War es Fernweh, war es Liebesleichtsinn, der die 17-jährige Pauline 1899 aus ihrem fränkischen Dorf ins ferne New York ausbüxen ließ? Was hat damals den welterfahrenen Max dazu getrieben, ihr die enorme Summe von 2000 Goldmark zu geben und sie für gut zwei Jahre ganz allein in so weite Ferne zu schicken? Woher nahm er die Gewissheit, dass Pauline nach ihrer Rückkehr genau die richtige Gefährtin für seine ausgedehnten Reisen sein würde, die beide dann tatsächlich um die halbe Welt unternahmen - durchs Innere Asiens bis zur Halbinsel Kamtschatka? Sechzig Jahre später wird Pauline von der liebesenttäuschten jungen Elsa besucht, die sie in der Nachkriegszeit als Kind "per Brief adoptiert" hat.Gemeinsam durchwandern die beiden Frauen im Gespräch das tiefe Labyrinth von Paulines bis dahin verschollenen Lebensaugenblicken. Sie weben die bunten Fäden einer verloren geglaubten Zeit mit Hilfe von Briefen, Fotos, Notizen und Gedichten zu einem Stoff, dessen Muster erst nach und nach erkennbar wird.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2020Erinnerung geht nie der Reihe nach
Es war einmal in "Neu York": Eine alte Dame erzählt einer jungen Frau von ihrer großen Liebe - der erste Roman von Hanns Zischler
Ein paar Tage im Sommer 1966, im Fränkischen, auf dem Dorf, fern von Vietnam, der Krieg ist nur eine flüchtige Nachricht im Radio. Eine alte Dame und eine junge Frau, Gespräche, die tief in die Vergangenheit führen, in die bewegte, abenteuerliche, farbige Vergangenheit der alten Dame, an die Schwelle zum 20. Jahrhundert. Das ist die Grundsituation in Hanns Zischlers erstem Roman "Der zerrissene Brief". Der Autor gibt sich zu erkennen, er ist Adressat eines undatierten Briefes, den ihm die junge Frau geschrieben hat. "Zweifelst du daran?", fragt Elsa, und sie meint die Geschichte, die die 84-jährige Pauline ihr erzählt hat.
Elsa, die Biologiestudentin, kennt Pauline, seit sie als Kind in den fünfziger Jahren bei ihr die Ferien verbrachte. Sie ist zu der alten Dame, die sie über die Jahre "per Brief adoptiert" hat, gefahren, weil sie mit ihren gerade mal einundzwanzig Jahren ihren ersten großen Liebeskummer hat - und das ist, auf paradoxe Weise, ein Glücksfall, weil es die Erinnerungen der alten Dame an ihre große Liebe beflügelt, an ihren Mann Max, "mein Plusquamperfekt". Und so wie die beiden Liebesgeschichten miteinander lose korrelieren, so verbindet sich für Pauline auch die große, weite Welt ihrer vielen Reisen mit der überschaubaren Provinz, nachdem Max sie "vor fast siebzig Jahren ihre vertraute Welt als eine exotische hatte erleben lassen".
"Der zerrissene Brief" spielt dort, wo Hanns Zischler aufgewachsen ist, in Mittelfranken, in der Umgebung von Treuchtlingen. Und zugleich greift das Buch aus in die von Pauline bereiste Welt, nach Amerika, Russland, Schweden. Literarisch ist der Roman durch die großen Traditionen des 20. Jahrhunderts gegangen. Ein Proust-Motto ist so wenig Zufall wie die Erwähnung von E. M. Forster, Emily Dickinson oder weit unbekannteren Autoren wie Wilhelm Lehmann oder älteren wie Ewald von Kleist. Zischlers Prosa hat etwas sehr Leichtes, so eine Art beiläufige Eleganz. Sie ist nicht altmodisch, sie ist in Wortwahl und Wendungen einfach nur genau, weil sie ja von einer alten Dame erzählt, die 1882 geboren ist.
