"Ich habe Probleme mit Blickkontakt. Ich kann weder Mimik deuten noch zwischen den Zeilen lesen. Da ist eine permanente Angst und lähmende Müdigkeit." Clara Törnvall wusste schon immer, dass etwas mit ihr nicht stimmt, doch erst mit 42 Jahren erhält sie die Diagnose. Sie ist Autistin? Sind das nicht eher sozial inkompatible Männer mit Inselbegabung? In "Die Autistinnen" erkundet sie, warum es insbesondere bei Frauen oft zu Fehldiagnosen kommt und wer wirklich hinter der mythisch aufgeladenen Figur der Autistin steht. Dabei stößt sie unverhofft auf eigene Idole wie Beatrix Potter, Greta Thunberg und Virginia Woolf. Ein eindringlicher, überraschender und persönlicher Text, der unsere Auffassung von Normalität infrage stellt.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
So ganz anfreunden kann sich Rezensentin Novina Göhlsdorf nicht mit Clara Törnvalls Buch über Autismus, das zwischen Sachbuch und persönlichem Essay hin- und hermäandert: Die Autorin hat ihre Diagnose erst mit 42 Jahren bekommen und erzählt daraufhin von anderen autistischen Frauen und der Frage, inwiefern sich Autismus bei Mädchen und Frauen anders äußert als bei Männern. Manchen Frauen, wie zum Beispiel Patricia Highsmith, schreibt sie die Diagnose jedoch einfach zu, was Göhlsdorf irritiert, auch viel des "jeweils aktuellen Wissensstands", den die Autorin anführt, wird entweder nicht belegt oder ohne Nachweis kopiert. Außerdem stört sich die Kritikerin an Törnvalls verallgemeinernden Aussagen zum weiblichen Autismus, auch wenn sie wohl als Gegenmittel zu sonstigen Vorurteilen gedacht sind. Die Passagen, in denen die Autorin ihr eigenes Erleben schildert, findet sie abschließend jedoch recht überzeugend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2024Diagnose über alles
Clara Törnvalls Buch über Autismus ist dort am besten, wo es nicht um Autismus geht.
Von Novina Göhlsdorf
Man könnte "Die Autistinnen" genrefluid nennen. Das Buch der schwedischen Kulturjournalistin Clara Törnvall fängt an als Memoir einer Autorin mit Autismus, erzählt immer mal wieder, in vereinzelten Splittern und gar nicht chronologisch, aus ihrem Leben. Zwischendurch verwandelt der Text sich in ein Sachbuch über Autismus, besonders bei erwachsenen Frauen, und viele von Törnvalls Darstellungen anderer Autistinnen sind freundliche Fallgeschichten. Sehr oft driftet sie essayistisch ab: in Richtung eines Gedichts von Emily Dickinson, eines symbolistischen Gemäldes, Freuds Beschreibung des Unheimlichen und der besten Übersetzung von "unheimlich" ins Schwedische. In dieser Drift wird unklar, ob die Autorin sich oder die Leserin verliert. Oder beide.
Törnvall wurde erst im Alter von 42 Jahren als autistisch diagnostiziert. Die für sie alles verändernde Diagnosestellung bildet die Rahmenhandlung ihres Buchs, dessen sonstige Dramaturgie ungemein zufällig wirkt. Es setzt damit ein, wie ein gut aussehender Psychologe ihr bestätigt, dass sie eine Autismus-Spektrums-Störung der "hochfunktionalen" Variante hat, also: ohne "intellektuelle oder sprachliche Beeinträchtigung". Autismus gilt heute - aus psychowissenschaftlicher Sicht - als genetisch und neurobiologisch bedingte psychische Störung, die sich vor allem in Schwierigkeiten äußert, mit anderen Menschen zu kommunizieren, sozial zu interagieren und sich in sie hineinzuversetzen, im Hang zu eingeschränkten Spezialinteressen und Routinen und in einer erhöhten oder verminderten Empfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen. Ihr Autismus, so Törnvall, zeigt sich, unter anderem, in ihrer Kontaktscheu, in der Anstrengung, die es sie kostet, anderen in die Augen zu schauen oder ein Gespräch über wechselnde Themen zu führen. Darin, dass sie ihre Gedanken und Gefühle schwer greifen und vermitteln kann, alles beim Wort nimmt und subtile soziale Codes und Floskeln sie überfordern. In ihrem intensiven Interesse an wenigem, zum Beispiel an Sprache, und dem Desinteresse an dem meisten Übrigen, ihrer Lärmempfindlichkeit, ihrem Routinebedürfnis, der Neigung, allein zu sein. Und in ihrer Ehrlichkeit.
