Ein sehr persönlicher Text - vom Autor selbst interpretiert. Als einziges überlebendes Kind seiner Eltern wächst Johannes Catt im Köln der Nachkriegszeit auf. Nach dem Verlust seiner vier Brüder ist die Mutter stumm geworden. Auch das Kind lernt nur zögernd sprechen und bleibt lange Zeit ein Außenseiter. Nur das Klavierspielen macht ihm Spaß. Doch seine Karriere als Pianist scheitert. Nach unglaublichen Höhen und tiefen Abstürzen findet Catt schließlich im Schreiben seinen Weg... In seinem neuen, autobiographisch inspirierten Roman erzählt Hanns-Josef Ortheil die Geschichte eines jahrelang stummen Kindes, dessen Eltern im Krieg und in der Nachkriegszeit vier Söhne verloren haben. Zusammen mit der ebenfalls stummen Mutter wächst es in einer künstlichen Schutzzone auf, aus der es sich erst langsam durch das geliebte Klavierspiel und den unorthodoxen Sprachunterricht des Vaters befreien kann. Doch die Befreiung ist schmerzhaft. Sie führt den Jungen auf lange, einsame Reisen durch Deutschland und in einem letzten Befreiungsakt schließlich nach Rom. Dort wird er ein erfolgreicher Pianist, der Freundschaften schließt und sogar ein Liebesverhältnis eingeht. Diese Bindungen aber zerreißen, und auch die Pianistenkarriere muss aufgegeben werden. Nach der Rückkehr nach Deutschland macht ihm ein früherer Lehrer den faszinierenden Vorschlag, es mit dem Schreiben zu versuchen … In Anlehnung an die großen Bildungsromane der deutschen Literatur entwirft dieser auch historisch weit ausholende Roman eine Biographie, die nach jedem Rückschlag wieder ganz neu erfunden werden muss. Entstanden ist dabei die ergreifende Geschichte von einem jungen Pianisten und späteren Schriftsteller, deren am Ende glücklicher Verlauf an ein Wunder grenzt.
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"Und er liest ihn selbst so fein und melodiös, als wolle er seine Geschichte lieber singen als sprechen."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2016Jedes Ding wird bestimmt wie seltene Pflanzen
Die Welt zu Wörtern und umgekehrt: Hanns-Josef Ortheil erzählt in seinem autobiographischen Roman "Der Stift und das Papier" von einem Vater, der seinen Sohn über das Schreiben in die Welt bringt.
Hanns-Josef Ortheil, geboren 1951, ist der Schriftsteller, der nicht sprach. In "Die Erfindung des Lebens" (2009) erzählt er eindrucksvoll, wie er im dritten Lebensjahr verstummt war, zusammen mit der Mutter. Sie hatte während des Krieges und danach vier Söhne verloren. Vielleicht imitierte er sie. Vielleicht körperte sich die Trauer der Mutter tief in den einzig verbliebenen Sohn ein. Wie aber fand "das mutistische Kind", so die heute gebräuchliche, kühle Diagnose, in das Sprechen wieder hinein und wurde schließlich der renommierte Autor so vieler Romane, die das Leben besingen?
Das erzählt nun "Der Stift und das Papier", ein Buch, allen Vätern ans Herz gelegt, obwohl die Geschichte als Gegenpart genauso unbedingt auch den guten Sohn braucht. Es ist also die Geschichte vom guten Vater und vom guten Sohn. Sie beginnt im Westerwald, wo der Vater gerne in seiner Jagdhütte sitzt und großformatige Baupläne für seine Arbeit als Geodät, als Vermesser zeichnet. Ein heiliger Ort, den der Sohn normalerweise nicht betritt. Diese besonderen Sommerferien aber doch. Es gab nämlich zuvor in Köln, wo man zu dritt wohnt, ein Lehrergespräch, an dessen Ende dem Vater mitgeteilt wurde, dass es so nicht ginge mit dem Sohn in der ersten Volksschulklasse. Er hatte zwar wieder zu sprechen begonnen, von einem Tag auf den anderen, nachdem der Vater mit ihm viel Zeit im Wald verbrachte und ihn alles, was er sah, zeichnen ließ. Aber der Junge komme nicht mit. Er müsse Lesen und Schreiben lernen und ansonsten in die Sonderschule.
Der Vater lässt sich davon keineswegs unter Druck setzen. Er gibt den Druck auch nicht an den Sohn weiter. Im Gegenteil schafft er in den anstehenden Ferienwochen in der Jagdhütte aus Geduld, Beziehung und Zurücknahme seiner selbst eine besondere Atmosphäre. Zunächst allein durch Pauspapier, das er auf den Tisch heftet. Hanns-Josef darf Kreise darauf malen, so viele, bis sie ein Himmel sind, mit farbigen Buntstiften und Bleistiften, die gut in der Hand liegen. Warum nicht einfach den Bleistift beschreiben? "Hauchdünn" steht darauf, ein schönes Wort. Im Hintergrund läuft Klaviermusik, ein bisschen Bach, ein wenig Händel. Essen und Trinken bleiben draußen. Die Jagdhütte ist ein Raum der Konzentration und bald auch der Kontemplation. Einige Stunden und Tage und Wochen später hat der Junge so viel Gemüse abgezeichnet, Radieschen, Rettiche, Kürbisse, das Wetter beschrieben und was er am Morgen gefrühstückt hat, dass sich neben dem Arbeitstisch im Wandregal kleine, quadratisch ausgeschnittene Zettel stapeln, "ein Archiv", freut sich der Vater, und der Sohn fragt nach: "Ein Archiv?"
