Unser Gesundheitssystem steht unter hohem Veränderungsdruck: Wir leben aufgrund bahnbrechender medizinischer Fortschritte immer länger, jedoch führt unser zunehmend ungesunder Lebensstil dazu, dass wir immer häufiger an chronischen Krankheiten leiden. Dies treibt die Kosten im Gesundheitswesen in die Höhe und bringt unser erfolgreiches System ins Wanken. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu forcieren, ist ein möglicher Weg, den Kostensteigerungen zu begegnen und gleichzeitig Kranke besser zu versorgen. Am Beispiel von fünf chronischen Erkrankungen zeigen uns die Autorin und die Autoren, was digitale Innovationen schon heute leisten können, und nehmen uns mit auf eine spannende Reise in die digitale Zukunft unseres Gesundheitssystems.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Martin Mair hält das Sachbuch von Elgar Fleisch, Christoph Franz, Andreas Herrmann und Annette Mönninghoff für lohnende Lektüre. Auch wenn das Autorenteam aus Informations- und Pharmamanagern, Betriebswirten und einer Fachfrau für digitale Medizin laut Mair allzu sehr der Verheißung einer von KI gesteuerten Medizin der Zukunft das Wort reden, bietet der Band doch jede Menge Diskussionsstoff, meint Mair. So lässt ihn das Fehlen einer kritischen Auseinandersetzung mit den Nebenwirkungen der digitalen Medizin im Buch eben darüber nachdenken. Die (notwendige) Debatte hält Mair für eröffnet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2021Digitale Medizin
Ein Band über kommende Umbrüche im Gesundheitssystem
Wer länger lebt, ist länger krank. Langlebigkeit ist die Wurzel der finanziellen Misere des Gesundheitswesens. Wie wir gerade schmerzlich erfahren, sind die übertragbaren Krankheiten längst nicht ausgestorben. Doch haben die Autoren des vorliegenden Bandes schon recht: Es sind die chronischen, nicht übertragbaren Krankheiten, an denen selbst in Zeiten der Pandemie die Mehrzahl der Menschen leidet. Diabetes, Krebs, Herzkrankheiten, Atemwegserkrankungen sind die großen Themen der Medizin. Im Falle der Krebserkrankungen sprechen Experten von einem Tsunami, der das Gesundheitswesen zu ertränken droht. Immer mehr Menschen erreichen ein Alter, in dem sie ihren Tumor noch erleben.
Das Autorenteam, ein Pharmamanager, zwei Professoren für Management mit den Schwerpunkten Technologie und Marketing, unterstützt von einer Doktorandin, laden ein zu einer Reise in die Zukunft des Gesundheitswesens. Die neuen digitalen Technologien sollen es, gleich einer digitalen Pille, vor dem Kollaps angesichts explodierender Kosten retten.
Jedem der Kapitel stellen die Autoren Thesen voran, wobei nicht alle diesen Namen verdienen. So werden auch empirische Befunde als These deklariert. Im ersten Teil wird das Dilemma der heutigen Medizin rekapituliert, das schnurstracks in die Fortschrittsfalle führt. Die großen, schon erwähnten Killer-Krankheiten werden erklärt. Tabakrauchen und Bewegungsmangel sind schlecht. Wer seine "Apotheken-Rundschau" gelesen hat, kann das - wie von den Autoren selbst angeraten - überspringen.
Wie digitale Technologien die Praxis der Medizin verändern, vermutlich in naher Zukunft revolutionieren werden, wird anhand einer Liste von "Wirkmustern" digitaler Anwendungen beleuchtet. Sie reicht von der Selbstberatung im Internet über digitale Arzthelfer und Zeit wie Personal sparende Konsultation in einer unbemannten "Mini-Klinik" bis zur kompletten Aufzeichnung aller Lebensäußerungen von Personen durch Wearables.
Das ist faszinierend. Röntgenärzte müssen keine Bilder, Hautärzte keine Leberflecken begutachten. Algorithmen Künstlicher Intelligenz vermögen das exakter und zudem rascher. Dem Leser wird eine Fülle von Apps, digitalen Einrichtungen, Plattformen und anderem mehr vorgestellt. Ärzte werden nicht überflüssig, aber sie werden anders tätig sein, prognostizieren die Autoren. Mehr Zeit für die Patienten, tätig werden erst dann, wenn die Kranken eine helfende Hand benötigen.