Sie erzählt von anderen Schwedinnen, deren Autismus erst im Erwachsenenalter erkannt worden ist, von der prominentesten autistischen Schwedin - Greta Thunberg -, der bekannten US-amerikanischen Autistin und Autismus-Expertin Temple Grandin und der Hollywood-Schauspielerin Daryl Hannah. Mindestens genauso viel erzählt Törnvall von berühmten Frauen, bevorzugt Schriftstellerinnen, die nicht mehr leben. Sie erklärt sie zu Autistinnen, selbst wenn sie, wie Emily Dickinson und Simone Weil, verstorben sind, bevor es das Störungsbild gab, oder man, wie bei Patricia Highsmith und Doris Lessing, von offiziellen Diagnosen gar nichts weiß. Törnvall beruft sich auf die postumen Diagnosestellungen eines Psychiaters und einer Literaturwissenschaftlerin, die in biographischen Anekdoten über Autoren und ihren literarischen Texten Symptome aufgespürt hat. Diese detektivische Retro-Diagnostik ist sehr populär, nach klinischen wie kultur- und wissenschaftshistorischen Kriterien jedoch fragwürdig.
Törnvall lässt eine Geschichte des Autismus mit Blick auf den "jeweils aktuellen Wissensstand" und "kulturelle Vorstellungen von Sprache und Wahrnehmung" erwarten. Doch ihre Darstellungen der historischen Entwicklung des Autismus-Konzepts und der angeblich frühesten nachgewiesenen Autismus-Fälle im dreizehnten Jahrhundert bleiben oberflächlich und fügen der inzwischen gut erforschten Autismus-Geschichte nichts Neues hinzu - außer dort, wo ihr sachliche Fehler unterlaufen. Von denen gibt es dafür einige. Um nur einen zu nennen: Um den Erkenntniswert der Schriften des Wiener Arztes und Heilpädagogen Hans Asperger zur "autistischen Psychopathie" und ihn als verewigten Namensgeber des Asperger-Syndroms infrage zu stellen, behauptet Törnvall, Asperger habe angenommen, die von ihm beschriebene "autistische Psychopathie" bilde sich erst in der Kindheit heraus, obwohl Asperger die "Erblichkeit" der von ihm beschriebenen Psychopathie in seinem Text hervorhebt.
Ob Törnvall schlechte Nacherzählungen nacherzählt oder Nacherzählungen schlecht nacherzählt, lässt sich leider nicht nachvollziehen, da das Buch keine Fußnoten hat und Törnvall in Fließtext und Literaturverzeichnis nur lückenhaft belegt, woher ihr sehr entschieden vorgetragenes Wissen stammt. Das gilt auch für andere Teile des Buches. Womöglich freuen sich manche Leser über Törnvalls luzide Analyse filmischer Autismus-Darstellungen oder wundern sich über einen interessanten, jedoch ziemlich unvermittelten Satz über Andy Warhols Film "Empire". Dieser ist, wie auch deutlich längere Passagen zur visuellen Repräsentation von Autismus, sprachlich wenig verändert, aus dem hervorragenden Buch "Representing Autism" des Literatur- und Filmwissenschaftlers Stuart Murray übernommen. Das wird zwar im Literaturverzeichnis erwähnt, allerdings an völlig anderer Stelle, dort, wo Murray auch explizit zitiert wird.
