Endlich: Der Roman »Die Hauptstadt«, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis, erfährt in »Die Erweiterung« seine Fortsetzung Zwei Brüder, nicht leibliche Brüder, sondern »Blutsbrüder«, verbunden durch einen Schwur, den sie im polnischen Untergrundkampf gegen das kommunistische Regime geleistet haben, gehen nach dessen Zusammenbruch getrennte Wege. Der eine, Mateusz, macht nationale Karriere und wird schließlich polnischer Ministerpräsident. Der andere, Adam, ging nach dem EU-Beitritt Polens nach Brüssel und arbeitet in der Europäischen Kommission in der Generaldirektion für Erweiterung. Er ist eingebunden in Verhandlungen mit Albanien, das Kandidaten-Status hat. Während die Vorbereitungen für die Westbalkankonferenz im polnischen Poznan auf Hochtouren laufen, bittet Adam Mateusz um Unterstützung, doch der beginnt das Beitrittsgesuch Albaniens zu unterminieren. Aus der einstmals tiefen Verbundenheit wird eine unversöhnliche Feindschaft von europäischer Dimension. Auf einer vom albanischen Ministerpräsidenten organisierten Kreuzschifffahrt auf der SS Skanderbeg, zu der er Regierungschefs der Balkanstaaten, EU-Außenminister und Vertreter der Europäischen Union eingeladen hat, treffen die beiden wieder aufeinander. Was dann passiert, steht längst nicht mehr in ihrer Macht. Der politische Konflikt der beiden Blutsbrüder ist aber nur der Rahmen, innerhalb dessen sich eine Vielzahl von Schicksalen entscheidet, kühne Pläne und große Lebensanstrengungen auf die Probe gestellt werden, bis es zum Showdown kommt, auf dem schwankenden Boden eines albanischen Schiffs. Ungekürzte Lesung mit Burghart Klaußner 19h 17min
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Paul Jandl hat viel Freude am zweiten Teil von Robert Menasses EU-Groteske. Dem Buch, das Jandl als "Unterhaltungsroman für die gebildeten Stände" preist, liegt erneut Menasses Plädoyer für ein Europa der Regionen zugrunde, klärt der Kritiker auf. In diesem Fall möchte Albanien in die EU, aber Macron mauert. Schon wie Menasse die "Arroganz" des Westens gegenüber dem Osten aufspießt, amüsiert den Rezensenten. Wenn dann noch kurz vor der Rückgabe der Helm des albanischen Volkshelden Skanderbeg verschwindet und die europäischen Staatschefs führerlos, aber mit einem Virus an Bord übers Meer schippern, ist der Spaß für Jandl perfekt. Mit ein paar "Redundanzen" , "Kalauern" und Erfindungen kann der Kritiker gut leben, denn: Niemand erkennt das "Absurde der Wirklichkeit" so genau wie Menasse, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2022Ihm ist ganz albanisch wohl
Ein Herz für Europa: Robert Menasse führt mit "Die Erweiterung" seinen EU-Romanzyklus fort
Ausgerechnet Albanien. Ein Land, über das die meisten wenig wissen. Das wenige ist dann allerdings immer gleich spektakulär: spektakuläre Natur, spektakuläre Bunker, die Enver Hoxha in der paranoiden Spätphase seiner Regentschaft hunderttausendfach an die Mittelmeerküste bauen ließ, spektakulär archaische Ehrbarkeitsbräuche in den Dörfern der nordalbanischen Alpen, spektakuläre Mafiaverbrechen. Dass dieses Land, das über Kupfer- und Erdölvorkommen verfügt, aber auch die glaubwürdigsten Anstrengungen unternimmt, Mitglied der EU zu werden, und die überwiegende Mehrheit der albanischen Bevölkerung für einen EU-Beitritt ist, während EU-Mitgliedstaaten mit rechtspopulistischen Regierungen den politischen Zerfall derselben betreiben, treibt Robert Menasse schon seit Längerem um.
Der Buchpreisgewinner des Jahres 2017 hat sich dem Projekt verschrieben, die als blutleer geltende EU mit rotem Erzählsaft zu beleben. Und damit unsterblich zu machen - entgegen allen realpolitischen Prognosen. Einen Bürokratismus mit menschlichem Antlitz hatte Menasse schon zum Auftakt seiner geplanten Europa-Trilogie geschaffen. "Die Erweiterung" ist jetzt die Erweiterung dieses engagierten Schreibprojekts.
