Die 27ste Stadt von Jonathan Franzen in einer ungekürzten Lesung St. Louis, die einst blühende Stadt im Mittelwesten Amerikas, bekommt einen neuen Polizeichef. Es ist S. Jammu, eine Frau aus Indien: zart, jung, sympathisch. Doch kaum hat sie ihr Amt angetreten, greift Gewalt um sich. Eine Bombe explodiert. Auch Martin Probst, Erbauer des städtischen Wahrzeichens "The Arch", und seine Frau Barbara – das Vorzeige-Ehepaar, von vielen um sein Glück beneidet – erleben Gefahr, süße Verlockungen und Angst.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2003Dein Feind, der Polizeichef
Womit Jonathan Franzens Karriere begann: „Die 27ste Stadt”
Jonathan Franzen eilt ein fabelhafter Ruf voraus. Und wo immer er in Deutschland auftritt, scheint er entschlossen, ihn nicht nur zu bestätigen, sondern zu überbieten: Im Gespräch zeigt er sich witzig, ohne eitle Allüren, geduldig mit dem Publikum, das ihm oft ziemlich blöde Fragen stellt, die er intelligent, aber keineswegs hochmütig zu beantworten pflegt. Jetzt ist das dritte Buch auf Deutsch von ihm erschienen, sein erster Roman, den er im Original 1988, mit 29 Jahren, veröffentlicht hat. Nach den sensationellen „Korrekturen” und den nachdenklichen Essays „Anleitung zum Einsamsein” schickt Rowohlt „Die 27ste Stadt” mit einer Startauflage von 70 000 ins Rennen.
Aber der Reihe nach. In St. Louis ist Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, wie in den USA insgesamt vieles im Argen. Damals schienen die asiatischen „Tigerstaaten” vor dem Sprung nach Amerika zu stehen, und dass japanische Firmen es wagten, sich auf dem amerikanischen Markt festzusetzen, wurde von der Nation als Angriff empfunden. Man darf nicht vergessen, Freihandel hat für die USA meist bedeutet, ihren Konzernen den Weg in die Welt frei zu machen und zugleich den amerikanischen Markt frei von ausländischer Konkurrenz zu halten. In St. Louis kamen um 1980 zur nationalen Krise noch spezifische Probleme hinzu. Sie ließen die einst viertgrößte Stadt der USA, die Mitte des 19. Jahrhunderts als Knotenpunkt von Ost und West noch den größten Bahnhof der Welt besaß, von der Einwohnerzahl her auf den 27. Rang der USA absacken. Die Antwort auf den nationalen Niedergang hieß 1981 Ronald Reagan; die Antwort für St. Louis heißt Susan Jammu.
Im Erstling von Franzen sorgt diese attraktive 35jährige dafür, dass nichts bleibt, wie es war, und die Gesellschaft von St. Louis sich so radikal verändert wie die amerikanische durch die Politik Ronald Reagans. Jammu hat eine indische Mutter, besitzt dank ihres Vaters aber auch einen amerikanischen Pass und hat sich für den Posten der Polizeichefin von St. Louis dadurch empfohlen, dass sie in Indien Korruption und Verbrechen auf ungewöhnliche wie erfolgreiche Weise bekämpfte; indem sie nämlich beide gewissermaßen von innen attackierte und die Polizei selbst zum führenden Wirtschaftsunternehmen machte.
Achtung, Verschwörung!
„In den ersten Tagen des Juni gab Polizeichef William O´Connell vom St. Louis Police Department bekannt, dass er in den Ruhestand gehen werde, und ohne die Kandidaten zu berücksichtigen, die von der städtischen Oberschicht, der schwarzen Bürgerschaft, dem Polizeibeamtenverband und dem Gouverneur von Missouri favorisiert wurden, berief die Polizeiverwaltung für die fünfjährige Amtszeit eine Frau, die vorher bei der Polizei von Bombay, Indien, tätig gewesen war.” Dies ist der erste, schön ausschwingende Satz des Romans, der zeigt, dass Franzen schon als vermeintlicher Anfänger wusste, wie man einen Roman beginnt. Wie er ihn fortführt, daran stört weniger, dass er kompositorisch oft ein wenig wackelt, die beiläufig vierzig Figuren nicht mehr ganz zu überblicken sind und die große Verschwörung, um die es geht, ziemlich unübersichtlich gerät. Das ist bei Verschwörungen eben der Fall, sonst wären sie ja keine, und seine besten Passagen hat der Roman gewiss in der Zeichnung der vielen, geduldig entwickelten Nebenfiguren; da gelingen dem Autor kleine Kabinettstückchen, in nichts ist er besser als darin, den bürgerlichen Mittelstand in seiner Krise, die wohlgeordnete Familie im Stadium des Zerfalls zu fassen.