Über einen Fragenkatalog zur Autismus-Diagnose schreibt Törnvall: "Der Erhebungsbogen beurteilt mich, davon ausgehend, wie männlich ich bin." Damit bringt sie auf den Punkt, dass Autismus konzipiert wurde als eine Störung, von der vorwiegend Jungen betroffen sind und die sich in einem defizitären Sozialverhalten und einem obsessiven Spezialinteresse, oft für Zahlen, äußert - diese Kennzeichen kollidieren nicht nur mit traditionellen weiblichen Rollenerwartungen, sondern konnten und können vermutlich aufgrund der genderspezifischen Sozialisierung auch autistischer Kinder bei vielen Mädchen nicht in derselben Weise beobachtet werden. Das hat manche Autismus-Forscher dazu getrieben, Autismus in der Folge Aspergers zur Form extremer Männlichkeit zu erklären - auf Basis eines mindestens ebenso verfehlten Modells von Männlichkeit. Und es führt bis heute dazu, dass Autismus bei Mädchen und Frauen nicht erkannt wird, weil auch die Diagnoseinstrumente und die Diagnostiker oft auf die typischen Merkmale autistischer Jungen ausgerichtet sind. Gerade weil Törnvall ausführlich das eigene Leid und das anderer Frauen beklagt, das eine ausbleibende oder verspätete Autismus-Diagnose bewirken kann, rechnet man mit einer Engführung von Geschlechter- und Autismus-Bildern in ihrem Buch oder hofft darauf, dass sie, wie angedeutet, darüber schreibt, wie es ist, als autistische Frau sowohl einer neurotypischen als auch einer patriarchalen Ordnung ausgesetzt zu sein. Bloß kommt ihr Text auch hier über Assoziationen nicht hinaus. Und da sie ihren Autismus geradezu als Gegenprogramm zu dem charakterisiert, was sie als klassisch weibliches Rollenverhalten begreift, bestätigt sie sogar die Kopplung von Männlichkeit und Autismus.
Indem Törnvall ihre Selbstbeschreibungen verschränkt mit denen weiterer vermeintlich autistischer Frauen, ergibt sich, wie in einer psychiatrischen Studie mehrerer Fälle, ein - gewolltes - Muster gemeinsamer Züge, ein exemplarischer Prototyp: "die Autistin". Das beschwört eine Gleichartigkeit der Erscheinungsweise von Autismus bei Frauen und behauptet eine Allgemeingültigkeit, die sich auch ausdrückt in irritierenden Formulierungen wie: "Die Autistin . . . sucht, wovor andere sich fürchten . . . Doch ihr Rückzug . . . ist keine Zurückweisung. Sie möchte . . . eingebunden sein." Nicht nur hier spricht Törnvall mit größter Selbstverständlichkeit und so bestimmt wie der Artikel im Buchtitel für sämtliche Autistinnen und tut damit das, was nicht autistische Personen jahrzehntelang getan haben, was ihnen aber vermehrt und zu Recht vorgeworfen wird: für autistische Personen zu sprechen. Dem pauschalisierten und in seiner moralischen Aufladung ans Klischee vom "heiligen Narren" erinnernden Bild der arglosen, zur Lüge unfähigen Autistin mit "ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn" stellt Törnvall das des "Neurotypikers" (ein offenbar nur halb ins Deutsche übersetzter Ausdruck) entgegen: "Sie sagen nie, was sie denken . . . haben niedrige moralische Ansprüche . . . Sie leugnen die Wahrheit."
Törnvalls lakonische, ungeschönt-direkte Schilderungen ihrer inneren und der äußeren Vorgänge während der Diagnosesitzungen gehören zu den stärksten des Buchs und zeigen lustig, wie verkorkst Sozialdynamik - und zwar jenseits von jedem Autismus - immer schon ist zwischen demjenigen, der eine psychiatrische Diagnose stellt, und derjenigen, um die es geht. Aus ähnlichen Gründen herausragend sind die Passagen über ein in der Psychiatrie verbrachtes Wochenende und die, in denen Törnvall so kurz wie kompakt von ihren Eltern und aus ihrer Kindheit erzählt, von Glück und Unglück in ihrer mittlerweile geschiedenen Ehe. Durch den fast schon unpersönlichen, ruhig distanzierten Stil rücken einem die Geschehnisse in diesen Abschnitten nahe, werden sie auf sehr eigene Weise persönlich.