Die Autoren sind vom bevorstehenden Wandel der Medizin derart euphorisiert, dass der kritische Blick leidet. Dieser Eindruck verfestigt sich bei der Durchsicht der Literatur im Anhang. Es finden sich hier zahlreiche Internetadressen der Websites von Start-ups und Wirtschaftsmagazinen. Dort werden digitale Ideen hoch gehandelt. Kritik und Zweifel wird man eher nicht finden. Geschwärmt wird von den Möglichkeiten, die eine komplette Aufzeichnung aller Lebensäußerungen, die Erfassung der Reale-Welt-Daten, eröffnet. Risikofaktoren für Krankheiten, Komplikationen einer Behandlung ließen sich rasch erkennen, die Betroffenen könnten unmittelbar und die Helfer online intervenieren. Doch die Nebenfolgen solcher Vermessung der Lebenswelt, die totale Medikalisierung des Daseins, wird allenfalls beiläufig thematisiert.
Immerhin wollen sich die Autoren mit "einigen ethischen Gedanken" den Herausforderungen des digitalen Wandels nähern. Die sind vergleichsweise schlicht gehalten. Die Erläuterungen zum Begriff Medizinethik geben nicht mehr her als eine Aufzählung von vier als Georgetown-Mantra bekannten Prinzipien, die als kommunikatives Instrument zur Lösung von Konflikten in der klinischen Praxis geläufig sind. Einschlägige und höchst differenzierte Stellungnahmen wie die der European Group on Ethics in Science and Technology werden nicht erwähnt.
Dem Appell schließlich, Kinder und Jugendliche sollten zu mehr sportlicher Betätigung angehalten werden, stimmt der Rezensent gerne zu, ohne einzusehen, wozu es dazu eine digitale Pille braucht. Den Ratschlag, Schüler sollten sich im Unterricht weniger mit Biologie, Chemie und Physik befassen, nimmt man dagegen konsterniert zur Kenntnis. Der sagt mehr über den Bildungsbegriff von Managern des Digitalen, als dass er der Medizin den Weg in eine nachhaltige Zukunft weist.
STEPHAN SAHM
E. Fleisch, C. Franz,
A. Herrmann und
A. Mönninghoff: "Die digitale Pille". Eine Reise in die
Zukunft unseres Gesundheitssystems.
Campus Verlag,
Frankfurt am Main 2021. 288 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Band über kommende Umbrüche im Gesundheitssystem
Wer länger lebt, ist länger krank. Langlebigkeit ist die Wurzel der finanziellen Misere des Gesundheitswesens. Wie wir gerade schmerzlich erfahren, sind die übertragbaren Krankheiten längst nicht ausgestorben. Doch haben die Autoren des vorliegenden Bandes schon recht: Es sind die chronischen, nicht übertragbaren Krankheiten, an denen selbst in Zeiten der Pandemie die Mehrzahl der Menschen leidet. Diabetes, Krebs, Herzkrankheiten, Atemwegserkrankungen sind die großen Themen der Medizin. Im Falle der Krebserkrankungen sprechen Experten von einem Tsunami, der das Gesundheitswesen zu ertränken droht. Immer mehr Menschen erreichen ein Alter, in dem sie ihren Tumor noch erleben.
Das Autorenteam, ein Pharmamanager, zwei Professoren für Management mit den Schwerpunkten Technologie und Marketing, unterstützt von einer Doktorandin, laden ein zu einer Reise in die Zukunft des Gesundheitswesens. Die neuen digitalen Technologien sollen es, gleich einer digitalen Pille, vor dem Kollaps angesichts explodierender Kosten retten.
Jedem der Kapitel stellen die Autoren Thesen voran, wobei nicht alle diesen Namen verdienen. So werden auch empirische Befunde als These deklariert. Im ersten Teil wird das Dilemma der heutigen Medizin rekapituliert, das schnurstracks in die Fortschrittsfalle führt. Die großen, schon erwähnten Killer-Krankheiten werden erklärt. Tabakrauchen und Bewegungsmangel sind schlecht. Wer seine "Apotheken-Rundschau" gelesen hat, kann das - wie von den Autoren selbst angeraten - überspringen.