Es ist auch nicht die erste Prosarbeit des Autors Zischler, den mehr Leser erkennen dürften, wenn sie ihn vor sich sehen, weil man ihn seit mehr als vierzig Jahren hauptsächlich als Schauspieler vor Augen hat, der einem bei Spielberg, Thome, Wenders, im "Polizeiruf" oder in "Babylon Berlin" begegnet ist. Der auch ein schönes Buch über die Hauptstadt, "Berlin ist zu groß für Berlin", geschrieben hat und ein noch schöneres über "Kafka geht ins Kino". Und einen Band, zusammen mit Hanna Zeckau, der "Der Schmetterlingskoffer. Die tropischen Expeditionen von Arnold Schultze" heißt. Schultze taucht auch in dem neuen Roman am Rande auf.
Wer vor sechs Jahren Zischlers längere Erzählung "Das Mädchen mit den Orangenpapieren" gelesen hat, wird seinen Stil wiedererkennen, der auch hier perfekt zu dem Sujet passt. "Der zerrissene Brief" ist ein Buch der Erinnerungen, ein Buch über die verschlungenen Wege, welche die Erinnerung nimmt - was eine Formulierung ist, für die einen Nietzscheaner verspotten dürfen, weil ein Subjekt und ein Tun im Satzbau stecken, die nur Phantome sind. Was beim Erzählen entsteht, ist ein assoziatives Geflecht, wie das Mäandern eines Flusses, der nicht immer wieder für den reibungslosen Schiffsverkehr begradigt wird.
Ein Zeitungsausriss, eine alte Postkarte, eine Widmung in einem Gedichtband, ein Foto, kleine Objekte, banale oder bedeutungsvolle wie eine Maske, das "Deckblatt eines Sonderdrucks über Schwämme", dessen Verfasser Pauline vor vielen Jahren mal gekannt hat - all das setzt etwas in Gang, eine Reise in die Vergangenheit, für die es keine Fahrpläne und Landkarten gibt.
"Pauline, bitte noch einmal der Reihe nach ... - ,Der Reihe nach!' - die Erinnerung geht nie der Reihe nach", sagt Pauline empört zu Elsa. Und wenn sie auch nicht bestimmen kann, woran sie sich erinnert, so will sie doch entscheiden, wann sie innehält oder abbricht: "Du meinst wohl, wenn man ein ,und dann' auswirft wie eine Angel, wird schon irgendwas anbeißen, ja?" Natürlich "beißt" da immer etwas an - es ist nur nicht das, was man erwartet. Hanns Zischler hat für diese Sprunghaftigkeit und Plötzlichkeit, für das Sprudeln und das Versiegen des Erinnerungsstroms, ein subtiles Verfahren gewählt. Er lässt eben nicht einfach die alte Dame der jungen Frau ihre Geschichte erzählen, er macht auch nicht Elsa zur Nacherzählerin. Fast alles entwickelt sich im Gespräch, im Dialog. Pauline "gehört" das Buch, aber eben nicht ihr allein, sie schreibt nicht auf, sie spricht mit einem Gegenüber, und der schwebende Tonfall, die Prägnanz, die Schönheit vieler Sprachbilder entstehen aus diesem dialogischen Grundprinzip. Die auktorialen Passagen sind entsprechend zurückhaltend und deskriptiv; auch dort, wo sie vom Empfinden, von den Gedanken der Figuren erzählen, bleiben sie sparsam und ohne großes Räsonnement.
Auf diese Weise bekommt der Roman seinen unwiderstehlichen Rhythmus, und je besser man Pauline kennenlernt, desto mehr verfestigt sich der Eindruck, er habe etwas zu tun mit dem ganz besonderen Rhythmus ihres Lebens. Es ist die Geschichte einer selbstbewussten Frau, die aus dem 19. Jahrhundert kommt und sich wenig um die üblichen Restriktionen kümmerte, einer Frau, die aus der Provinz in die Welt aufbrach; weil sie einen dreißig Jahre älteren Mann kennenlernte, auf der Kirchweih in Treuchtlingen, als sie siebzehn Jahre alt war, am 9. 9. 1899 - so viel Zufall darf schon mal sein. Die beiden verlieben sich ineinander, in einer Sandbucht, nahe einem Ort namens Graben, schlafen sie das erste Mal miteinander.