Es scheint, als wäre "Die Autistinnen" von Törnvall dort am eindrücklichsten, wo der Autismus - als allgemeingültige, von "den" Autistinnen geteilte Diagnose, als Grundlage und Raster ihrer Identität und als starre Grenze zu neurotypischen Menschen - nicht im Vordergrund steht. Wo Törnvall von ihren individuellen Eindrücken und von sich schreibt als von jemandem, der autistisch ist, aber vielleicht auch vieles mehr. Gegen die missliche Hierarchie von Normalität und Abweichung kommt man jedenfalls nicht an, indem man sie einfach mit umgekehrten Vorzeichen versieht. Man könnte es aber mal mit einer gewissen Fluidität versuchen.
Clara Törnvall: "Die Autistinnen". Übersetzt von Hanna Granz. Hanser Berlin, 238 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Clara Törnvalls Buch über Autismus ist dort am besten, wo es nicht um Autismus geht.
Von Novina Göhlsdorf
Man könnte "Die Autistinnen" genrefluid nennen. Das Buch der schwedischen Kulturjournalistin Clara Törnvall fängt an als Memoir einer Autorin mit Autismus, erzählt immer mal wieder, in vereinzelten Splittern und gar nicht chronologisch, aus ihrem Leben. Zwischendurch verwandelt der Text sich in ein Sachbuch über Autismus, besonders bei erwachsenen Frauen, und viele von Törnvalls Darstellungen anderer Autistinnen sind freundliche Fallgeschichten. Sehr oft driftet sie essayistisch ab: in Richtung eines Gedichts von Emily Dickinson, eines symbolistischen Gemäldes, Freuds Beschreibung des Unheimlichen und der besten Übersetzung von "unheimlich" ins Schwedische. In dieser Drift wird unklar, ob die Autorin sich oder die Leserin verliert. Oder beide.
Törnvall wurde erst im Alter von 42 Jahren als autistisch diagnostiziert. Die für sie alles verändernde Diagnosestellung bildet die Rahmenhandlung ihres Buchs, dessen sonstige Dramaturgie ungemein zufällig wirkt. Es setzt damit ein, wie ein gut aussehender Psychologe ihr bestätigt, dass sie eine Autismus-Spektrums-Störung der "hochfunktionalen" Variante hat, also: ohne "intellektuelle oder sprachliche Beeinträchtigung". Autismus gilt heute - aus psychowissenschaftlicher Sicht - als genetisch und neurobiologisch bedingte psychische Störung, die sich vor allem in Schwierigkeiten äußert, mit anderen Menschen zu kommunizieren, sozial zu interagieren und sich in sie hineinzuversetzen, im Hang zu eingeschränkten Spezialinteressen und Routinen und in einer erhöhten oder verminderten Empfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen. Ihr Autismus, so Törnvall, zeigt sich, unter anderem, in ihrer Kontaktscheu, in der Anstrengung, die es sie kostet, anderen in die Augen zu schauen oder ein Gespräch über wechselnde Themen zu führen. Darin, dass sie ihre Gedanken und Gefühle schwer greifen und vermitteln kann, alles beim Wort nimmt und subtile soziale Codes und Floskeln sie überfordern. In ihrem intensiven Interesse an wenigem, zum Beispiel an Sprache, und dem Desinteresse an dem meisten Übrigen, ihrer Lärmempfindlichkeit, ihrem Routinebedürfnis, der Neigung, allein zu sein. Und in ihrer Ehrlichkeit.