Hier nun muss man kurz innehalten, um wirklich würdigen zu können, was diesen Vater auszeichnet. Er hebt jetzt nicht etwa bescheidwisserisch mit Erklärungen und Definitionen darüber an, was ein Archiv sei, sondern sagt schlicht: Beschreib es doch einmal, in deinen eigenen Worten. Die Formulierung, die sich dann findet, ist so schön und genau, dass sie aufgeschrieben gehört, "damit wir sie nicht vergessen", und man merkt schon: Da ist er, der Keim jener Besessenheit, die Schriftsteller auszeichnet, Ortheil insbesondere, der bis heute wahrnehmend und aufschreibend lebt. Diese Lebensform scheint hier gegossen, in der Jagdhütte zwischen Stift und Pauspapier, in der Beziehung zwischen einem Vater und seinem Sohn. Ist genug gearbeitet in der Schreibschule, tönt nicht etwa ein Pausengong, sondern der Vater sagt: Jetzt wollen wir alles eine Weile vergessen. Dann freuen wir uns später umso mehr.
Die Lebenswirklichkeit des Jungen erhält in diesen von ihm selbst gefundenen ureigenen, genauen Formulierungen eine Tiefenschärfe, wie sie kein Schulbuch mit langweiligen Diktaten vermitteln kann. Alles ist für ihn plötzlich greifbar, so, als baumelten an jedem Ding und jedem Gedanken einzelne, beschriftete und bemalte Schilder. So beschreibt es Ortheil einmal. Und man kann sich die Konfusion und Dunkelheit der "unheimlichen Zeit" davor nur annähernd ausmalen, wenn er andeutet, er habe sich ein Küken grün vorgestellt, wegen des gemeinsamen Lauts "ü". Noch heute habe er Angst, dass dieser Zustand wieder beginnt. Diese Angst schlägt die Brücke in eine Vergangenheit, die selbst wie durch Pauspapier sichtbar wird: leicht verschleiert, weil einem der Verstand beim Lesen streberhaft zuflüstert, dass Erinnern auch Umbauen und Neuordnen bedeutet. Aber warum auch nicht? Und wie schon in den anderen autobiographisch gefärbten Büchern, "Die Moselreise" oder "Das Kind, das nicht fragte", ist alles leicht und behutsam und mit einer Langsamkeit erzählt, die dem faszinierenden Vorgang des Ins-Leben-Gehens angemessen erscheint. Ortheil muss sich dabei nicht einmal anstrengen. Er ist wieder "das Kind, das schreibt" und muss nicht in dritter Person erzählen, wie noch in der "Erfindung des Lebens". Er schreibt dieses Buch in der Jagdhütte, und alles ist in rascher Folge wieder da.
Gerade weil es nie ums Erfinden, nie ums Schriftstellerwerden ging, hatte diese unbefangene Schreibschule des Vaters große Wirkung. Zum einen traf sie überraschenderweise auf einen wortbereiten und wortbegeisterten, mitmachenden Sohn und dessen Formuliertalent. Zum andern lebte sie von ungewöhnlichen Ideen. Heute würde man sagen: Sie installierte Kulturtechniken. Die Ortheils sprachen von "Tagesseiten", die sie aus den gesammelten Papieren mit ausgeschnittenen, selbstbeschrifteten Lieblingszeitungsfotos erstellten: Verdichtungen bis zum "Wochengedicht", das sieben Tage in wenigen Zeilen erinnerbar machte. Man kann diese wachsende Chronik hervorholen und anschauen. Auch dafür wird extra Zeit einberaumt. Dem Jungen, der zuvor in der Zeit schwamm, gibt die in eigenen Worten festgehaltene Zeit neuen Halt. Bis heute pflegt Ortheil Tagesnotizen, die Material für Romane werden können. Die Lehrstunden zum kreativen Schreiben an der Hildesheimer Universität, an welcher er seit 1990 unterrichtet, sind möglicherweise auch ein Vater-Memorial.
Fast entschuldigend fällt das Wort "genial". Der Vater, der in der "Moselreise" seinen Sohn durch Ortswechsel rettete, schien pädagogische mit psychologischen Fähigkeiten spielerisch vereint zu haben. Vor allem aber hat er eine funktionierende Beziehung zur Verfügung gestellt. Und so kann die Privatschule, die keinem Kanon dient, ausgebaut werden. Erste Dialoge und Szenen entstehen. Besondere Wörter wie "Haudegen" werden "bestimmt" wie seltene Pflanzen. Die Welt wird zu Wörtern und umgekehrt. Man vergisst fast, dass alles aus der Not geboren war, dass es nie um Literatur, sondern ums "Normalwerden" gegangen war. Die Prüfung zum Schuljahresbeginn besteht der gelehrige Schüler mit links. Verzaubert aber hat ihn kein Lehrplan, sondern die Schreibzeit in der Hütte.
