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Mehr als nur das Buch zum Film: Der Regisseur Sönke Wortmann trägt auch als Tagebuchschreiber Erhellendes zur Fußballkultur bei
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft und ihr Trainerstab haben in den vergangenen Wochen ihren Teil geleistet, um uns das Gefühl des Gelingens auch nach dem Ende der Weltmeisterschaft zu erhalten. Das System Klinsmann, die wirksamste spielerische Reform seit dem "Wunder von Bern", funktioniert im und als Team jedenfalls auch ohne die aktive Beteiligung Klinsmanns weiter.
Daß dieses System überdies das Potential besitzt, über das Sportliche hinaus und zumindest atmosphärisch unsere ganze Gesellschaft ebenso positiv zu verändern wie unsere individuelle Gestimmtheit, haben die vier Turnierwochen des Sommers 2006 zur Genüge bewiesen. Auf dem Platz ist das Rezept dafür gültig geblieben. Ob und wie jenseits davon zu erhalten sei, was da gestiftet wurde - eine unerzwungene, gleichwohl kollektive Identität -, ist offen und unklar. Am besten also ist es, die Erinnerung an den glückhaften Augenblick zu bewahren - und dabei allmählich zu begreifen, was ihn eigentlich ausmachte.
Der Filmregisseur Sönke Wortmann liefert dazu, was nicht wenig ist, einen Teil der Wahrheit. "Deutschland. Ein Sommermärchen": Der Titel seines erfolgreichen Dokumentarfilms über die Nationalmannschaft - mehr als Million Zuschauer haben ihn in den vergangenen zehn Tagen bereits in den Kinos gesehen - ist angesichts dessen, was er zeigen will und kann, zwar entschieden zu großspurig. Aber was er zeigt, die Akteure und die Funktionsweise des Systems Klinsmann, gehört naturgemäß elementar zum Gesamtgeschehen der letzten Monate. Mehr noch: Der Film fügt für uns, das Publikum, nun die Innenwelt dessen hinzu, was wir in der Außenwelt erlebten, wahrnahmen, ja selbst mitgestalteten - ob auf den Tribünen der Stadien, den Fan-Meilen der Städte oder beim Beflaggen noch des kleinsten Dorfes.
Zum Kinostart und selbstredend mit gleichlautend großspurigem Titel erschienen ist auch das, was man gemeinhin das "Buch zum Film" nennt. Sie als pure Zusatzverwertung des mit der Kamera gesammelten Materials abzuwerten würde den tagebuchartigen Notizen indes nicht gerecht. Wenn also der Film Ballack, Schneider, Frings und Co. in den Konditionslaboren des Amerikaners Marc Verstegen zeigt, fügt der Text den Bildern Nützliches über die "Globalisierung der Fitness" hinzu oder schildert anschaulich das "Eiswürfelbad", eine frostige Fron zum höheren Zweck rascher Regeneration. Pure Heiterkeit im Kino erzeugt eine Szene, in der Oliver Kahn beim Strafstoßtraining der Spieler scheinbar sinnlos hinter Lehmanns Tor herumhampelt.
Das Buch erklärt, daß es sich dabei um eine kluge Maßnahme des Mannschaftspsychologen Hans-Dieter Hermann handelte - unter anderem durch diese kleine Irritation simulierte er die Bedingungen, denen sich die Schützen bei den entscheidenden Elfmetern im Viertelfinale gegen Argentinien dann tatsächlich ausgesetzt sahen. Und was dem von Fußballtraditionalisten vor der WM oft bespöttelten Psychologen billig ist, kann für das ganze "Team hinter dem Team" nur recht und richtig sein: Im Buch erhalten die filmisch meist anonym vorüberhuschenden Gesichter und Gestalten ihre Namen wieder, ihre Aufgaben werden geschildert und ihre Fähigkeiten oft sehr zu Recht gerühmt.
Eine Synergie also darf man nennen, was Buch und Film verbindend unterscheidet. Zudem steuern Wortmanns Notizen einen bemerkenswerten Hinweis zur Frage bei, ob das System Klinsmann am Ende nicht doch auch die nachhaltigste gesellschaftliche Reform seit der Wiedervereinigung des Jahres 1990 sein könnte. Die Botschaft von der "Euphorie in Deutschland", lautet der Hinweis, habe man im abgeschiedenen Grunewalder Schloßhotel zwar vernommen, richtig angekommen sei sie "auf dem Planeten Nationalmannschaft" jedoch nie. Erst ganz zum Schluß des Turniers - vor, während und nach dem Stuttgarter Spiel um den dritten Platz -, hätten Spieler und Trainer selbst erlebt und erfahren, daß es sich dabei nicht um eine mediale Inszenierung, sondern um die schiere Wirklichkeit gehandelt habe.
Parallel dazu haben Außenstehende nie wirklich begriffen, wie es Jürgen Klinsmann und sein System schafften, binnen weniger Wochen aus einer durchschnittlichen Truppe eine Mannschaft zu formen, die den Weltklasseteams ebenbürtig war und überdies den schönsten Fußball spielte. Wortmanns Film und Buch machen nun plausibel, wie dies gelingen konnte: durch Motivation und Maloche, durch Kommunikation und Kompetenz, vor allem jedoch durch jenen produktiven "Respekt", den man untereinander pflegte.
"Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" hieß ein frühes, vor fast vierzig Jahren erschienenes Buch von Peter Handke. Durch Wortmanns Vermittlung kennen wir Außenweltler neben unserer eigenen nun auch die Innenwelt derer, die einen wesentlichen Teil zur Wahrheit der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland beigetragen haben: durchaus ein Fortschritt in Sachen kollektiver Identität.
JOCHEN HIEBER
Sönke Wortmann: "Deutschland. Ein Sommermärchen". Ein WM-Tagebuch. Unter Mithilfe von Christoph Biermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 211 S., br., 8,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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