In der Erinnerung der alten Pauline wird dieser Abend zur Traumsequenz in einer Endlosschleife: "Manchmal, bis heute, träume ich von diesem Weg und dem Wiegeschritt, es hört nie auf, die Chaussee läuft einfach weiter, und Graben, das Dorf, der kleine Kirchturm und die hohen Bäume an der Böschung des Karlsgrabens rücken näher und näher, und wir kommen nie dort an." Wenn sie nach diesem Abend ins Haus des Onkels kommt, fasst Zischler das in einen Satz, den ein simples Partizip so besonders macht: "Zum ersten Mal kehrte ich fremdelnd nach Hause."
Ein paar Wochen später schon reist Pauline nach New York, das in ihren Briefen immer "Neu York" heißt. Weil Max, der so viel Ältere, es so will, weil sie ihm eine Gefährtin auf seinen Reisen werden soll. Oder, wie es Marie sagt, die einzige Freundin von Pauline: ",Wärst du nicht gegangen, hättet ihr euch verloren.'" Es ist, ja, ein "Erziehungsprogramm"; sie ist, ja, wie sie selbst später sagen wird, "eine ,ausgehaltene' Frau". Aber sie ist eben auch eine Frau, die in das neue Jahrhundert aufbricht, die einen ganz anderen Weg geht, als er für ein siebzehnjähriges Mädchen vom Dorf vorgesehen war; eine Frau, die spürt, was sie Max bedeutet, dass er sie womöglich mehr braucht als sie ihn, dass in beider Altersunterschied auch eine Aussicht auf Freiheit liegt. Max ist der Mann aus wohlhabender Familie, mit seiner "Efeumutter", die die Schwiegertochter verachten und ihr sehr undamenhaft hinterherfluchen wird: "Dein Schoß soll verdorren!" Max ist ein Abenteurer, der die Weiten Russlands durchreist hat, der Masken sammelt, mit Schamanen spricht, er ist ein "opérateur", der mit einem Kinematographen umgehen kann. Ein Mann mit unbändigem "Raumhunger", kein Eroberer, kein Kolonisator, sondern eine Schwellenfigur: neugierig auf das Unbekannte und zugleich skeptisch gegenüber jenem Typus wissenschaftlicher Rationalität, wie sie mit dem 20. Jahrhundert heraufzieht; und reich genug, um so unbürgerlich zu leben.
Pauline arbeitet, um sich auf dieses Leben vorzubereiten, im Botanischen Garten in der Bronx. Sie wird, zurück "als eine andere Frau" in Europa, mit Max reisen, in Schweden leben, seine tiefe Lebensschwermut ertragen, als er nicht mehr an den Amur, nach Innerasien oder nach Kamtschatka fahren kann, weil der Weg mit Gründung der Sowjetunion versperrt ist. Bis zu seinem Tod im Jahr 1938 wird sie bei ihm sein; kinderlos bleiben und unverheiratet, sie wird 1949 zurück nach Deutschland gehen, wieder in das Haus des Onkels einziehen und, bis zu den Tagen im Sommer 1966, umgeben von Briefen, Fotos, Masken, Reisejournalen, nicht von dieser aufregenden Vergangenheit sprechen. "Alles war erfüllt von ihrem gegenwärtigen Erleben, nie war von ihrer Vergangenheit die Rede", hatte Elsa anfangs in ihrem Brief an den Autor geschrieben, in dem sie auch von Paulines Tod berichtete, nur ein paar Monate nach der wilden Reise durch die eigenen Erinnerungen.
Doch sobald im Gespräch mit Elsa etwas ausgelöst wird, wie ein geheimer Mechanismus, kommt dieses Gestern in immer neuen Schüben: "Max tobte stumm durch ihre Gedanken und wühlte ihre Erinnerungen auf." Ein wenig benommen ist Pauline; ungläubig, was ihr noch alles einfällt; sehr entschieden in dem, wovon sie nicht sprechen mag. Immerhin überlässt sie Elsa den Brief, dem der Roman seinen Titel verdankt, damit die ihn selber lesen kann.
