sehr durch? Elisabeth Edls feinsinnige Übersetzung gibt dem deutschsprachigen Leser Gelegenheit, ein Spätwerk kennenzulernen, das gerade durch seine Unvollkommenheit dazu auffordert, Meisterwerke wie "Adrienne Mesurat" (1927), "Wenn ich du wäre" (1947) oder "Der verruchte Ort" (1977) neu zu entdecken.
Keine achtzig Seiten stark, ist "Der Unbekannte" dennoch ein Roman: Bis an die Schmerzgrenze destilliert, beschreibt er ein Leben und dessen Zeit - zumindest scheinbar. Vivien, zwanzig, Student an der Sorbonne, verschwitzt eines Mittags im siebten Pariser Arrondissement ein Rendezvous. Auf der Straße schlägt ihm ein Mittvierziger, der sich Maxime nennt, einen mephistophelischen Pakt vor: Vivien soll ihn teilhaben lassen an seiner Jugend. Maxime verspricht ihm Reichtum, Reisen, amouröse Abenteuer.
Der junge Mann kann sich der Lockung durch den Unbekannten nicht entziehen. Ohne es zu wollen, stürzt sich Vivien in Affären, wird Banker und ergaunert sich ein Millionenkonto auf den Bahamas. Während Maxime dabei zusieht, wie der narzisstische Doppelgänger im Hedonismus versinkt, gehen die Jahre dahin. Fulminant rafft und verdichtet Green in wenigen Sätzen die Zeit. So stiftet er nicht Realität, sondern zersetzt sie. Wie hingetupft erscheint das virtuelle Dilemma, anhand dessen der Leser miterlebt, wie die Unwirklichkeit um sich greift. Vivien arbeitet für einen Politiker, einen Kinderbuchverlag, eine Galerie, ohne die geringste Befriedigung zu empfinden. Er wähnt sich auf der Flucht, weiß nicht wovor, nur dass sein Leben kaum mehr ist als "Scheitern, Scheitern, Scheitern". Vivien beginnt zu ahnen, dass er den Unbekannten wird beseitigen müssen.
Aus seinem Tagebuch - das geschrieben zu haben er sich nicht erinnern kann - erfährt man, dass der bald Sechsunddreißigjährige tatsächlich einen Mord begeht. Sein Schatten aber setzt ihm weiterhin zu: Maxime lebt oder scheint zu leben, während die nicht zu verprassenden Summen von den Bahamas Vivien Zugang zur gelangweilten New Yorker High Society verschaffen. Es ist seine Geliebte Cynthia, die er kurzerhand im neunten Stock aus dem Fenster stößt, weil sie ihn wie einen Lakaien behandelt. So greift der Roman in einer seiner stärksten Passagen zurück auf den Vatermord Adrienne Mesurats, den Green siebzig Jahre zuvor beschrieb, wenn es in "Der Unbekannte" von Vivien heißt: "Im Finstern sah ich den Körper von einem Stockwerk zum andern stürzen, aber langsam, sodass jedes Fenster, an dem er vorüberflog, einem Lebensabschnitt glich. Es war nicht Cynthias Leben, sondern meines."
Traumhaft und wundersam ist die Wendung, mit der Green aufwartet. Stilistische Tricks braucht es dazu nicht. Vivien taumelt der Erlösung entgegen und findet sie doch nicht, wie man es aus den frühen Romanen kennt, in Umnachtung oder Transzendenz. Ohne Scheu vor heiterer Altersweisheit, wagt Green einen weiteren Rückgriff auf sein Werk, indem er den Titel seines Romans von 1947 zitiert und in einen Ratschlag für den am Boden zerstörten Helden verwandelt: "Wenn ich du wäre, hätte ich Vertrauen in mich."
Walter Benjamin äußerte 1929, für den jungen Julien Green sei die Hoffnung "das Ritardando des Schicksals", das Vertrauen in eine Zukunft also der Musik ähnlich, die das Unabwendbare hinauszögert durch das innere Erleben des Reichtums von Leben und Welt. Green selbst drückt es in seinem letzten Tagebucheintrag vom 1. Juli 1998 so aus: "Was mir über die äußere Welt gesagt wird und was zu mir dringt, scheint mir vollkommen uninteressant. Die Ereignisse sind im Innern."
Mag es im realen Leben auch schwer vorstellbar sein, dass der Schizophrene aus seinen Zwängen erwacht und den Wahn abschüttelt, so verhält es sich für eine Figur Julien Greens ganz anders. Ihr Schöpfer belohnt sie für ihre sisyphosgleiche Beharrlichkeit, indem er sie wie einen antiken Helden aus der Unterwelt zurückführt in ihr Leben, ihre Zeit. Vivien sucht noch immer verzweifelt nach dem Unbekannten, als er in seinem Pariser Arrondissement zu sich kommt. Der Leser teilt seine Verblüffung: Seit jenem verpassten Rendezvous an einem Mittag vor sechzehn Jahren sind gerade zwei Minuten vergangen.