Nein, prekär ist die Konzeption als solche. In ihr erweist sich der präzise Beobachter der amerikanischen Gesellschaft, als der Franzen später berühmt wurde, als erstaunlich unkritischer Ideologe. Die neue Polizeichefin macht sich gleich mit ihren indischen Methoden ans Werk: Die Elite der Gesellschaft wird bespitzelt, vor den Firmen ihrer potentiellen Gegner gehen Autobomben hoch, und um das Kernstück der Gesellschaft, die Familie zu ruinieren, beauftragt Jammu ihren schönen Mann fürs Grobe, Singh, die Frauen und Töchter der Reichen entweder zu ver- oder zu entführen.
Alles geht nach Plan, nur ist nicht klar, was eigentlich der Plan der Zerstörer von St. Louis ist. Einerseits wird die Gruppe um Jammu als marxistische Kaderzelle gezeichnet, andrerseits sind all die indischen Verschwörer von Haus aus märchenhaft reich und wollen offenbar als Großkapitalisten und Immobilienspekulanten in den USA reüssieren.
Listen gegen Lasterlose
Zwei Feinde hat Jammu, die ihr das Handwerk legen könnten. Einer durchschaut sie, der andere ist unkorrumpierbar. Der steinreiche, erzreaktionäre Kommunistenfresser General Norris, ein Mann mit „extremen politischen Ansichten von fast mythischen Dimensionen”, ahnt als einziger, dass die Infiltration von St. Louis bevorsteht. Man muss sich vor Augen halten, was es für den polyperspektivisch erzählten Roman bedeutet, dass der einzige, der die Asiaten durchschaut, exakt dem Profil eines Sicherheitsberaters im Stab Ronald Reagans entspricht. Kein Indiz deutet darauf hin, Franzen habe die Verschwörung ironisch verstanden und die Paranoia des Sicherheitswahns in einem schwarzen Spiegel kenntlich machen wollen.
Der zweite, an dem Jammus Plan zu scheitern droht, ist der Bauunternehmer Martin Probst, der das Wahrzeichen der Stadt, einen gigantischen stählernen Torbogen, erbaut hat. Weil Jammu – aus indisch-kommunistisch-kapitalistisch-terroristischen Gründen, die völlig unerfindlich bleiben – die moralische Zerrüttung der Oberschicht im Sinne hat, ist Probst ihr natürlicher Feind, denn: „Probst hatte keine Schwächen. Er war ehrlich, kompetent, ohne Laster und bis zur Selbstgefälligkeit gelassen.” Dieser Saubermann wird bald fünfzig, hat gleich die erste Frau, mit der er ins Bett ging, geheiratet und seither nie betrogen, ist seinen Angestellten ein wohlwollender Patriarch und hält die Firma gewerkschaftsfrei: Weil er ja ohnehin alles tut, was für seine Untergebenen gut ist.
Diesen Repräsentanten des amerikanischen Traumes muss Jammu, um ihren gehässigen Alptraum zu verwirklichen, destruieren, und es gelingt ihr. Wie Franzen den Zerfall der Familie Probst gestaltet, wie er die Ehe scheitern, die Frau ausbrechen, die Tochter ins Drogenmilieu abgleiten, den getreuen Ehemann ausgerechnet seiner Feindin sexuell hörig werden lässt – das ist großartig. Hier spielt der Autor souverän seine Stärken aus; aber dass er die Zerstörung und Selbstzerstörung des weißen Bürgertums als Verschwörung anlegt, das ist gar nicht großartig, sondern erschreckend billig.
Die ersten deutschen Kritiken der „27sten Stadt” waren sich einig: ein grandioses Debüt mit vielen kleinen Schwächen in der kompositorischen Makrostruktur. Richtig ist das Gegenteil: ein einziges Fiasko mit vielen erzählerischen Stärken im Detail. Dies ist ein Roman, der nicht nur von der Reagan-Ära erzählt, sondern allzu gut zu ihr passt. Er ist offenbar genau das, was das alte Europa mit dem maroden Deutschland inmitten ganz dringend braucht.
