Auf fünf Erdteilen war Roger Willemsen unterwegs, um seine ganz persönlichen Enden der Welt zu finden. Manchmal waren es die großen geographischen: das Kap von Südafrika, Patagonien, der Himalaja, die Südseeinseln von Tonga, der Nordpol. Manchmal waren es aber auch ganz einzigartige, individuelle Endpunkte: eine Bahnstation in Birma, ein Bett in Minsk, ein Fresko des Jüngsten Gerichts in Orvieto, eine Behörde im kriegszerrütteten Kongo. Immer aber geht es in diesen grandiosen literarischen Reisebildern auch um ein Enden in anderem Sinn: um ein Ende der Liebe und des Begehrens, der Illusionen, der Ordnung und Verständigung. Um das Ende des Lebens - und um den Neubeginn. "Heute waren die Wolken eine Sehenswürdigkeit, nicht geringer als die Berge. Von ihrem Anblick ruhte ich mich aus, bis ich hungrig wurde. Da war es vier Uhr früh, alles schlief, und ich tappte durch die Gänge. Um halb sieben Uhr fiel mir eine Frau aus dem Aufzug entgegen, betäubt von Insektenspray. Ich hielt sie kurz im Arm. Glücklich fühlten wir uns beide nur, weil der Insektenspray so stark war. 'In dieser Gegend', sagte sie, 'entwickeln sich alle Dinge dramatisch."
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010Weg mit dem Ich
Google-Earth-Impressionismus: Roger Willemsen bereist mit riskanter Agenda "Die Enden der Welt" und träumt vom Selbstverlust.
Von Daniel Haas
Wer die Reiserouten der Gemeinplätze durch unseren Sprachgebrauch nachzeichnen wollte, müsste auch diesen Topos verfolgen: dass Erfahrung immer etwas mit Fahren und Weiterkommen zu tun hat. Die Etymologie, die vorzugsweise Autokonzerne zu Werbeslogans inspiriert ("Kompetenz erfahren!"), wurde auch von Roger Willemsen bemüht: In einer Vorlesung an der Berliner Humboldt-Universität sprach er von der Fortbewegung und wie sie uns seit jeher mit dem Wissenserwerb verbunden erscheint.
Das Referat handelte von der Phänomenologie des Reisens und musste demnach als flankierende Maßnahme zur Buchpublikation aufgefasst werden. Und schon stand eine Drohung im Raum: Der 542 Seiten starke Expeditionsbericht "Die Enden der Welt" würde womöglich eine weitgespannte Entdeckungstournee des medienerprobten Kulturträgers sein, eine Tour de force der Aus- und Einsichten, an deren Ende das erreicht wäre, was Susan Sontag einmal hämisch einen angewandten Hegelianismus nannte: "sich selbst im andern zu finden".
Umso überraschender, dass sich hier kein dialektischer Narzissmus in Szene setzt, sondern ein Autor mit einer wirklich riskanten Agenda reist: Statt neue Erkenntnisse über die Welttopographie einzusammeln, fährt dieser Erzähler der Auslöschung entgegen. Das Ziel heißt Ich-Verlust, nicht Selbstbestätigung, und deshalb ist das Werk als Fahrtenbuch annähernd unbrauchbar, als Roman aber fulminant.
Fünf Erdteile hat der Autor bereist, 22 Stationen absolviert, der Parcours versammelt so ziemlich jede entlegene Weltgegend, in der sich ein Literat als Forscher und Abenteurer bewähren kann. Es geht von Gibraltar nach Island, von Minsk nach Patagonien, Timbuktu und Bombay stehen auf dem Programm, Kamtschatka und Mandalay. Überall spürt der Erzähler anthropologische Extreme auf, kulturelle Kuriositäten, soziale Bizarrerien. In Indien lässt er sich von Eunuchen segnen, im Kongo gerät er in die Mühlen kafkaesker Behörden, in Katmandu hat er ein Tête-à-tête mit Geistern und Scheintoten.