Sie erzählt von anderen Schwedinnen, deren Autismus erst im Erwachsenenalter erkannt worden ist, von der prominentesten autistischen Schwedin - Greta Thunberg -, der bekannten US-amerikanischen Autistin und Autismus-Expertin Temple Grandin und der Hollywood-Schauspielerin Daryl Hannah. Mindestens genauso viel erzählt Törnvall von berühmten Frauen, bevorzugt Schriftstellerinnen, die nicht mehr leben. Sie erklärt sie zu Autistinnen, selbst wenn sie, wie Emily Dickinson und Simone Weil, verstorben sind, bevor es das Störungsbild gab, oder man, wie bei Patricia Highsmith und Doris Lessing, von offiziellen Diagnosen gar nichts weiß. Törnvall beruft sich auf die postumen Diagnosestellungen eines Psychiaters und einer Literaturwissenschaftlerin, die in biographischen Anekdoten über Autoren und ihren literarischen Texten Symptome aufgespürt hat. Diese detektivische Retro-Diagnostik ist sehr populär, nach klinischen wie kultur- und wissenschaftshistorischen Kriterien jedoch fragwürdig.
Törnvall lässt eine Geschichte des Autismus mit Blick auf den "jeweils aktuellen Wissensstand" und "kulturelle Vorstellungen von Sprache und Wahrnehmung" erwarten. Doch ihre Darstellungen der historischen Entwicklung des Autismus-Konzepts und der angeblich frühesten nachgewiesenen Autismus-Fälle im dreizehnten Jahrhundert bleiben oberflächlich und fügen der inzwischen gut erforschten Autismus-Geschichte nichts Neues hinzu - außer dort, wo ihr sachliche Fehler unterlaufen. Von denen gibt es dafür einige. Um nur einen zu nennen: Um den Erkenntniswert der Schriften des Wiener Arztes und Heilpädagogen Hans Asperger zur "autistischen Psychopathie" und ihn als verewigten Namensgeber des Asperger-Syndroms infrage zu stellen, behauptet Törnvall, Asperger habe angenommen, die von ihm beschriebene "autistische Psychopathie" bilde sich erst in der Kindheit heraus, obwohl Asperger die "Erblichkeit" der von ihm beschriebenen Psychopathie in seinem Text hervorhebt.
Ob Törnvall schlechte Nacherzählungen nacherzählt oder Nacherzählungen schlecht nacherzählt, lässt sich leider nicht nachvollziehen, da das Buch keine Fußnoten hat und Törnvall in Fließtext und Literaturverzeichnis nur lückenhaft belegt, woher ihr sehr entschieden vorgetragenes Wissen stammt. Das gilt auch für andere Teile des Buches. Womöglich freuen sich manche Leser über Törnvalls luzide Analyse filmischer Autismus-Darstellungen oder wundern sich über einen interessanten, jedoch ziemlich unvermittelten Satz über Andy Warhols Film "Empire". Dieser ist, wie auch deutlich längere Passagen zur visuellen Repräsentation von Autismus, sprachlich wenig verändert, aus dem hervorragenden Buch "Representing Autism" des Literatur- und Filmwissenschaftlers Stuart Murray übernommen. Das wird zwar im Literaturverzeichnis erwähnt, allerdings an völlig anderer Stelle, dort, wo Murray auch explizit zitiert wird.