Teil eins, "Die Hauptstadt", spielte in Brüssel und im polnischen Auschwitz, das ein pfiffiger EU-Beamter, zuständig fürs fünfzigjährige Jubiläum der Kommission, zur europäischen Hauptstadt erklären wollte. Im neuen Roman verschiebt sich der Fokus. Der albanische Ministerpräsident möchte die durch ein französisches Veto blockierten Beitrittsverhandlungen wiederaufnehmen. Hierfür lässt sich der ehemalige Basketballprofi, der im Hof der Staatskanzlei von Tirana den ein oder anderen Dunking versenkt, von einem Dichter beraten.
Vieles hat Robert Menasse der Realität abgeschaut. Das französische Veto, das kurz darauf wieder zurückgenommen wurde, zum Beispiel. Aber auch das politische Personal: Menasses Ministerpräsident ist ein Abbild des amtierenden albanischen Premiers Edi Rama - ein Mann mit Basketballer-Vergangenheit und bildender Künstler wie sein Alter Ego im Roman. Dessen Berater brockt ihm eine geniale Idee ein und zugleich ein dickes Problem. Der Ministerpräsident soll sich eine auf seinen Schädel passende Kopie des im Kunsthistorischen Museum in Wien verwahrten Helms des albanischen Nationalhelden Skanderbeg anfertigen lassen. "Hatte die EU ein Symbol ihrer Einheit?", heißt es im Roman: "Nein. Aber die Albaner hatten eines, diesen Helm." Und deswegen muss der jetzt, auf dem symbolpolitischen Kampfplatz EU-Osterweiterung, wieder zu Ehren kommen.
Robert Menasse ist nicht nur ein Chronist der diplomatischen Verwicklungen zwischen Brüssel und Albanien. Er ist auch ein Spieler. 650 Seiten über einen EU-Beitritt wollen zusammengehalten werden durch ein Leitmotiv, das die Romanhandlung durchwirkt. So wird ihr erzähltechnisch der Helm des Skanderbeg aufgesetzt. Und der entwickelt sich vom Dingsymbol, zum Diebesgut, von dort weiter zur Hehlerware, dann zum Beweismittel und schließlich auch zur slapstickhaften Lachnummer. Denn nicht nur wird der Originalhelm von Unbekannten aus der Wiener Rüstkammer gestohlen, was den Verdacht auf den albanischen Neuskanderbeg wirft. Auch kommt die Kopie des Helms auf Abwege beziehungsweise in die Hände einer ehrbaren Familie, die sich normalerweise nicht mit Kunstraub abgibt, weswegen ihr Boss gleich ein paar unmissverständliche Zeichen in Form von rollenden Köpfen an die eigene Sippe schickt.
Es würde zu weit führen, alle Wege des Helms hier nachzuerzählen. Mit ihm kommt jedenfalls die Handlung ordentlich ins Rollen. Robert Menasse gibt etwa zehn Hauptfiguren samt biographischen Hintergründen und aktuellen Funktionen als Regierungssprecher, EU-Beamter, Polizeichef, Politikberater und Ministerpräsident eine Bühne. Hinzu kommen mindestens zehn Nebenfiguren. Dadurch entsteht ein episches Geflecht an Handlungen und Befindlichkeiten, das Menasse souverän als Page Turner präsentiert.
Antagonistische Prinzipien prallen aufeinander, symbolische Handlungen (sämtliche Einsatzgebiete des echten und des gestohlenen Volkshelden-Helms) auf den Brüsseler Pragmatismus einer oftmals frustrierenden Abstimmungsroutine. Die Rationalität des Amtes steht der Irrationalität ihrer Amtsträger gegenüber. Und rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten konkurrieren mit archaischen Ehrbegriffen, die nicht nur von der albanischen Mafia hochgehalten werden.