Gerade rechtzeitig stößt dieses Buch aus dem fast sakralen Raum einer gelingenden Vater-Sohn-Geschichte in die wortlosen Suchbewegungen des Heranwachsenden vor. Die bundesrepublikanischen Fünfziger staffieren diese Innenkulisse mit jener vergilbten Farbe aus, die dem Erzählten zuträglich ist. Der Junge, der schreibt, muss damit ja noch an die Öffentlichkeit. Erste Leserin ist die Mutter, zweite schon Andrea, eine Mitschülerin, der eher an heimlichen Treffen gelegen ist, was der Gleichaltrige naturgemäß nicht gleich begreift. Das heimliche Schreiben entzieht sich mit dem Erstabdruck dreier Miniaturen in der örtlichen Zeitung allmählich dem engen Kreis der Eltern. Die Loslösung beginnt. Bäckersfrauen und Metzger wissen nun vom "Kind, das schreibt". Geradezu befreiend wirkt Ortheils abschweifendes Erzählen entlang dieser Schreibbiographie hin zu Fragen um Ruhm, Medialisierung, Besessenheit. Er bewegt sich aus der "peniblen Exaktheit", welche die väterliche Statistikberechnung charakterisiert, in den weiten Raum der Reflexion und Selbstzweifel hinaus; vom Zirkelkasten der Jagdhütte in die leisen Verwirrungen neuer Hürden. Und das Kind wie das Buch beginnen zu atmen, als endlich von Mitschülern wie "Manni" die Rede ist, vom Schreiben für Zeitungen und zuletzt vom "Weiterschreiben" - schließlich auch gegen das Klavier, denn lange bleibt unentschieden, ob Ortheil Pianist wird oder Autor.
Man weiß, wie der Kampf ausgeht und hat manches in Variationen schon anderswo gelesen. Und doch berührt am Ende die Erkenntnis, dass Schreiben die Einsamkeit des stummen Kindes reinszeniert. Diesen dunklen Raum, den Kreativität zu entgrenzen vermag, erforscht "Der Stift und das Papier".
ANJA HIRSCH
Hanns-Josef Ortheil: "Der Stift und das Papier". Roman einer Passion.
Luchterhand Verlag, München 2015. 384 S., geb., 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Welt zu Wörtern und umgekehrt: Hanns-Josef Ortheil erzählt in seinem autobiographischen Roman "Der Stift und das Papier" von einem Vater, der seinen Sohn über das Schreiben in die Welt bringt.
Hanns-Josef Ortheil, geboren 1951, ist der Schriftsteller, der nicht sprach. In "Die Erfindung des Lebens" (2009) erzählt er eindrucksvoll, wie er im dritten Lebensjahr verstummt war, zusammen mit der Mutter. Sie hatte während des Krieges und danach vier Söhne verloren. Vielleicht imitierte er sie. Vielleicht körperte sich die Trauer der Mutter tief in den einzig verbliebenen Sohn ein. Wie aber fand "das mutistische Kind", so die heute gebräuchliche, kühle Diagnose, in das Sprechen wieder hinein und wurde schließlich der renommierte Autor so vieler Romane, die das Leben besingen?
Das erzählt nun "Der Stift und das Papier", ein Buch, allen Vätern ans Herz gelegt, obwohl die Geschichte als Gegenpart genauso unbedingt auch den guten Sohn braucht. Es ist also die Geschichte vom guten Vater und vom guten Sohn. Sie beginnt im Westerwald, wo der Vater gerne in seiner Jagdhütte sitzt und großformatige Baupläne für seine Arbeit als Geodät, als Vermesser zeichnet. Ein heiliger Ort, den der Sohn normalerweise nicht betritt. Diese besonderen Sommerferien aber doch. Es gab nämlich zuvor in Köln, wo man zu dritt wohnt, ein Lehrergespräch, an dessen Ende dem Vater mitgeteilt wurde, dass es so nicht ginge mit dem Sohn in der ersten Volksschulklasse. Er hatte zwar wieder zu sprechen begonnen, von einem Tag auf den anderen, nachdem der Vater mit ihm viel Zeit im Wald verbrachte und ihn alles, was er sah, zeichnen ließ. Aber der Junge komme nicht mit. Er müsse Lesen und Schreiben lernen und ansonsten in die Sonderschule.