Die Forderung, die Vivien nach seinem Abenteuer mit der haltlos verrinnenden Zeit an sich selbst stellt, lautet schlicht und ergreifend: "Ich will leben!" - aus der Feder eines Sechsundneunzigjährigen ein Ausspruch von majestätischer Nonchalance.
"Der Unbekannte" stellt den Abschluss eines Jahrhundert-OEuvres dar. Kein Meisterwerk oder Meilenstein, ist dieser letzte kleine Roman dennoch viel mehr als ein bloßer Appendix. In seinem einfühlsamen Nachwort greift Wolfgang Matz Camus' letzten Satz aus dem "Mythos von Sisyphos" auf: Die Erinnerung an den alten Julien Green sei die an einen glücklichen Menschen.
MIRKO BONNÉ.
Julien Green: "Der Unbekannte". Roman.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Nachwort von Wolfgang Matz. Hanser Verlag, München 2011. 96 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Julien Green 1998 starb, fand sich im Nachlass ein Roman: "Der Unbekannte", verfasst mit Mitte neunzig und dann verworfen, beendet ein Jahrhundert-OEuvre
In seinem fast hundertjährigen Leben ließen den amerikanisch-französischen Romancier Julien Green drei Themen nie los: sein Glaube, seine Homosexualität und die Zeit. Was ist Jugend? Weshalb zeitigt das Älterwerden nicht Reife, sondern Unwirklichkeit? In Werken, die über fast achtzig Jahre hinweg entstanden, lotete Green das Verschwinden der Lebenswirklichkeit aus. Kein anderer Autor des letzten Jahrhunderts vereint so vielfältige Traum- und Albtraumdarstellungen, Spiegelgeschichten und Doppelgängermotive. Wo Nabokov hintergründiger sein mag und Borges vielleicht bizarrer ist, öffnet sich der Greensche Abgrund umso unerbittlicher mitten im Leben. In die Kluft des Wahns blickt ein Junge mit den Augen eines Greises und umgekehrt. Der Gott des Julien Green wacht auch darüber, dass sich jeder vor die eigenen Abgründe gestellt sieht.
Als Julien Green 1998 in seiner Geburtsstadt Paris starb, fand sich in seinem Nachlass auch ein kurzer Roman. Green schrieb "Der Unbekannte" mit Mitte neunzig, offenbar sogar mehrfach. 1996 schloss er das Buch ab, verwarf es jedoch. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Auffällig, wie einzig die homoerotische Grundierung der spröden, oft hastigen Handlung ein retardierendes, sinnliches Moment verleiht. War Green die Konstruktion zu gewagt? Schimmerte ihm Oscar Wildes "Bildnis des Dorian Gray" zu sehr durch? Elisabeth Edls feinsinnige Übersetzung gibt dem deutschsprachigen Leser Gelegenheit, ein Spätwerk kennenzulernen, das gerade durch seine Unvollkommenheit dazu auffordert, Meisterwerke wie "Adrienne Mesurat" (1927), "Wenn ich du wäre" (1947) oder "Der verruchte Ort" (1977) neu zu entdecken.
Keine achtzig Seiten stark, ist "Der Unbekannte" dennoch ein Roman: Bis an die Schmerzgrenze destilliert, beschreibt er ein Leben und dessen Zeit - zumindest scheinbar. Vivien, zwanzig, Student an der Sorbonne, verschwitzt eines Mittags im siebten Pariser Arrondissement ein Rendezvous. Auf der Straße schlägt ihm ein Mittvierziger, der sich Maxime nennt, einen mephistophelischen Pakt vor: Vivien soll ihn teilhaben lassen an seiner Jugend. Maxime verspricht ihm Reichtum, Reisen, amouröse Abenteuer.
Der junge Mann kann sich der Lockung durch den Unbekannten nicht entziehen. Ohne es zu wollen, stürzt sich Vivien in Affären, wird Banker und ergaunert sich ein Millionenkonto auf den Bahamas. Während Maxime dabei zusieht, wie der narzisstische Doppelgänger im Hedonismus versinkt, gehen die Jahre dahin. Fulminant rafft und verdichtet Green in wenigen Sätzen die Zeit. So stiftet er nicht Realität, sondern zersetzt sie. Wie hingetupft erscheint das virtuelle Dilemma, anhand dessen der Leser miterlebt, wie die Unwirklichkeit um sich greift. Vivien arbeitet für einen Politiker, einen Kinderbuchverlag, eine Galerie, ohne die geringste Befriedigung zu empfinden. Er wähnt sich auf der Flucht, weiß nicht wovor, nur dass sein Leben kaum mehr ist als "Scheitern, Scheitern, Scheitern". Vivien beginnt zu ahnen, dass er den Unbekannten wird beseitigen müssen.