Aber als touristisches Panorama taugen diese Texte ebenso wenig wie ein Armutsbericht der UN oder eine Doktorarbeit zum Thema ethnische Diversität. Sie sind, in ihrer literarischen Dichte, viel eher Tableaus des Fremden, wie es sich eine verzweifelte Phantasie ausmalt. Verzweifelt? Die Stimme dieser Prosa kann man nicht anders nennen: Sie drängt, hastet, wühlt sich in überwältigender Beschreibungsintensität ins Andere. Willemsen hat von einem "Rausch der Genauigkeit" gesprochen, und genau dies ist das Verfahren: ein Verdichtungsfuror, der sich die Textur des Unbekannten erschließen will, als gelte es, der fremden Wirklichkeit Stoffproben zu entnehmen und einem zu Hause ans Bett Gefesselten zurückzubringen.
Es gibt diesen Kranken tatsächlich, er erscheint gleich im ersten Kapitel: Da trifft der Autor einen tumorkranken Jungen im Hospital. "Mir ist langweilig", sagt das Kind, und in diesen Hohlraum der Tristesse drängt die Erzählung. So beginnt das Buch bereits am Ende einer Welt, dort, wo eine Lebensreise abbricht. An diesen Ort wird die Imagination in der letzten Erzählung zurückkehren, auf dem Umweg über die Eiswüsten der Polarregion, in deren blendender Weiße sich die Decke des Krankenzimmers spiegelt. Der Tod rahmt diesen Kosmos, sagt die Dramaturgie, und keine noch so mutige Expansion wird dieser Einsicht je entgehen. Hierin liegt die moralische Integrität, ja die Demut des Buchs. Wenn Reisen nur eine Bewegung zwischen den Hinfälligkeiten ist, dann wird man sich mit Respekt und zugleich Skepsis, spekulativer Distanz und artistischem Eifer dem Unbekannten nähern. Das Eigene in der Dämonisierung des Anderen aufwerten kommt ebenso wenig in Frage wie eine Vanitas-Romantik, die die Welt dort am schönsten erfährt, wo sie am dekadentesten ist.
Vielmehr geht es um eine Besichtigung des Globus aus der Perspektive der Resignation. Dieser Reisende weiß, dass das Ich ein Hemmschuh ist beim Wandern und man Ideen- und Meinungsballast abwerfen muss, so gut es geht. Am glücklichsten ist der Vagabund deshalb immer dann, wenn sich die bildersatte Realität zu geisterhaften Zonen verflüchtigt. Das kann im isländischen Isafjördur sein, wo "kontemplative Gegenden zum Verschwinden einladen"; in Patagonien, das als Region beschrieben wird für "Menschen, die sich wegwenden, aus der Gemeinschaft heraus". In der Sahara zerstäubt das Reisen in Desorientierung, "eine Flucht ohne Fluchtpunkt"; die ehemalige Sklaveninsel Gorré erscheint als "Ort der Ratlosigkeit", der das Verlangen nährt, "nicht zu sein".
"Was hat sie hierher verschlagen?", lässt sich der Erzähler schließlich im indonesischen Toraja fragen. "Die Lust zu verschwinden", lautet die Antwort. "Wie ein Schatten." Entkernung, Ausdünnung ist also die Idee, und dass ausgerechnet Willemsen, die mit Prominenz und Aufmerksamkeit imprägnierte Medienfigur, sich erzählend derart der Auslöschung hingeben kann, das ist ein schönes Paradox des Texts.
Ein anderes ist die Gier der Darstellung, die doch nur dazu dient, in einen Bereich jenseits der Erkenntnis vorzudringen. Von der Todeskammer des Kindes ausgehend soll der Vergänglichkeit in der Zeit das Erlebnis des Raums entgegengesetzt werden. Dieser Raum aber erscheint am suggestivsten, wenn er als Bühne des Selbstvergessens in Erscheinung tritt.
Buchstäblich berauschend ist deshalb die Schilderung eines Opiumrituals in Thailand, weil hier das Verfahren zu sich selbst kommt: Das Paradies, verstanden als Alpha und Omega menschlicher Erfahrung, kann nur künstlich sein; ein wahrer Reisender ist, wer sich den Traumpfaden des Unbewussten überlässt. Von allen Authentizitätsgesten gereinigt, erscheint diese Fahrt wirklich als eine zum Ende - des Ich.
Fiese Volte des Projekts: Ausgerechnet der literarische Impressionismus rückt streckenweise bedenklich nah an sein technologisches Gegenstück: die Registrier- und Inspektionsmethoden, wie sie mit Google Earth prägend für die touristische Erfassung der Welt geworden sind. Das Mäandern durch die Kulissen der Imagination hat mehr vom Klick-Trip über den Globus, als ihm lieb sein kann. Die wahllos zerstreute Schau der Weltgegenden via Satellit und die sprunghafte Introspektion folgen derselben Logik.