Über einen Fragenkatalog zur Autismus-Diagnose schreibt Törnvall: "Der Erhebungsbogen beurteilt mich, davon ausgehend, wie männlich ich bin." Damit bringt sie auf den Punkt, dass Autismus konzipiert wurde als eine Störung, von der vorwiegend Jungen betroffen sind und die sich in einem defizitären Sozialverhalten und einem obsessiven Spezialinteresse, oft für Zahlen, äußert - diese Kennzeichen kollidieren nicht nur mit traditionellen weiblichen Rollenerwartungen, sondern konnten und können vermutlich aufgrund der genderspezifischen Sozialisierung auch autistischer Kinder bei vielen Mädchen nicht in derselben Weise beobachtet werden. Das hat manche Autismus-Forscher dazu getrieben, Autismus in der Folge Aspergers zur Form extremer Männlichkeit zu erklären - auf Basis eines mindestens ebenso verfehlten Modells von Männlichkeit. Und es führt bis heute dazu, dass Autismus bei Mädchen und Frauen nicht erkannt wird, weil auch die Diagnoseinstrumente und die Diagnostiker oft auf die typischen Merkmale autistischer Jungen ausgerichtet sind. Gerade weil Törnvall ausführlich das eigene Leid und das anderer Frauen beklagt, das eine ausbleibende oder verspätete Autismus-Diagnose bewirken kann, rechnet man mit einer Engführung von Geschlechter- und Autismus-Bildern in ihrem Buch oder hofft darauf, dass sie, wie angedeutet, darüber schreibt, wie es ist, als autistische Frau sowohl einer neurotypischen als auch einer patriarchalen Ordnung ausgesetzt zu sein. Bloß kommt ihr Text auch hier über Assoziationen nicht hinaus. Und da sie ihren Autismus geradezu als Gegenprogramm zu dem charakterisiert, was sie als klassisch weibliches Rollenverhalten begreift, bestätigt sie sogar die Kopplung von Männlichkeit und Autismus.
Indem Törnvall ihre Selbstbeschreibungen verschränkt mit denen weiterer vermeintlich autistischer Frauen, ergibt sich, wie in einer psychiatrischen Studie mehrerer Fälle, ein - gewolltes - Muster gemeinsamer Züge, ein exemplarischer Prototyp: "die Autistin". Das beschwört eine Gleichartigkeit der Erscheinungsweise von Autismus bei Frauen und behauptet eine Allgemeingültigkeit, die sich auch ausdrückt in irritierenden Formulierungen wie: "Die Autistin . . . sucht, wovor andere sich fürchten . . . Doch ihr Rückzug . . . ist keine Zurückweisung. Sie möchte . . . eingebunden sein." Nicht nur hier spricht Törnvall mit größter Selbstverständlichkeit und so bestimmt wie der Artikel im Buchtitel für sämtliche Autistinnen und tut damit das, was nicht autistische Personen jahrzehntelang getan haben, was ihnen aber vermehrt und zu Recht vorgeworfen wird: für autistische Personen zu sprechen. Dem pauschalisierten und in seiner moralischen Aufladung ans Klischee vom "heiligen Narren" erinnernden Bild der arglosen, zur Lüge unfähigen Autistin mit "ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn" stellt Törnvall das des "Neurotypikers" (ein offenbar nur halb ins Deutsche übersetzter Ausdruck) entgegen: "Sie sagen nie, was sie denken . . . haben niedrige moralische Ansprüche . . . Sie leugnen die Wahrheit."
Törnvalls lakonische, ungeschönt-direkte Schilderungen ihrer inneren und der äußeren Vorgänge während der Diagnosesitzungen gehören zu den stärksten des Buchs und zeigen lustig, wie verkorkst Sozialdynamik - und zwar jenseits von jedem Autismus - immer schon ist zwischen demjenigen, der eine psychiatrische Diagnose stellt, und derjenigen, um die es geht. Aus ähnlichen Gründen herausragend sind die Passagen über ein in der Psychiatrie verbrachtes Wochenende und die, in denen Törnvall so kurz wie kompakt von ihren Eltern und aus ihrer Kindheit erzählt, von Glück und Unglück in ihrer mittlerweile geschiedenen Ehe. Durch den fast schon unpersönlichen, ruhig distanzierten Stil rücken einem die Geschehnisse in diesen Abschnitten nahe, werden sie auf sehr eigene Weise persönlich.