Robert Menasse hat sich in die Kulturgeschichte seines Schauplatzes hineingearbeitet. Und kann mit dem ein oder anderen Kuriosum aus dem Ethnologenlehrbuch aufwarten. So gibt es im Roman eine jüdische Figur, die nur deswegen der Judenhatz der Gebirgsdivision SS Skanderbeg entkommen ist, weil ihr albanischer Gastgeber die lokalen Gesetze des sogenannten Kanun, des albanischen Ehrenkodex, einhalten musste. Dieser besagt unter anderem, dass ein Gast unter allen Umständen den Schutz seines Gastgebers genießt. So schickt der tapfere Albaner, als es eines Tages auch an seiner Tür klopft, nicht den jüdischen Flüchtling hinaus, sondern den eigenen gleichaltrigen Sohn. Eine Geschichte von biblischer Drastik, die kontrastiert wird mit den Rechtsauffassungen jener politischen Organisation, der sich Menasse auch als Vortragsredner und engagierter Intellektueller verschrieben hat.
Auffällig und vielleicht nicht einmal dem Autor bewusst: Eine schmerzhafte Mutterlosigkeit zieht sich durch den gesamten Roman. Ob es ein verzopfter EU-Beamter ist, der bei seiner Großmutter aufwuchs, oder der albanische Regierungssprecher, dessen Vater eines der letzten Opfer des Hoxha-Regimes wurde, woraufhin sich die Mutter das Leben nahm. Auf den letzten zweihundert Seiten lernen wir noch eine Radiojournalistin besser kennen, deren Mutter bei der Geburt verstarb.
Auch wenn Menasse am Ende die gesamte europäische Elite in einer Art Flüchtlingsgeisterschiff auf dem Mittelmeer herumschippern lässt, ohne Aussicht auf Aufnahme, nirgends: In diesem Roman schlägt das Herz eines Europäers zum zweiten Mal laut und vernehmlich und auch irgendwie flehentlich. KATHARINA TEUTSCH
Robert Menasse: "Die Erweiterung". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
654 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Herz für Europa: Robert Menasse führt mit "Die Erweiterung" seinen EU-Romanzyklus fort
Ausgerechnet Albanien. Ein Land, über das die meisten wenig wissen. Das wenige ist dann allerdings immer gleich spektakulär: spektakuläre Natur, spektakuläre Bunker, die Enver Hoxha in der paranoiden Spätphase seiner Regentschaft hunderttausendfach an die Mittelmeerküste bauen ließ, spektakulär archaische Ehrbarkeitsbräuche in den Dörfern der nordalbanischen Alpen, spektakuläre Mafiaverbrechen. Dass dieses Land, das über Kupfer- und Erdölvorkommen verfügt, aber auch die glaubwürdigsten Anstrengungen unternimmt, Mitglied der EU zu werden, und die überwiegende Mehrheit der albanischen Bevölkerung für einen EU-Beitritt ist, während EU-Mitgliedstaaten mit rechtspopulistischen Regierungen den politischen Zerfall derselben betreiben, treibt Robert Menasse schon seit Längerem um.
Der Buchpreisgewinner des Jahres 2017 hat sich dem Projekt verschrieben, die als blutleer geltende EU mit rotem Erzählsaft zu beleben. Und damit unsterblich zu machen - entgegen allen realpolitischen Prognosen. Einen Bürokratismus mit menschlichem Antlitz hatte Menasse schon zum Auftakt seiner geplanten Europa-Trilogie geschaffen. "Die Erweiterung" ist jetzt die Erweiterung dieses engagierten Schreibprojekts.
Teil eins, "Die Hauptstadt", spielte in Brüssel und im polnischen Auschwitz, das ein pfiffiger EU-Beamter, zuständig fürs fünfzigjährige Jubiläum der Kommission, zur europäischen Hauptstadt erklären wollte. Im neuen Roman verschiebt sich der Fokus. Der albanische Ministerpräsident möchte die durch ein französisches Veto blockierten Beitrittsverhandlungen wiederaufnehmen. Hierfür lässt sich der ehemalige Basketballprofi, der im Hof der Staatskanzlei von Tirana den ein oder anderen Dunking versenkt, von einem Dichter beraten.