KARL-MARKUS GAUSS
JONATHAN FRANZEN: Die 27ste Stadt. Roman. Aus dem Amerikanischen von Heinz Müller. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 670 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Womit Jonathan Franzens Karriere begann: „Die 27ste Stadt”
Jonathan Franzen eilt ein fabelhafter Ruf voraus. Und wo immer er in Deutschland auftritt, scheint er entschlossen, ihn nicht nur zu bestätigen, sondern zu überbieten: Im Gespräch zeigt er sich witzig, ohne eitle Allüren, geduldig mit dem Publikum, das ihm oft ziemlich blöde Fragen stellt, die er intelligent, aber keineswegs hochmütig zu beantworten pflegt. Jetzt ist das dritte Buch auf Deutsch von ihm erschienen, sein erster Roman, den er im Original 1988, mit 29 Jahren, veröffentlicht hat. Nach den sensationellen „Korrekturen” und den nachdenklichen Essays „Anleitung zum Einsamsein” schickt Rowohlt „Die 27ste Stadt” mit einer Startauflage von 70 000 ins Rennen.
Aber der Reihe nach. In St. Louis ist Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, wie in den USA insgesamt vieles im Argen. Damals schienen die asiatischen „Tigerstaaten” vor dem Sprung nach Amerika zu stehen, und dass japanische Firmen es wagten, sich auf dem amerikanischen Markt festzusetzen, wurde von der Nation als Angriff empfunden. Man darf nicht vergessen, Freihandel hat für die USA meist bedeutet, ihren Konzernen den Weg in die Welt frei zu machen und zugleich den amerikanischen Markt frei von ausländischer Konkurrenz zu halten. In St. Louis kamen um 1980 zur nationalen Krise noch spezifische Probleme hinzu. Sie ließen die einst viertgrößte Stadt der USA, die Mitte des 19. Jahrhunderts als Knotenpunkt von Ost und West noch den größten Bahnhof der Welt besaß, von der Einwohnerzahl her auf den 27. Rang der USA absacken. Die Antwort auf den nationalen Niedergang hieß 1981 Ronald Reagan; die Antwort für St. Louis heißt Susan Jammu.
Im Erstling von Franzen sorgt diese attraktive 35jährige dafür, dass nichts bleibt, wie es war, und die Gesellschaft von St. Louis sich so radikal verändert wie die amerikanische durch die Politik Ronald Reagans. Jammu hat eine indische Mutter, besitzt dank ihres Vaters aber auch einen amerikanischen Pass und hat sich für den Posten der Polizeichefin von St. Louis dadurch empfohlen, dass sie in Indien Korruption und Verbrechen auf ungewöhnliche wie erfolgreiche Weise bekämpfte; indem sie nämlich beide gewissermaßen von innen attackierte und die Polizei selbst zum führenden Wirtschaftsunternehmen machte.
Achtung, Verschwörung!
„In den ersten Tagen des Juni gab Polizeichef William O´Connell vom St. Louis Police Department bekannt, dass er in den Ruhestand gehen werde, und ohne die Kandidaten zu berücksichtigen, die von der städtischen Oberschicht, der schwarzen Bürgerschaft, dem Polizeibeamtenverband und dem Gouverneur von Missouri favorisiert wurden, berief die Polizeiverwaltung für die fünfjährige Amtszeit eine Frau, die vorher bei der Polizei von Bombay, Indien, tätig gewesen war.” Dies ist der erste, schön ausschwingende Satz des Romans, der zeigt, dass Franzen schon als vermeintlicher Anfänger wusste, wie man einen Roman beginnt. Wie er ihn fortführt, daran stört weniger, dass er kompositorisch oft ein wenig wackelt, die beiläufig vierzig Figuren nicht mehr ganz zu überblicken sind und die große Verschwörung, um die es geht, ziemlich unübersichtlich gerät. Das ist bei Verschwörungen eben der Fall, sonst wären sie ja keine, und seine besten Passagen hat der Roman gewiss in der Zeichnung der vielen, geduldig entwickelten Nebenfiguren; da gelingen dem Autor kleine Kabinettstückchen, in nichts ist er besser als darin, den bürgerlichen Mittelstand in seiner Krise, die wohlgeordnete Familie im Stadium des Zerfalls zu fassen.