Deshalb empfiehlt es sich, das Buch in Etappen zu bereisen, als Episodenroman. In solcher Dosierung ist jede Folge ein Drama mit dem Reisenden als tragischem Helden. Er will weg und kann sich selbst doch nicht entkommen. Er träumt vom Ende der Welt und erwacht stets am Ausgang einer neuen Fahrt. Nichts, was wir nicht schon von anderen Schriftstellern erfahren hätten. Wenn aber so virtuos davon erzählt wird, ist es immer wieder bewegend.
Roger Willemsen: "Die Enden der Welt". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 542 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Google-Earth-Impressionismus: Roger Willemsen bereist mit riskanter Agenda "Die Enden der Welt" und träumt vom Selbstverlust.
Von Daniel Haas
Wer die Reiserouten der Gemeinplätze durch unseren Sprachgebrauch nachzeichnen wollte, müsste auch diesen Topos verfolgen: dass Erfahrung immer etwas mit Fahren und Weiterkommen zu tun hat. Die Etymologie, die vorzugsweise Autokonzerne zu Werbeslogans inspiriert ("Kompetenz erfahren!"), wurde auch von Roger Willemsen bemüht: In einer Vorlesung an der Berliner Humboldt-Universität sprach er von der Fortbewegung und wie sie uns seit jeher mit dem Wissenserwerb verbunden erscheint.
Das Referat handelte von der Phänomenologie des Reisens und musste demnach als flankierende Maßnahme zur Buchpublikation aufgefasst werden. Und schon stand eine Drohung im Raum: Der 542 Seiten starke Expeditionsbericht "Die Enden der Welt" würde womöglich eine weitgespannte Entdeckungstournee des medienerprobten Kulturträgers sein, eine Tour de force der Aus- und Einsichten, an deren Ende das erreicht wäre, was Susan Sontag einmal hämisch einen angewandten Hegelianismus nannte: "sich selbst im andern zu finden".
Umso überraschender, dass sich hier kein dialektischer Narzissmus in Szene setzt, sondern ein Autor mit einer wirklich riskanten Agenda reist: Statt neue Erkenntnisse über die Welttopographie einzusammeln, fährt dieser Erzähler der Auslöschung entgegen. Das Ziel heißt Ich-Verlust, nicht Selbstbestätigung, und deshalb ist das Werk als Fahrtenbuch annähernd unbrauchbar, als Roman aber fulminant.
Fünf Erdteile hat der Autor bereist, 22 Stationen absolviert, der Parcours versammelt so ziemlich jede entlegene Weltgegend, in der sich ein Literat als Forscher und Abenteurer bewähren kann. Es geht von Gibraltar nach Island, von Minsk nach Patagonien, Timbuktu und Bombay stehen auf dem Programm, Kamtschatka und Mandalay. Überall spürt der Erzähler anthropologische Extreme auf, kulturelle Kuriositäten, soziale Bizarrerien. In Indien lässt er sich von Eunuchen segnen, im Kongo gerät er in die Mühlen kafkaesker Behörden, in Katmandu hat er ein Tête-à-tête mit Geistern und Scheintoten.
Aber als touristisches Panorama taugen diese Texte ebenso wenig wie ein Armutsbericht der UN oder eine Doktorarbeit zum Thema ethnische Diversität. Sie sind, in ihrer literarischen Dichte, viel eher Tableaus des Fremden, wie es sich eine verzweifelte Phantasie ausmalt. Verzweifelt? Die Stimme dieser Prosa kann man nicht anders nennen: Sie drängt, hastet, wühlt sich in überwältigender Beschreibungsintensität ins Andere. Willemsen hat von einem "Rausch der Genauigkeit" gesprochen, und genau dies ist das Verfahren: ein Verdichtungsfuror, der sich die Textur des Unbekannten erschließen will, als gelte es, der fremden Wirklichkeit Stoffproben zu entnehmen und einem zu Hause ans Bett Gefesselten zurückzubringen.