Wie digitale Technologien die Praxis der Medizin verändern, vermutlich in naher Zukunft revolutionieren werden, wird anhand einer Liste von "Wirkmustern" digitaler Anwendungen beleuchtet. Sie reicht von der Selbstberatung im Internet über digitale Arzthelfer und Zeit wie Personal sparende Konsultation in einer unbemannten "Mini-Klinik" bis zur kompletten Aufzeichnung aller Lebensäußerungen von Personen durch Wearables.
Das ist faszinierend. Röntgenärzte müssen keine Bilder, Hautärzte keine Leberflecken begutachten. Algorithmen Künstlicher Intelligenz vermögen das exakter und zudem rascher. Dem Leser wird eine Fülle von Apps, digitalen Einrichtungen, Plattformen und anderem mehr vorgestellt. Ärzte werden nicht überflüssig, aber sie werden anders tätig sein, prognostizieren die Autoren. Mehr Zeit für die Patienten, tätig werden erst dann, wenn die Kranken eine helfende Hand benötigen.
Die Autoren sind vom bevorstehenden Wandel der Medizin derart euphorisiert, dass der kritische Blick leidet. Dieser Eindruck verfestigt sich bei der Durchsicht der Literatur im Anhang. Es finden sich hier zahlreiche Internetadressen der Websites von Start-ups und Wirtschaftsmagazinen. Dort werden digitale Ideen hoch gehandelt. Kritik und Zweifel wird man eher nicht finden. Geschwärmt wird von den Möglichkeiten, die eine komplette Aufzeichnung aller Lebensäußerungen, die Erfassung der Reale-Welt-Daten, eröffnet. Risikofaktoren für Krankheiten, Komplikationen einer Behandlung ließen sich rasch erkennen, die Betroffenen könnten unmittelbar und die Helfer online intervenieren. Doch die Nebenfolgen solcher Vermessung der Lebenswelt, die totale Medikalisierung des Daseins, wird allenfalls beiläufig thematisiert.
Immerhin wollen sich die Autoren mit "einigen ethischen Gedanken" den Herausforderungen des digitalen Wandels nähern. Die sind vergleichsweise schlicht gehalten. Die Erläuterungen zum Begriff Medizinethik geben nicht mehr her als eine Aufzählung von vier als Georgetown-Mantra bekannten Prinzipien, die als kommunikatives Instrument zur Lösung von Konflikten in der klinischen Praxis geläufig sind. Einschlägige und höchst differenzierte Stellungnahmen wie die der European Group on Ethics in Science and Technology werden nicht erwähnt.
Dem Appell schließlich, Kinder und Jugendliche sollten zu mehr sportlicher Betätigung angehalten werden, stimmt der Rezensent gerne zu, ohne einzusehen, wozu es dazu eine digitale Pille braucht. Den Ratschlag, Schüler sollten sich im Unterricht weniger mit Biologie, Chemie und Physik befassen, nimmt man dagegen konsterniert zur Kenntnis. Der sagt mehr über den Bildungsbegriff von Managern des Digitalen, als dass er der Medizin den Weg in eine nachhaltige Zukunft weist.
STEPHAN SAHM
E. Fleisch, C. Franz,
A. Herrmann und
A. Mönninghoff: "Die digitale Pille". Eine Reise in die
Zukunft unseres Gesundheitssystems.
Campus Verlag,
Frankfurt am Main 2021. 288 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Gesundheit geht jeden an: Und dieses Buch gibt faszinierende Einblicke in die Zukunft des Gesundheitswesens. Leicht verständlich und beeindruckend.« Management-Journal, 08.03.2021 »Wir brauchen mehr Wissen über Chancen, Risiken und Nebenwirkungen denn je. 'Die digitale Pille' ist schon allein dafür lohnenswerter Lesestoff.« Martin Mair, Deutschlandfunk Kultur Lesart, 05.06.2021 »Mit ihrem Buch 'Die Digitale Pille' ist den Autoren ein kurzweiliger, weil anschaulich, vielseitig und informativ, und systematischer Überblick über digitale Geschäftsmodelle in der Gesundheitsversorgung gelungen.« Alexis Fritz, Zeitschrift für medizinische Ethik, 69/2023