Nein, prekär ist die Konzeption als solche. In ihr erweist sich der präzise Beobachter der amerikanischen Gesellschaft, als der Franzen später berühmt wurde, als erstaunlich unkritischer Ideologe. Die neue Polizeichefin macht sich gleich mit ihren indischen Methoden ans Werk: Die Elite der Gesellschaft wird bespitzelt, vor den Firmen ihrer potentiellen Gegner gehen Autobomben hoch, und um das Kernstück der Gesellschaft, die Familie zu ruinieren, beauftragt Jammu ihren schönen Mann fürs Grobe, Singh, die Frauen und Töchter der Reichen entweder zu ver- oder zu entführen.
Alles geht nach Plan, nur ist nicht klar, was eigentlich der Plan der Zerstörer von St. Louis ist. Einerseits wird die Gruppe um Jammu als marxistische Kaderzelle gezeichnet, andrerseits sind all die indischen Verschwörer von Haus aus märchenhaft reich und wollen offenbar als Großkapitalisten und Immobilienspekulanten in den USA reüssieren.
Listen gegen Lasterlose
Zwei Feinde hat Jammu, die ihr das Handwerk legen könnten. Einer durchschaut sie, der andere ist unkorrumpierbar. Der steinreiche, erzreaktionäre Kommunistenfresser General Norris, ein Mann mit „extremen politischen Ansichten von fast mythischen Dimensionen”, ahnt als einziger, dass die Infiltration von St. Louis bevorsteht. Man muss sich vor Augen halten, was es für den polyperspektivisch erzählten Roman bedeutet, dass der einzige, der die Asiaten durchschaut, exakt dem Profil eines Sicherheitsberaters im Stab Ronald Reagans entspricht. Kein Indiz deutet darauf hin, Franzen habe die Verschwörung ironisch verstanden und die Paranoia des Sicherheitswahns in einem schwarzen Spiegel kenntlich machen wollen.
Der zweite, an dem Jammus Plan zu scheitern droht, ist der Bauunternehmer Martin Probst, der das Wahrzeichen der Stadt, einen gigantischen stählernen Torbogen, erbaut hat. Weil Jammu – aus indisch-kommunistisch-kapitalistisch-terroristischen Gründen, die völlig unerfindlich bleiben – die moralische Zerrüttung der Oberschicht im Sinne hat, ist Probst ihr natürlicher Feind, denn: „Probst hatte keine Schwächen. Er war ehrlich, kompetent, ohne Laster und bis zur Selbstgefälligkeit gelassen.” Dieser Saubermann wird bald fünfzig, hat gleich die erste Frau, mit der er ins Bett ging, geheiratet und seither nie betrogen, ist seinen Angestellten ein wohlwollender Patriarch und hält die Firma gewerkschaftsfrei: Weil er ja ohnehin alles tut, was für seine Untergebenen gut ist.
Diesen Repräsentanten des amerikanischen Traumes muss Jammu, um ihren gehässigen Alptraum zu verwirklichen, destruieren, und es gelingt ihr. Wie Franzen den Zerfall der Familie Probst gestaltet, wie er die Ehe scheitern, die Frau ausbrechen, die Tochter ins Drogenmilieu abgleiten, den getreuen Ehemann ausgerechnet seiner Feindin sexuell hörig werden lässt – das ist großartig. Hier spielt der Autor souverän seine Stärken aus; aber dass er die Zerstörung und Selbstzerstörung des weißen Bürgertums als Verschwörung anlegt, das ist gar nicht großartig, sondern erschreckend billig.
Die ersten deutschen Kritiken der „27sten Stadt” waren sich einig: ein grandioses Debüt mit vielen kleinen Schwächen in der kompositorischen Makrostruktur. Richtig ist das Gegenteil: ein einziges Fiasko mit vielen erzählerischen Stärken im Detail. Dies ist ein Roman, der nicht nur von der Reagan-Ära erzählt, sondern allzu gut zu ihr passt. Er ist offenbar genau das, was das alte Europa mit dem maroden Deutschland inmitten ganz dringend braucht.