Der Vater lässt sich davon keineswegs unter Druck setzen. Er gibt den Druck auch nicht an den Sohn weiter. Im Gegenteil schafft er in den anstehenden Ferienwochen in der Jagdhütte aus Geduld, Beziehung und Zurücknahme seiner selbst eine besondere Atmosphäre. Zunächst allein durch Pauspapier, das er auf den Tisch heftet. Hanns-Josef darf Kreise darauf malen, so viele, bis sie ein Himmel sind, mit farbigen Buntstiften und Bleistiften, die gut in der Hand liegen. Warum nicht einfach den Bleistift beschreiben? "Hauchdünn" steht darauf, ein schönes Wort. Im Hintergrund läuft Klaviermusik, ein bisschen Bach, ein wenig Händel. Essen und Trinken bleiben draußen. Die Jagdhütte ist ein Raum der Konzentration und bald auch der Kontemplation. Einige Stunden und Tage und Wochen später hat der Junge so viel Gemüse abgezeichnet, Radieschen, Rettiche, Kürbisse, das Wetter beschrieben und was er am Morgen gefrühstückt hat, dass sich neben dem Arbeitstisch im Wandregal kleine, quadratisch ausgeschnittene Zettel stapeln, "ein Archiv", freut sich der Vater, und der Sohn fragt nach: "Ein Archiv?"
Hier nun muss man kurz innehalten, um wirklich würdigen zu können, was diesen Vater auszeichnet. Er hebt jetzt nicht etwa bescheidwisserisch mit Erklärungen und Definitionen darüber an, was ein Archiv sei, sondern sagt schlicht: Beschreib es doch einmal, in deinen eigenen Worten. Die Formulierung, die sich dann findet, ist so schön und genau, dass sie aufgeschrieben gehört, "damit wir sie nicht vergessen", und man merkt schon: Da ist er, der Keim jener Besessenheit, die Schriftsteller auszeichnet, Ortheil insbesondere, der bis heute wahrnehmend und aufschreibend lebt. Diese Lebensform scheint hier gegossen, in der Jagdhütte zwischen Stift und Pauspapier, in der Beziehung zwischen einem Vater und seinem Sohn. Ist genug gearbeitet in der Schreibschule, tönt nicht etwa ein Pausengong, sondern der Vater sagt: Jetzt wollen wir alles eine Weile vergessen. Dann freuen wir uns später umso mehr.
Die Lebenswirklichkeit des Jungen erhält in diesen von ihm selbst gefundenen ureigenen, genauen Formulierungen eine Tiefenschärfe, wie sie kein Schulbuch mit langweiligen Diktaten vermitteln kann. Alles ist für ihn plötzlich greifbar, so, als baumelten an jedem Ding und jedem Gedanken einzelne, beschriftete und bemalte Schilder. So beschreibt es Ortheil einmal. Und man kann sich die Konfusion und Dunkelheit der "unheimlichen Zeit" davor nur annähernd ausmalen, wenn er andeutet, er habe sich ein Küken grün vorgestellt, wegen des gemeinsamen Lauts "ü". Noch heute habe er Angst, dass dieser Zustand wieder beginnt. Diese Angst schlägt die Brücke in eine Vergangenheit, die selbst wie durch Pauspapier sichtbar wird: leicht verschleiert, weil einem der Verstand beim Lesen streberhaft zuflüstert, dass Erinnern auch Umbauen und Neuordnen bedeutet. Aber warum auch nicht? Und wie schon in den anderen autobiographisch gefärbten Büchern, "Die Moselreise" oder "Das Kind, das nicht fragte", ist alles leicht und behutsam und mit einer Langsamkeit erzählt, die dem faszinierenden Vorgang des Ins-Leben-Gehens angemessen erscheint. Ortheil muss sich dabei nicht einmal anstrengen. Er ist wieder "das Kind, das schreibt" und muss nicht in dritter Person erzählen, wie noch in der "Erfindung des Lebens". Er schreibt dieses Buch in der Jagdhütte, und alles ist in rascher Folge wieder da.
Gerade weil es nie ums Erfinden, nie ums Schriftstellerwerden ging, hatte diese unbefangene Schreibschule des Vaters große Wirkung. Zum einen traf sie überraschenderweise auf einen wortbereiten und wortbegeisterten, mitmachenden Sohn und dessen Formuliertalent. Zum andern lebte sie von ungewöhnlichen Ideen. Heute würde man sagen: Sie installierte Kulturtechniken. Die Ortheils sprachen von "Tagesseiten", die sie aus den gesammelten Papieren mit ausgeschnittenen, selbstbeschrifteten Lieblingszeitungsfotos erstellten: Verdichtungen bis zum "Wochengedicht", das sieben Tage in wenigen Zeilen erinnerbar machte. Man kann diese wachsende Chronik hervorholen und anschauen. Auch dafür wird extra Zeit einberaumt. Dem Jungen, der zuvor in der Zeit schwamm, gibt die in eigenen Worten festgehaltene Zeit neuen Halt. Bis heute pflegt Ortheil Tagesnotizen, die Material für Romane werden können. Die Lehrstunden zum kreativen Schreiben an der Hildesheimer Universität, an welcher er seit 1990 unterrichtet, sind möglicherweise auch ein Vater-Memorial.