Auf diese Weise schließt sich ein Kreis: Die ungläubige Frage des Autors, ob Pauline diese Geschichte wirklich erzählt habe, ist durch den Roman selbst beantwortet. Und wenn der Roman Pauline charakterisiert, beschreibt er, ohne es zu wissen, auch sich selbst: "Sie hatte eine weiche, geradezu beiseitesprechende Art zu reden. Ein diskreter Ton aus einer anderen Zeit."
PETER KÖRTE
Hanns Zischler: "Der zerrissene Brief", Roman, Galiani Berlin, 272 Seiten, 20 Euro (erscheint am kommenden Donnerstag).
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Es war einmal in "Neu York": Eine alte Dame erzählt einer jungen Frau von ihrer großen Liebe - der erste Roman von Hanns Zischler
Ein paar Tage im Sommer 1966, im Fränkischen, auf dem Dorf, fern von Vietnam, der Krieg ist nur eine flüchtige Nachricht im Radio. Eine alte Dame und eine junge Frau, Gespräche, die tief in die Vergangenheit führen, in die bewegte, abenteuerliche, farbige Vergangenheit der alten Dame, an die Schwelle zum 20. Jahrhundert. Das ist die Grundsituation in Hanns Zischlers erstem Roman "Der zerrissene Brief". Der Autor gibt sich zu erkennen, er ist Adressat eines undatierten Briefes, den ihm die junge Frau geschrieben hat. "Zweifelst du daran?", fragt Elsa, und sie meint die Geschichte, die die 84-jährige Pauline ihr erzählt hat.
Elsa, die Biologiestudentin, kennt Pauline, seit sie als Kind in den fünfziger Jahren bei ihr die Ferien verbrachte. Sie ist zu der alten Dame, die sie über die Jahre "per Brief adoptiert" hat, gefahren, weil sie mit ihren gerade mal einundzwanzig Jahren ihren ersten großen Liebeskummer hat - und das ist, auf paradoxe Weise, ein Glücksfall, weil es die Erinnerungen der alten Dame an ihre große Liebe beflügelt, an ihren Mann Max, "mein Plusquamperfekt". Und so wie die beiden Liebesgeschichten miteinander lose korrelieren, so verbindet sich für Pauline auch die große, weite Welt ihrer vielen Reisen mit der überschaubaren Provinz, nachdem Max sie "vor fast siebzig Jahren ihre vertraute Welt als eine exotische hatte erleben lassen".
"Der zerrissene Brief" spielt dort, wo Hanns Zischler aufgewachsen ist, in Mittelfranken, in der Umgebung von Treuchtlingen. Und zugleich greift das Buch aus in die von Pauline bereiste Welt, nach Amerika, Russland, Schweden. Literarisch ist der Roman durch die großen Traditionen des 20. Jahrhunderts gegangen. Ein Proust-Motto ist so wenig Zufall wie die Erwähnung von E. M. Forster, Emily Dickinson oder weit unbekannteren Autoren wie Wilhelm Lehmann oder älteren wie Ewald von Kleist. Zischlers Prosa hat etwas sehr Leichtes, so eine Art beiläufige Eleganz. Sie ist nicht altmodisch, sie ist in Wortwahl und Wendungen einfach nur genau, weil sie ja von einer alten Dame erzählt, die 1882 geboren ist.
Es ist auch nicht die erste Prosarbeit des Autors Zischler, den mehr Leser erkennen dürften, wenn sie ihn vor sich sehen, weil man ihn seit mehr als vierzig Jahren hauptsächlich als Schauspieler vor Augen hat, der einem bei Spielberg, Thome, Wenders, im "Polizeiruf" oder in "Babylon Berlin" begegnet ist. Der auch ein schönes Buch über die Hauptstadt, "Berlin ist zu groß für Berlin", geschrieben hat und ein noch schöneres über "Kafka geht ins Kino". Und einen Band, zusammen mit Hanna Zeckau, der "Der Schmetterlingskoffer. Die tropischen Expeditionen von Arnold Schultze" heißt. Schultze taucht auch in dem neuen Roman am Rande auf.