KARL-MARKUS GAUSS
JONATHAN FRANZEN: Die 27ste Stadt. Roman. Aus dem Amerikanischen von Heinz Müller. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 670 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.09.2003Franzens erstes Buch
"Die 27ste Stadt" erscheint
Wie vom Himmel gefallen wirkte Jonathan Franzen, als er vor zwei Jahren seinen Siegeszug durch die Bestsellerlisten antrat. Doch Franzen war kein weiterer amerikanischer Debütant, nicht Wunderkind wie Jonathan Safran Foer noch spätberufen wie Louis Begley. Vor dem Welterfolg hatte er zwei gepriesene, doch glücklose Romane geschrieben, einen dritten nach sieben Jahren Arbeit einfach weggeworfen. Erst dann kamen "Die Korrekturen", hymnische Rezensionen, Rekordverkäufe, Ruhm.
Am Mittwoch erscheint nun Franzens Erstling auf deutsch, "Die 27ste Stadt". Jetzt klärt sich, woher jene stilistische Reife stammt, die "The Corrections" zum Ereignis machte. Endlich ist ein Vergleich möglich: Franzen, das zeigt der neue, fünfzehn Jahre alte Roman, war schon mit achtundzwanzig so gut wie heute. Einer, der Dialoge schreibt wie kaum ein anderer lebender Schriftsteller. Einer, der auch über 700 Seiten hinweg die Spannung hält. Einer, der aus Worten ein Paralleluniversum erschafft, in dem Menschen aus Fleisch und Blut umherspazieren, nicht fahle Figuren, die Ideen verkörpern: jene "imaginierte Welt" also, die Franzen in seinem berühmten Essay für "Harper's Magazine" 1996 beschworen hatte und in die er sich hineinzuschreiben, hineinzuträumen sehnt - als Dichter und Leser.
Franzens lebendiger Realismus führte seine Kritiker bald auf die Spur ins 19. Jahrhundert, hin zu den großen Romanciers. "Tolstoi in Pynchons Manier", so hatte Franzens Freund und Kollege Jeffrey Eugenides ("Middlesex") jene Schreibweise erklärt, die beide verbindet: die zerfaserte Welt mit ihren Bildern, Medien und Diskursen zu einer Geschichte verknüpfen, deren Strang so stark ist, daß sie den Leser rasant durch die Lektüre zieht. Den aus dem Leim gegangenen "postmodernen" Alltag in eine Form fügen, statt ihn in Splittern nachzubilden, wie bei Thomas Pynchon oder Don DeLillo.
Schon "Die 27ste Stadt" folgte diesem Muster. Gemessen an den "Korrekturen" ist der Roman aber weniger luftig und vor allem nicht so lustig. Das Buch ist Ehedrama, Thriller und Schlüsselroman in einem: Alles dreht sich um Martin Probst, Gatte, Vater und prominenter Bürger von St. Louis - Franzens Heimatstadt. Früher war sie eine stolze Metropole im Mittleren Westen, die viertgrößte Stadt des Landes. Jetzt, um das Jahr 1984, ist St. Louis nur noch Nummer 27. Die Stadt stirbt aus, verliert den Funken, der sie einst leuchten ließ. Probst hat sich mit anderen Honoratioren zusammengetan, um die ermattete Wirtschaft anzukurbeln. Doch Terroranschläge erschüttern die Stadt. Eine neue Polizeichefin ermittelt, die Inderin Jammu. Probst mißtraut ihr und ihren Helfershelfern. Zu Recht, wie sich am mörderischen Ende des Romans erweist. Doch da hat Probst längst alles verspielt - sein Ansehen, seine Selbstachtung, seine Frau und seine Tochter.
Franzen riskiert viel, immerhin spiegelt er den Verfall von St. Louis im Zerbrechen des Hauses Probst und darin den Untergang einer Gemeinschaft. Das ist überehrgeizig angelegt, aber es gelingt, dank eines Erzählers, der einmal melancholisch, dann ironisch, im nächsten Moment dokumentarisch nüchtern spricht und alle Stimmen schlüssig mischt. Jonathan Franzen hat seither Ballast abgeworfen. Was er in den ersten Romanen noch im Vordergrund abbildete - Politik und Kriminalität, Zivilisation und Ökonomie -, hat er in den "Korrekturen" aufgehoben in der reichsten, abgründigsten Metapher allen menschlichen Zusammenlebens: der Familie.