Es scheint, als wäre "Die Autistinnen" von Törnvall dort am eindrücklichsten, wo der Autismus - als allgemeingültige, von "den" Autistinnen geteilte Diagnose, als Grundlage und Raster ihrer Identität und als starre Grenze zu neurotypischen Menschen - nicht im Vordergrund steht. Wo Törnvall von ihren individuellen Eindrücken und von sich schreibt als von jemandem, der autistisch ist, aber vielleicht auch vieles mehr. Gegen die missliche Hierarchie von Normalität und Abweichung kommt man jedenfalls nicht an, indem man sie einfach mit umgekehrten Vorzeichen versieht. Man könnte es aber mal mit einer gewissen Fluidität versuchen.
Clara Törnvall: "Die Autistinnen". Übersetzt von Hanna Granz. Hanser Berlin, 238 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Törnvalls lakonische, ungeschönt-direkte Schilderungen ihrer inneren und der äußeren Vorgänge während der Diagnosesitzungen gehören zu den stärksten des Buchs und zeigen lustig, wie verkorkst Sozialdynamik - und zwar jenseits von Autismus - immer schon ist zwischen demjenigen, der eine psychiatrische Diagnose stellt und derjenigen, um die es geht. Herausragend sind auch die Passagen über ein in der Psychiatrie verbrachtes Wochenende und die, in denen sie so kurz wie kompakt von ihren Eltern und aus ihrer Kindheit erzählt, von Glück und Unglück in ihrer mittlerweile geschiedenen Ehe." Novina Göhlsdorf, F.A.S., 28.01.24
"Ein literarisch geschriebenes Sachbuch über Autismus, das mit Legenden und Mythen aufräumt. ... Törnvall wirbt mit Klugheit und Charme um mehr Verständnis und Toleranz für die, die ein bisschen anders sind." Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 30.01.24
"Sehr offen, sehr persönlich, sehr zu Herzen gehend. ... Dieses Buch hilft dabei, mit den Mitmenschen adäquat kommunizieren zu können." Susanne Billig, Deutschlandfunk Kultur, 14.02.24
"Gesellschaftskritisch und feministisch ... Eine absolut lohnende Lektüre, die dafür sensibilisiert, dass wir unterschiedliche Bedürfnisse haben und es nicht immer nur ums Funktionieren geht." Laura Freisberg, Bayern 2, 11.02.24
"Mit Vorurteilen und Mythen aufzuräumen und stattdessen aktuelle wissenschaftlich fundierte Fakten zu liefern, das war Clara Törnvall sehr wichtig. ... Vor allem die Beschreibungen zu lesen, wie Törnvall ihr ganzes Leben lang versucht hat, in der Welt zurechtzukommen, hat mich sehr berührt." Katharina Mild, Radio Bremen, 03.02.24
"Clara Törnvall lässt ihre Wut auf ein System zu, das keinen Umgang findet mit Menschen, die 'anders' ticken. ... Ihr Buch ist eine berührende Suche danach, wer sie wirklich ist - und das Protokoll einer offenen Wunde, die durch Nicht-Wissen entsteht." Stefanie Jaksch, Buchkultur, 15.02.24
"Ein literarisch geschriebenes Sachbuch über Autismus, das mit Legenden und Mythen aufräumt. ... Törnvall wirbt mit Klugheit und Charme um mehr Verständnis und Toleranz für die, die ein bisschen anders sind." Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 30.01.24
"Sehr offen, sehr persönlich, sehr zu Herzen gehend. ... Dieses Buch hilft dabei, mit den Mitmenschen adäquat kommunizieren zu können." Susanne Billig, Deutschlandfunk Kultur, 14.02.24
"Gesellschaftskritisch und feministisch ... Eine absolut lohnende Lektüre, die dafür sensibilisiert, dass wir unterschiedliche Bedürfnisse haben und es nicht immer nur ums Funktionieren geht." Laura Freisberg, Bayern 2, 11.02.24
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"Clara Törnvall lässt ihre Wut auf ein System zu, das keinen Umgang findet mit Menschen, die 'anders' ticken. ... Ihr Buch ist eine berührende Suche danach, wer sie wirklich ist - und das Protokoll einer offenen Wunde, die durch Nicht-Wissen entsteht." Stefanie Jaksch, Buchkultur, 15.02.24