Fast entschuldigend fällt das Wort "genial". Der Vater, der in der "Moselreise" seinen Sohn durch Ortswechsel rettete, schien pädagogische mit psychologischen Fähigkeiten spielerisch vereint zu haben. Vor allem aber hat er eine funktionierende Beziehung zur Verfügung gestellt. Und so kann die Privatschule, die keinem Kanon dient, ausgebaut werden. Erste Dialoge und Szenen entstehen. Besondere Wörter wie "Haudegen" werden "bestimmt" wie seltene Pflanzen. Die Welt wird zu Wörtern und umgekehrt. Man vergisst fast, dass alles aus der Not geboren war, dass es nie um Literatur, sondern ums "Normalwerden" gegangen war. Die Prüfung zum Schuljahresbeginn besteht der gelehrige Schüler mit links. Verzaubert aber hat ihn kein Lehrplan, sondern die Schreibzeit in der Hütte.
Gerade rechtzeitig stößt dieses Buch aus dem fast sakralen Raum einer gelingenden Vater-Sohn-Geschichte in die wortlosen Suchbewegungen des Heranwachsenden vor. Die bundesrepublikanischen Fünfziger staffieren diese Innenkulisse mit jener vergilbten Farbe aus, die dem Erzählten zuträglich ist. Der Junge, der schreibt, muss damit ja noch an die Öffentlichkeit. Erste Leserin ist die Mutter, zweite schon Andrea, eine Mitschülerin, der eher an heimlichen Treffen gelegen ist, was der Gleichaltrige naturgemäß nicht gleich begreift. Das heimliche Schreiben entzieht sich mit dem Erstabdruck dreier Miniaturen in der örtlichen Zeitung allmählich dem engen Kreis der Eltern. Die Loslösung beginnt. Bäckersfrauen und Metzger wissen nun vom "Kind, das schreibt". Geradezu befreiend wirkt Ortheils abschweifendes Erzählen entlang dieser Schreibbiographie hin zu Fragen um Ruhm, Medialisierung, Besessenheit. Er bewegt sich aus der "peniblen Exaktheit", welche die väterliche Statistikberechnung charakterisiert, in den weiten Raum der Reflexion und Selbstzweifel hinaus; vom Zirkelkasten der Jagdhütte in die leisen Verwirrungen neuer Hürden. Und das Kind wie das Buch beginnen zu atmen, als endlich von Mitschülern wie "Manni" die Rede ist, vom Schreiben für Zeitungen und zuletzt vom "Weiterschreiben" - schließlich auch gegen das Klavier, denn lange bleibt unentschieden, ob Ortheil Pianist wird oder Autor.
Man weiß, wie der Kampf ausgeht und hat manches in Variationen schon anderswo gelesen. Und doch berührt am Ende die Erkenntnis, dass Schreiben die Einsamkeit des stummen Kindes reinszeniert. Diesen dunklen Raum, den Kreativität zu entgrenzen vermag, erforscht "Der Stift und das Papier".
ANJA HIRSCH
Hanns-Josef Ortheil: "Der Stift und das Papier". Roman einer Passion.
Luchterhand Verlag, München 2015. 384 S., geb., 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2010Was war Trumpf?
Hanns-Josef Ortheils Roman „Die Erfindung des Lebens“
Ein Knabe, der sich als nunmehr erwachsener Ich-Erzähler erinnert, wächst in einer Vater-Mutter-Kind-Familie während der fünfziger Jahre in Köln auf. Es ist eine außerordentlich liebevolle, behütete Familie, geformt nach dem Muster der Zeit; der Vater, Landvermesser, greift aktiv hinaus ins Leben, Mutter und Sohn hingegen verweilen daheim, symbiotisch aufeinander bezogen – und beide stumm. Ein Rätsel umgibt das Schweigen der Mutter, großes Leid muss ihr widerfahren sein; und das Schweigen des Sohns, der sich nicht auch bloß für Minuten von ihr trennen mag, antwortet dem mütterlichen Schweigen als Echo.