Wer vor sechs Jahren Zischlers längere Erzählung "Das Mädchen mit den Orangenpapieren" gelesen hat, wird seinen Stil wiedererkennen, der auch hier perfekt zu dem Sujet passt. "Der zerrissene Brief" ist ein Buch der Erinnerungen, ein Buch über die verschlungenen Wege, welche die Erinnerung nimmt - was eine Formulierung ist, für die einen Nietzscheaner verspotten dürfen, weil ein Subjekt und ein Tun im Satzbau stecken, die nur Phantome sind. Was beim Erzählen entsteht, ist ein assoziatives Geflecht, wie das Mäandern eines Flusses, der nicht immer wieder für den reibungslosen Schiffsverkehr begradigt wird.
Ein Zeitungsausriss, eine alte Postkarte, eine Widmung in einem Gedichtband, ein Foto, kleine Objekte, banale oder bedeutungsvolle wie eine Maske, das "Deckblatt eines Sonderdrucks über Schwämme", dessen Verfasser Pauline vor vielen Jahren mal gekannt hat - all das setzt etwas in Gang, eine Reise in die Vergangenheit, für die es keine Fahrpläne und Landkarten gibt.
"Pauline, bitte noch einmal der Reihe nach ... - ,Der Reihe nach!' - die Erinnerung geht nie der Reihe nach", sagt Pauline empört zu Elsa. Und wenn sie auch nicht bestimmen kann, woran sie sich erinnert, so will sie doch entscheiden, wann sie innehält oder abbricht: "Du meinst wohl, wenn man ein ,und dann' auswirft wie eine Angel, wird schon irgendwas anbeißen, ja?" Natürlich "beißt" da immer etwas an - es ist nur nicht das, was man erwartet. Hanns Zischler hat für diese Sprunghaftigkeit und Plötzlichkeit, für das Sprudeln und das Versiegen des Erinnerungsstroms, ein subtiles Verfahren gewählt. Er lässt eben nicht einfach die alte Dame der jungen Frau ihre Geschichte erzählen, er macht auch nicht Elsa zur Nacherzählerin. Fast alles entwickelt sich im Gespräch, im Dialog. Pauline "gehört" das Buch, aber eben nicht ihr allein, sie schreibt nicht auf, sie spricht mit einem Gegenüber, und der schwebende Tonfall, die Prägnanz, die Schönheit vieler Sprachbilder entstehen aus diesem dialogischen Grundprinzip. Die auktorialen Passagen sind entsprechend zurückhaltend und deskriptiv; auch dort, wo sie vom Empfinden, von den Gedanken der Figuren erzählen, bleiben sie sparsam und ohne großes Räsonnement.
Auf diese Weise bekommt der Roman seinen unwiderstehlichen Rhythmus, und je besser man Pauline kennenlernt, desto mehr verfestigt sich der Eindruck, er habe etwas zu tun mit dem ganz besonderen Rhythmus ihres Lebens. Es ist die Geschichte einer selbstbewussten Frau, die aus dem 19. Jahrhundert kommt und sich wenig um die üblichen Restriktionen kümmerte, einer Frau, die aus der Provinz in die Welt aufbrach; weil sie einen dreißig Jahre älteren Mann kennenlernte, auf der Kirchweih in Treuchtlingen, als sie siebzehn Jahre alt war, am 9. 9. 1899 - so viel Zufall darf schon mal sein. Die beiden verlieben sich ineinander, in einer Sandbucht, nahe einem Ort namens Graben, schlafen sie das erste Mal miteinander.
In der Erinnerung der alten Pauline wird dieser Abend zur Traumsequenz in einer Endlosschleife: "Manchmal, bis heute, träume ich von diesem Weg und dem Wiegeschritt, es hört nie auf, die Chaussee läuft einfach weiter, und Graben, das Dorf, der kleine Kirchturm und die hohen Bäume an der Böschung des Karlsgrabens rücken näher und näher, und wir kommen nie dort an." Wenn sie nach diesem Abend ins Haus des Onkels kommt, fasst Zischler das in einen Satz, den ein simples Partizip so besonders macht: "Zum ersten Mal kehrte ich fremdelnd nach Hause."