Es gibt diesen Kranken tatsächlich, er erscheint gleich im ersten Kapitel: Da trifft der Autor einen tumorkranken Jungen im Hospital. "Mir ist langweilig", sagt das Kind, und in diesen Hohlraum der Tristesse drängt die Erzählung. So beginnt das Buch bereits am Ende einer Welt, dort, wo eine Lebensreise abbricht. An diesen Ort wird die Imagination in der letzten Erzählung zurückkehren, auf dem Umweg über die Eiswüsten der Polarregion, in deren blendender Weiße sich die Decke des Krankenzimmers spiegelt. Der Tod rahmt diesen Kosmos, sagt die Dramaturgie, und keine noch so mutige Expansion wird dieser Einsicht je entgehen. Hierin liegt die moralische Integrität, ja die Demut des Buchs. Wenn Reisen nur eine Bewegung zwischen den Hinfälligkeiten ist, dann wird man sich mit Respekt und zugleich Skepsis, spekulativer Distanz und artistischem Eifer dem Unbekannten nähern. Das Eigene in der Dämonisierung des Anderen aufwerten kommt ebenso wenig in Frage wie eine Vanitas-Romantik, die die Welt dort am schönsten erfährt, wo sie am dekadentesten ist.
Vielmehr geht es um eine Besichtigung des Globus aus der Perspektive der Resignation. Dieser Reisende weiß, dass das Ich ein Hemmschuh ist beim Wandern und man Ideen- und Meinungsballast abwerfen muss, so gut es geht. Am glücklichsten ist der Vagabund deshalb immer dann, wenn sich die bildersatte Realität zu geisterhaften Zonen verflüchtigt. Das kann im isländischen Isafjördur sein, wo "kontemplative Gegenden zum Verschwinden einladen"; in Patagonien, das als Region beschrieben wird für "Menschen, die sich wegwenden, aus der Gemeinschaft heraus". In der Sahara zerstäubt das Reisen in Desorientierung, "eine Flucht ohne Fluchtpunkt"; die ehemalige Sklaveninsel Gorré erscheint als "Ort der Ratlosigkeit", der das Verlangen nährt, "nicht zu sein".
"Was hat sie hierher verschlagen?", lässt sich der Erzähler schließlich im indonesischen Toraja fragen. "Die Lust zu verschwinden", lautet die Antwort. "Wie ein Schatten." Entkernung, Ausdünnung ist also die Idee, und dass ausgerechnet Willemsen, die mit Prominenz und Aufmerksamkeit imprägnierte Medienfigur, sich erzählend derart der Auslöschung hingeben kann, das ist ein schönes Paradox des Texts.
Ein anderes ist die Gier der Darstellung, die doch nur dazu dient, in einen Bereich jenseits der Erkenntnis vorzudringen. Von der Todeskammer des Kindes ausgehend soll der Vergänglichkeit in der Zeit das Erlebnis des Raums entgegengesetzt werden. Dieser Raum aber erscheint am suggestivsten, wenn er als Bühne des Selbstvergessens in Erscheinung tritt.
Buchstäblich berauschend ist deshalb die Schilderung eines Opiumrituals in Thailand, weil hier das Verfahren zu sich selbst kommt: Das Paradies, verstanden als Alpha und Omega menschlicher Erfahrung, kann nur künstlich sein; ein wahrer Reisender ist, wer sich den Traumpfaden des Unbewussten überlässt. Von allen Authentizitätsgesten gereinigt, erscheint diese Fahrt wirklich als eine zum Ende - des Ich.
Fiese Volte des Projekts: Ausgerechnet der literarische Impressionismus rückt streckenweise bedenklich nah an sein technologisches Gegenstück: die Registrier- und Inspektionsmethoden, wie sie mit Google Earth prägend für die touristische Erfassung der Welt geworden sind. Das Mäandern durch die Kulissen der Imagination hat mehr vom Klick-Trip über den Globus, als ihm lieb sein kann. Die wahllos zerstreute Schau der Weltgegenden via Satellit und die sprunghafte Introspektion folgen derselben Logik.
Deshalb empfiehlt es sich, das Buch in Etappen zu bereisen, als Episodenroman. In solcher Dosierung ist jede Folge ein Drama mit dem Reisenden als tragischem Helden. Er will weg und kann sich selbst doch nicht entkommen. Er träumt vom Ende der Welt und erwacht stets am Ausgang einer neuen Fahrt. Nichts, was wir nicht schon von anderen Schriftstellern erfahren hätten. Wenn aber so virtuos davon erzählt wird, ist es immer wieder bewegend.
Roger Willemsen: "Die Enden der Welt". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 542 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main