In der Schule entstehen ihm daraus Schwierigkeiten, er droht zur Randfigur und zum Versager zu werden – da ersinnt der immer tätige Vater eine Radikalkur, er fährt mit dem Sohn zu seiner alten Familie, viele Köpfe stark, die irgendwo auf dem Lande eine Gastwirtschaft betreibt. Dort beginnt das herzhafte Leben in der frischen Luft alsbald seine wohltuende Wirkung zu zeigen, der bisher ängstlich gehemmte Johannes lernt, was es heißt, zu leben, was für ihn vor allem bedeutet, schwimmen – und schließlich auch sprechen zu können. Der Vater trägt ihm auf, einen Baum zu zeichnen, aber nicht einen Kinder-Standard-Baum, sondern eine Eiche in klarer Absetzung von anderen Gattungen, und schreibt dem Sohn, der es endlich vollbracht hat, lobend darunter: „Das ist eine Eiche.“
Es folgen Aronstab, Goldstern, Schneeball, Geißblatt. „Konnte ich? Konnte ich all diese Klänge und Laute etwa längst insgeheim nachsprechen? Nein, noch war es nicht so weit, noch immer war etwas in mir blockiert und gehemmt. Und doch geschah gerade etwas sehr Wichtiges; mit jedem neuen Tag hörte ich die Sprache ein wenig mehr klingen. Es waren keine beliebigen Worte und Sätze, die ich zu hören bekam, sondern Worte, die zu den Dingen gehörten und daher eine unverwechselbare Klanggestalt hatten. Deshalb begann ich ja nun auch, bestimmte Worte zu mögen und sie im Stillen immer wieder zu wiederholen. ,Nachtschattengewächs‘ und ,Silberpappel‘ gehörten zu diesen magischen Wörtern, neben denen es noch die langweiligen und die verrückten Worte gab. Ich hatte also damit begonnen, die Worte zu unterscheiden, und mit diesen Unterschieden war der Anfang des Sprechens gemacht.“
Ein bislang sprechunfähiges Kind also öffnet den Mund, und als erstes Wort kommt heraus „Nachtschattengewächs“ – kann das so gewesen sein? Das ist schwer zu glauben. Der Autor würde diesem Einwand zwar entgegenhalten, dass der kleine Johannes ja nicht etwa taubstumm gewesen sei, sondern sehr wohl verstanden habe, was man zu ihm spricht. Aber kann überhaupt Spracherwerb so funktionieren?
Hanns-Josef Ortheil ist 1951 geboren, in Köln, wie sein Held, er teilt mit seiner Romanfigur wohl nicht nur die Generationszugehörigkeit, das Aufwachsen in den fünfziger Jahren und das Herkunftsmilieu. „Stark autobiographisch inspiriert“ sei das Buch, verkündet der Klappentext, als sei er bestrebt, vorgreifend jegliche Kritik zu disqualifizieren wie einen Behindertenwitz. Doch hat diese autobiographische Inspiration dem Roman „Die Erfindung des Lebens“, der aus ihr hervorgegangen ist, nicht nur gut getan.
Denn der Roman sucht sein Publikum durch zur Schau gestellte Einfalt des Herzens zu bestechen und sich gegen Widerspruch zu immunisieren, als könnte keiner, dem es nicht zusagt, ein fühlender und mitfühlender Mensch sein. Bei einem durchaus korpulenten Volumen von fast sechshundert Seiten zielt das Buch, so sehr es einen bieder-schlichten Habitus zur Schau trägt, auf die Rührung des Lesers. Ununterbrochen wischt es sich ein verstohlenes Tränchen aus dem Augenwinkel. So gute Menschen sind es, die den jungen Helden umgeben! Das soll davon ablenken, wie wenig man von ihnen, ihrem Leben und Wesen, faktisch erfährt.
„Karten“ spielt die dreiköpfige Familie gern. Aber was für ein Spiel? Das wäre wichtig zu wissen, weil jedes eine andere Logik, Dynamik und Seelenlage entfaltet. Da Ortheil es nicht verrät, erstarrt die Szene zu einem intimen Genre-Bild mit der Aufschrift „Häusliches Glück“. Und die Probleme, auf die der stumme Johannes stößt, werden ihrer Darstellung so zugeführt: „Wenn uns dabei Mitleid oder sogar offener Spott begegneten, empfand ich mich als sehr hilflos, ich konnte darauf ja nicht antworten, hatte aber das Gefühl, unbedingt antworten und manchmal sogar laut schreien zu müssen, ach, wie gern hätte ich mich zur Wehr gesetzt und es all den Spöttern gezeigt, aber ich konnte es nicht, nicht einmal eine Grimasse zog ich, ich reagierte nicht, sondern tat, als sähe und hörte ich all die dummen und oft auch beleidigenden Bemerkungen nicht. ( . . . ) Erst wenn ich Stunden später einmal allein war und unsere Peiniger nicht mehr vor mir hatte, ließ ich meine Wut heraus, heimlich und noch immer viel zu zurückhaltend erlaubte ich mir, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, einen solchen Ausbruch, denn natürlich durfte Mutter nicht mitbekommen, wie sehr mich das alles getroffen und verletzt hatte.“
So treuherzig kommt das daher mit seinem „ja“ und „ach“, dass man einige Zeit braucht, um zu merken, wie sehr der einzelne bezeichnende Vorfall fehlt, wie abstrakt solche Mitteilung in ihrem summarischen Charakter gerät. Aus dem Vorsatz zur Ruhe erwächst das Leere; Ortheil hat nicht zuletzt ein sehr langweiliges Buch geschrieben. Selbst seine wenigen Momente mit dem Potenzial zur Überraschung weiß es nicht zu nutzen. Das große traumatische Rätsel der Familie – in seinem Inneren hausen die vier früh verstorbenen Brüder des kleinen Johannes – wird in völliger Spannungslosigkeit gelüftet.