TOBIAS RÜTHER
Jonathan Franzen: Die 27ste Stadt. Deutsch von Heinz Müller. Rowohlt Verlag, 672 Seiten, 24,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die 27ste Stadt" erscheint
Wie vom Himmel gefallen wirkte Jonathan Franzen, als er vor zwei Jahren seinen Siegeszug durch die Bestsellerlisten antrat. Doch Franzen war kein weiterer amerikanischer Debütant, nicht Wunderkind wie Jonathan Safran Foer noch spätberufen wie Louis Begley. Vor dem Welterfolg hatte er zwei gepriesene, doch glücklose Romane geschrieben, einen dritten nach sieben Jahren Arbeit einfach weggeworfen. Erst dann kamen "Die Korrekturen", hymnische Rezensionen, Rekordverkäufe, Ruhm.
Am Mittwoch erscheint nun Franzens Erstling auf deutsch, "Die 27ste Stadt". Jetzt klärt sich, woher jene stilistische Reife stammt, die "The Corrections" zum Ereignis machte. Endlich ist ein Vergleich möglich: Franzen, das zeigt der neue, fünfzehn Jahre alte Roman, war schon mit achtundzwanzig so gut wie heute. Einer, der Dialoge schreibt wie kaum ein anderer lebender Schriftsteller. Einer, der auch über 700 Seiten hinweg die Spannung hält. Einer, der aus Worten ein Paralleluniversum erschafft, in dem Menschen aus Fleisch und Blut umherspazieren, nicht fahle Figuren, die Ideen verkörpern: jene "imaginierte Welt" also, die Franzen in seinem berühmten Essay für "Harper's Magazine" 1996 beschworen hatte und in die er sich hineinzuschreiben, hineinzuträumen sehnt - als Dichter und Leser.
Franzens lebendiger Realismus führte seine Kritiker bald auf die Spur ins 19. Jahrhundert, hin zu den großen Romanciers. "Tolstoi in Pynchons Manier", so hatte Franzens Freund und Kollege Jeffrey Eugenides ("Middlesex") jene Schreibweise erklärt, die beide verbindet: die zerfaserte Welt mit ihren Bildern, Medien und Diskursen zu einer Geschichte verknüpfen, deren Strang so stark ist, daß sie den Leser rasant durch die Lektüre zieht. Den aus dem Leim gegangenen "postmodernen" Alltag in eine Form fügen, statt ihn in Splittern nachzubilden, wie bei Thomas Pynchon oder Don DeLillo.
Schon "Die 27ste Stadt" folgte diesem Muster. Gemessen an den "Korrekturen" ist der Roman aber weniger luftig und vor allem nicht so lustig. Das Buch ist Ehedrama, Thriller und Schlüsselroman in einem: Alles dreht sich um Martin Probst, Gatte, Vater und prominenter Bürger von St. Louis - Franzens Heimatstadt. Früher war sie eine stolze Metropole im Mittleren Westen, die viertgrößte Stadt des Landes. Jetzt, um das Jahr 1984, ist St. Louis nur noch Nummer 27. Die Stadt stirbt aus, verliert den Funken, der sie einst leuchten ließ. Probst hat sich mit anderen Honoratioren zusammengetan, um die ermattete Wirtschaft anzukurbeln. Doch Terroranschläge erschüttern die Stadt. Eine neue Polizeichefin ermittelt, die Inderin Jammu. Probst mißtraut ihr und ihren Helfershelfern. Zu Recht, wie sich am mörderischen Ende des Romans erweist. Doch da hat Probst längst alles verspielt - sein Ansehen, seine Selbstachtung, seine Frau und seine Tochter.
Franzen riskiert viel, immerhin spiegelt er den Verfall von St. Louis im Zerbrechen des Hauses Probst und darin den Untergang einer Gemeinschaft. Das ist überehrgeizig angelegt, aber es gelingt, dank eines Erzählers, der einmal melancholisch, dann ironisch, im nächsten Moment dokumentarisch nüchtern spricht und alle Stimmen schlüssig mischt. Jonathan Franzen hat seither Ballast abgeworfen. Was er in den ersten Romanen noch im Vordergrund abbildete - Politik und Kriminalität, Zivilisation und Ökonomie -, hat er in den "Korrekturen" aufgehoben in der reichsten, abgründigsten Metapher allen menschlichen Zusammenlebens: der Familie.
TOBIAS RÜTHER
Jonathan Franzen: Die 27ste Stadt. Deutsch von Heinz Müller. Rowohlt Verlag, 672 Seiten, 24,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Atemlos ist das zu lesen. Ein Roman von epischer Wucht. FAZ.NET