Ein paar Wochen später schon reist Pauline nach New York, das in ihren Briefen immer "Neu York" heißt. Weil Max, der so viel Ältere, es so will, weil sie ihm eine Gefährtin auf seinen Reisen werden soll. Oder, wie es Marie sagt, die einzige Freundin von Pauline: ",Wärst du nicht gegangen, hättet ihr euch verloren.'" Es ist, ja, ein "Erziehungsprogramm"; sie ist, ja, wie sie selbst später sagen wird, "eine ,ausgehaltene' Frau". Aber sie ist eben auch eine Frau, die in das neue Jahrhundert aufbricht, die einen ganz anderen Weg geht, als er für ein siebzehnjähriges Mädchen vom Dorf vorgesehen war; eine Frau, die spürt, was sie Max bedeutet, dass er sie womöglich mehr braucht als sie ihn, dass in beider Altersunterschied auch eine Aussicht auf Freiheit liegt. Max ist der Mann aus wohlhabender Familie, mit seiner "Efeumutter", die die Schwiegertochter verachten und ihr sehr undamenhaft hinterherfluchen wird: "Dein Schoß soll verdorren!" Max ist ein Abenteurer, der die Weiten Russlands durchreist hat, der Masken sammelt, mit Schamanen spricht, er ist ein "opérateur", der mit einem Kinematographen umgehen kann. Ein Mann mit unbändigem "Raumhunger", kein Eroberer, kein Kolonisator, sondern eine Schwellenfigur: neugierig auf das Unbekannte und zugleich skeptisch gegenüber jenem Typus wissenschaftlicher Rationalität, wie sie mit dem 20. Jahrhundert heraufzieht; und reich genug, um so unbürgerlich zu leben.
Pauline arbeitet, um sich auf dieses Leben vorzubereiten, im Botanischen Garten in der Bronx. Sie wird, zurück "als eine andere Frau" in Europa, mit Max reisen, in Schweden leben, seine tiefe Lebensschwermut ertragen, als er nicht mehr an den Amur, nach Innerasien oder nach Kamtschatka fahren kann, weil der Weg mit Gründung der Sowjetunion versperrt ist. Bis zu seinem Tod im Jahr 1938 wird sie bei ihm sein; kinderlos bleiben und unverheiratet, sie wird 1949 zurück nach Deutschland gehen, wieder in das Haus des Onkels einziehen und, bis zu den Tagen im Sommer 1966, umgeben von Briefen, Fotos, Masken, Reisejournalen, nicht von dieser aufregenden Vergangenheit sprechen. "Alles war erfüllt von ihrem gegenwärtigen Erleben, nie war von ihrer Vergangenheit die Rede", hatte Elsa anfangs in ihrem Brief an den Autor geschrieben, in dem sie auch von Paulines Tod berichtete, nur ein paar Monate nach der wilden Reise durch die eigenen Erinnerungen.
Doch sobald im Gespräch mit Elsa etwas ausgelöst wird, wie ein geheimer Mechanismus, kommt dieses Gestern in immer neuen Schüben: "Max tobte stumm durch ihre Gedanken und wühlte ihre Erinnerungen auf." Ein wenig benommen ist Pauline; ungläubig, was ihr noch alles einfällt; sehr entschieden in dem, wovon sie nicht sprechen mag. Immerhin überlässt sie Elsa den Brief, dem der Roman seinen Titel verdankt, damit die ihn selber lesen kann.
Auf diese Weise schließt sich ein Kreis: Die ungläubige Frage des Autors, ob Pauline diese Geschichte wirklich erzählt habe, ist durch den Roman selbst beantwortet. Und wenn der Roman Pauline charakterisiert, beschreibt er, ohne es zu wissen, auch sich selbst: "Sie hatte eine weiche, geradezu beiseitesprechende Art zu reden. Ein diskreter Ton aus einer anderen Zeit."
PETER KÖRTE
Hanns Zischler: "Der zerrissene Brief", Roman, Galiani Berlin, 272 Seiten, 20 Euro (erscheint am kommenden Donnerstag).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Glück des Lesers ist es, dass das Wissen des Autors in den Roman einfließt, ohne aufdringlich zu sein. So entsteht eine Leichtigkeit des Erzählens und jedes Mosaiksteinchen der Erinnerung ist für sich gesehen zwar ein Fragment, aber immer ein strahlendes Detail, und zusammen genommen entsteht das Bild eines Lebens. Thomas Mahr Lesart 20200706