Und dass Johannes sich als ein begnadeter Pianist, ein Wunderkind erweist, dem ein Gott die Finger über die Tasten führt, wenn schon sein Mund vorerst stumm bleiben muss, nimmt man hin wie manches andere, das hier behauptet, aber nicht gestaltet wird. Am Ende blickt man noch einmal auf den Titel des Buches von Hanns-Josef Ortheil und stellt fest, dass er sich mit weiser Ironie gegen seinen Autor kehrt, der davon nichts zu ahnen scheint: Bei diesem Leben handelt es sich in der Tat nicht um ein wahres, sondern ein angestrengt erfundenes.
BURKHARD MÜLLER
HANNS-JOSEF ORTHEIL: Die Erfindung des Lebens. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2009. 590 Seiten, 21,95 Euro.
Ein sprechunfähiges Kind öffnet den
Mund, und als erstes Wort kommt
heraus – „Nachtschattengewächs“
„Ach, wie gern hätte ich mich
zur Wehr gesetzt und es
all den Spöttern gezeigt!“
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Hanns-Josef Ortheils Roman „Die Erfindung des Lebens“
Ein Knabe, der sich als nunmehr erwachsener Ich-Erzähler erinnert, wächst in einer Vater-Mutter-Kind-Familie während der fünfziger Jahre in Köln auf. Es ist eine außerordentlich liebevolle, behütete Familie, geformt nach dem Muster der Zeit; der Vater, Landvermesser, greift aktiv hinaus ins Leben, Mutter und Sohn hingegen verweilen daheim, symbiotisch aufeinander bezogen – und beide stumm. Ein Rätsel umgibt das Schweigen der Mutter, großes Leid muss ihr widerfahren sein; und das Schweigen des Sohns, der sich nicht auch bloß für Minuten von ihr trennen mag, antwortet dem mütterlichen Schweigen als Echo.
In der Schule entstehen ihm daraus Schwierigkeiten, er droht zur Randfigur und zum Versager zu werden – da ersinnt der immer tätige Vater eine Radikalkur, er fährt mit dem Sohn zu seiner alten Familie, viele Köpfe stark, die irgendwo auf dem Lande eine Gastwirtschaft betreibt. Dort beginnt das herzhafte Leben in der frischen Luft alsbald seine wohltuende Wirkung zu zeigen, der bisher ängstlich gehemmte Johannes lernt, was es heißt, zu leben, was für ihn vor allem bedeutet, schwimmen – und schließlich auch sprechen zu können. Der Vater trägt ihm auf, einen Baum zu zeichnen, aber nicht einen Kinder-Standard-Baum, sondern eine Eiche in klarer Absetzung von anderen Gattungen, und schreibt dem Sohn, der es endlich vollbracht hat, lobend darunter: „Das ist eine Eiche.“
Es folgen Aronstab, Goldstern, Schneeball, Geißblatt. „Konnte ich? Konnte ich all diese Klänge und Laute etwa längst insgeheim nachsprechen? Nein, noch war es nicht so weit, noch immer war etwas in mir blockiert und gehemmt. Und doch geschah gerade etwas sehr Wichtiges; mit jedem neuen Tag hörte ich die Sprache ein wenig mehr klingen. Es waren keine beliebigen Worte und Sätze, die ich zu hören bekam, sondern Worte, die zu den Dingen gehörten und daher eine unverwechselbare Klanggestalt hatten. Deshalb begann ich ja nun auch, bestimmte Worte zu mögen und sie im Stillen immer wieder zu wiederholen. ,Nachtschattengewächs‘ und ,Silberpappel‘ gehörten zu diesen magischen Wörtern, neben denen es noch die langweiligen und die verrückten Worte gab. Ich hatte also damit begonnen, die Worte zu unterscheiden, und mit diesen Unterschieden war der Anfang des Sprechens gemacht.“
Ein bislang sprechunfähiges Kind also öffnet den Mund, und als erstes Wort kommt heraus „Nachtschattengewächs“ – kann das so gewesen sein? Das ist schwer zu glauben. Der Autor würde diesem Einwand zwar entgegenhalten, dass der kleine Johannes ja nicht etwa taubstumm gewesen sei, sondern sehr wohl verstanden habe, was man zu ihm spricht. Aber kann überhaupt Spracherwerb so funktionieren?
Hanns-Josef Ortheil ist 1951 geboren, in Köln, wie sein Held, er teilt mit seiner Romanfigur wohl nicht nur die Generationszugehörigkeit, das Aufwachsen in den fünfziger Jahren und das Herkunftsmilieu. „Stark autobiographisch inspiriert“ sei das Buch, verkündet der Klappentext, als sei er bestrebt, vorgreifend jegliche Kritik zu disqualifizieren wie einen Behindertenwitz. Doch hat diese autobiographische Inspiration dem Roman „Die Erfindung des Lebens“, der aus ihr hervorgegangen ist, nicht nur gut getan.