Aus seinem Tagebuch - das geschrieben zu haben er sich nicht erinnern kann - erfährt man, dass der bald Sechsunddreißigjährige tatsächlich einen Mord begeht. Sein Schatten aber setzt ihm weiterhin zu: Maxime lebt oder scheint zu leben, während die nicht zu verprassenden Summen von den Bahamas Vivien Zugang zur gelangweilten New Yorker High Society verschaffen. Es ist seine Geliebte Cynthia, die er kurzerhand im neunten Stock aus dem Fenster stößt, weil sie ihn wie einen Lakaien behandelt. So greift der Roman in einer seiner stärksten Passagen zurück auf den Vatermord Adrienne Mesurats, den Green siebzig Jahre zuvor beschrieb, wenn es in "Der Unbekannte" von Vivien heißt: "Im Finstern sah ich den Körper von einem Stockwerk zum andern stürzen, aber langsam, sodass jedes Fenster, an dem er vorüberflog, einem Lebensabschnitt glich. Es war nicht Cynthias Leben, sondern meines."
Traumhaft und wundersam ist die Wendung, mit der Green aufwartet. Stilistische Tricks braucht es dazu nicht. Vivien taumelt der Erlösung entgegen und findet sie doch nicht, wie man es aus den frühen Romanen kennt, in Umnachtung oder Transzendenz. Ohne Scheu vor heiterer Altersweisheit, wagt Green einen weiteren Rückgriff auf sein Werk, indem er den Titel seines Romans von 1947 zitiert und in einen Ratschlag für den am Boden zerstörten Helden verwandelt: "Wenn ich du wäre, hätte ich Vertrauen in mich."
Walter Benjamin äußerte 1929, für den jungen Julien Green sei die Hoffnung "das Ritardando des Schicksals", das Vertrauen in eine Zukunft also der Musik ähnlich, die das Unabwendbare hinauszögert durch das innere Erleben des Reichtums von Leben und Welt. Green selbst drückt es in seinem letzten Tagebucheintrag vom 1. Juli 1998 so aus: "Was mir über die äußere Welt gesagt wird und was zu mir dringt, scheint mir vollkommen uninteressant. Die Ereignisse sind im Innern."
Mag es im realen Leben auch schwer vorstellbar sein, dass der Schizophrene aus seinen Zwängen erwacht und den Wahn abschüttelt, so verhält es sich für eine Figur Julien Greens ganz anders. Ihr Schöpfer belohnt sie für ihre sisyphosgleiche Beharrlichkeit, indem er sie wie einen antiken Helden aus der Unterwelt zurückführt in ihr Leben, ihre Zeit. Vivien sucht noch immer verzweifelt nach dem Unbekannten, als er in seinem Pariser Arrondissement zu sich kommt. Der Leser teilt seine Verblüffung: Seit jenem verpassten Rendezvous an einem Mittag vor sechzehn Jahren sind gerade zwei Minuten vergangen.
Die Forderung, die Vivien nach seinem Abenteuer mit der haltlos verrinnenden Zeit an sich selbst stellt, lautet schlicht und ergreifend: "Ich will leben!" - aus der Feder eines Sechsundneunzigjährigen ein Ausspruch von majestätischer Nonchalance.
"Der Unbekannte" stellt den Abschluss eines Jahrhundert-OEuvres dar. Kein Meisterwerk oder Meilenstein, ist dieser letzte kleine Roman dennoch viel mehr als ein bloßer Appendix. In seinem einfühlsamen Nachwort greift Wolfgang Matz Camus' letzten Satz aus dem "Mythos von Sisyphos" auf: Die Erinnerung an den alten Julien Green sei die an einen glücklichen Menschen.
MIRKO BONNÉ.
Julien Green: "Der Unbekannte". Roman.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Nachwort von Wolfgang Matz. Hanser Verlag, München 2011. 96 S., geb., 12,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Julien Green hätte dieses Buch bestimmt nicht so veröffentlicht, vermutet Rezensent Joseph Hanimann, der Text ist aus dem Nachlass veröffentlicht und mutet in seinen Augen noch an wie das Entwurfsprotokoll zu einem Roman: Viele Motive, Szenen und Figuren sind nur angedeutet, die Sprache für Greens Verhältnisse auffallend explizit. Hanimann hat das Buch trotzdem mit Gewinn gelesen, die Perspektivenschnitte nehmen hier geradezu "schwindelerregende Dimensionen" an, staunt Hanimann, den die Geschichte um einen Zwanzigjährigen durchaus fasziniert: Ein Fremder bietet Vivien an, ihm seine Jugend abzukaufen und der ihn lehrt, dass man ab zwanzig für sein Gesicht selbst verantwortlich ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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