Denn der Roman sucht sein Publikum durch zur Schau gestellte Einfalt des Herzens zu bestechen und sich gegen Widerspruch zu immunisieren, als könnte keiner, dem es nicht zusagt, ein fühlender und mitfühlender Mensch sein. Bei einem durchaus korpulenten Volumen von fast sechshundert Seiten zielt das Buch, so sehr es einen bieder-schlichten Habitus zur Schau trägt, auf die Rührung des Lesers. Ununterbrochen wischt es sich ein verstohlenes Tränchen aus dem Augenwinkel. So gute Menschen sind es, die den jungen Helden umgeben! Das soll davon ablenken, wie wenig man von ihnen, ihrem Leben und Wesen, faktisch erfährt.
„Karten“ spielt die dreiköpfige Familie gern. Aber was für ein Spiel? Das wäre wichtig zu wissen, weil jedes eine andere Logik, Dynamik und Seelenlage entfaltet. Da Ortheil es nicht verrät, erstarrt die Szene zu einem intimen Genre-Bild mit der Aufschrift „Häusliches Glück“. Und die Probleme, auf die der stumme Johannes stößt, werden ihrer Darstellung so zugeführt: „Wenn uns dabei Mitleid oder sogar offener Spott begegneten, empfand ich mich als sehr hilflos, ich konnte darauf ja nicht antworten, hatte aber das Gefühl, unbedingt antworten und manchmal sogar laut schreien zu müssen, ach, wie gern hätte ich mich zur Wehr gesetzt und es all den Spöttern gezeigt, aber ich konnte es nicht, nicht einmal eine Grimasse zog ich, ich reagierte nicht, sondern tat, als sähe und hörte ich all die dummen und oft auch beleidigenden Bemerkungen nicht. ( . . . ) Erst wenn ich Stunden später einmal allein war und unsere Peiniger nicht mehr vor mir hatte, ließ ich meine Wut heraus, heimlich und noch immer viel zu zurückhaltend erlaubte ich mir, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, einen solchen Ausbruch, denn natürlich durfte Mutter nicht mitbekommen, wie sehr mich das alles getroffen und verletzt hatte.“
So treuherzig kommt das daher mit seinem „ja“ und „ach“, dass man einige Zeit braucht, um zu merken, wie sehr der einzelne bezeichnende Vorfall fehlt, wie abstrakt solche Mitteilung in ihrem summarischen Charakter gerät. Aus dem Vorsatz zur Ruhe erwächst das Leere; Ortheil hat nicht zuletzt ein sehr langweiliges Buch geschrieben. Selbst seine wenigen Momente mit dem Potenzial zur Überraschung weiß es nicht zu nutzen. Das große traumatische Rätsel der Familie – in seinem Inneren hausen die vier früh verstorbenen Brüder des kleinen Johannes – wird in völliger Spannungslosigkeit gelüftet.
Und dass Johannes sich als ein begnadeter Pianist, ein Wunderkind erweist, dem ein Gott die Finger über die Tasten führt, wenn schon sein Mund vorerst stumm bleiben muss, nimmt man hin wie manches andere, das hier behauptet, aber nicht gestaltet wird. Am Ende blickt man noch einmal auf den Titel des Buches von Hanns-Josef Ortheil und stellt fest, dass er sich mit weiser Ironie gegen seinen Autor kehrt, der davon nichts zu ahnen scheint: Bei diesem Leben handelt es sich in der Tat nicht um ein wahres, sondern ein angestrengt erfundenes.
BURKHARD MÜLLER
HANNS-JOSEF ORTHEIL: Die Erfindung des Lebens. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2009. 590 Seiten, 21,95 Euro.
Ein sprechunfähiges Kind öffnet den
Mund, und als erstes Wort kommt
heraus – „Nachtschattengewächs“
„Ach, wie gern hätte ich mich
zur Wehr gesetzt und es
all den Spöttern gezeigt!“
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dass der Autor das Happy End und die große Liebe nicht scheut, rechnet Rezensentin Maria Frise ihm hoch an. Für sie ist Hanns-Josef Ortheils autobiografischer Roman ein tröstliches Buch geworden. Kaum erfunden und doch außerordentlich und wunderbar findet sie die durch die Geschichte des mit anfänglicher Stummheit geschlagenen, jedoch musikalisch begabten Johannes und seiner Eltern hindurchscheinende Biografie des Autors. Frise schätzt das von Ortheil vermittelte Gefühl einer trotz aller Schicksalsschläge unbeirrbaren Hoffnung und Liebe. Erscheinen ihr die aufgerufenen Bilder einer Kindheit in Köln und im Westerwald deutlich, bleibt für sie die in Rom spielende, mit musiktheoretischen Passagen gespickte Rahmenhandlung eher blass. Gerührt ist die Rezensentin dennoch.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Feinnervig, milieukräftig und zeitnah. Ein wunderbares Buch einer Ichwerdung". Börsenblatt
"In unendlicher Melodie realisiert dieser Roman Welterschließung als Sprachfindung, faltet sich als Kosmos aus Landschaften, Gewässern, Räumen, rheinischen und römischen Plätzen, Beziehungsmustern - feinnervig, milieukräftig und zeitnah. Ein wunderbares Buch einer Ichwerdung."