Vieles hat Robert Menasse der Realität abgeschaut. Das französische Veto, das kurz darauf wieder zurückgenommen wurde, zum Beispiel. Aber auch das politische Personal: Menasses Ministerpräsident ist ein Abbild des amtierenden albanischen Premiers Edi Rama - ein Mann mit Basketballer-Vergangenheit und bildender Künstler wie sein Alter Ego im Roman. Dessen Berater brockt ihm eine geniale Idee ein und zugleich ein dickes Problem. Der Ministerpräsident soll sich eine auf seinen Schädel passende Kopie des im Kunsthistorischen Museum in Wien verwahrten Helms des albanischen Nationalhelden Skanderbeg anfertigen lassen. "Hatte die EU ein Symbol ihrer Einheit?", heißt es im Roman: "Nein. Aber die Albaner hatten eines, diesen Helm." Und deswegen muss der jetzt, auf dem symbolpolitischen Kampfplatz EU-Osterweiterung, wieder zu Ehren kommen.
Robert Menasse ist nicht nur ein Chronist der diplomatischen Verwicklungen zwischen Brüssel und Albanien. Er ist auch ein Spieler. 650 Seiten über einen EU-Beitritt wollen zusammengehalten werden durch ein Leitmotiv, das die Romanhandlung durchwirkt. So wird ihr erzähltechnisch der Helm des Skanderbeg aufgesetzt. Und der entwickelt sich vom Dingsymbol, zum Diebesgut, von dort weiter zur Hehlerware, dann zum Beweismittel und schließlich auch zur slapstickhaften Lachnummer. Denn nicht nur wird der Originalhelm von Unbekannten aus der Wiener Rüstkammer gestohlen, was den Verdacht auf den albanischen Neuskanderbeg wirft. Auch kommt die Kopie des Helms auf Abwege beziehungsweise in die Hände einer ehrbaren Familie, die sich normalerweise nicht mit Kunstraub abgibt, weswegen ihr Boss gleich ein paar unmissverständliche Zeichen in Form von rollenden Köpfen an die eigene Sippe schickt.
Es würde zu weit führen, alle Wege des Helms hier nachzuerzählen. Mit ihm kommt jedenfalls die Handlung ordentlich ins Rollen. Robert Menasse gibt etwa zehn Hauptfiguren samt biographischen Hintergründen und aktuellen Funktionen als Regierungssprecher, EU-Beamter, Polizeichef, Politikberater und Ministerpräsident eine Bühne. Hinzu kommen mindestens zehn Nebenfiguren. Dadurch entsteht ein episches Geflecht an Handlungen und Befindlichkeiten, das Menasse souverän als Page Turner präsentiert.
Antagonistische Prinzipien prallen aufeinander, symbolische Handlungen (sämtliche Einsatzgebiete des echten und des gestohlenen Volkshelden-Helms) auf den Brüsseler Pragmatismus einer oftmals frustrierenden Abstimmungsroutine. Die Rationalität des Amtes steht der Irrationalität ihrer Amtsträger gegenüber. Und rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten konkurrieren mit archaischen Ehrbegriffen, die nicht nur von der albanischen Mafia hochgehalten werden.
Robert Menasse hat sich in die Kulturgeschichte seines Schauplatzes hineingearbeitet. Und kann mit dem ein oder anderen Kuriosum aus dem Ethnologenlehrbuch aufwarten. So gibt es im Roman eine jüdische Figur, die nur deswegen der Judenhatz der Gebirgsdivision SS Skanderbeg entkommen ist, weil ihr albanischer Gastgeber die lokalen Gesetze des sogenannten Kanun, des albanischen Ehrenkodex, einhalten musste. Dieser besagt unter anderem, dass ein Gast unter allen Umständen den Schutz seines Gastgebers genießt. So schickt der tapfere Albaner, als es eines Tages auch an seiner Tür klopft, nicht den jüdischen Flüchtling hinaus, sondern den eigenen gleichaltrigen Sohn. Eine Geschichte von biblischer Drastik, die kontrastiert wird mit den Rechtsauffassungen jener politischen Organisation, der sich Menasse auch als Vortragsredner und engagierter Intellektueller verschrieben hat.
Auffällig und vielleicht nicht einmal dem Autor bewusst: Eine schmerzhafte Mutterlosigkeit zieht sich durch den gesamten Roman. Ob es ein verzopfter EU-Beamter ist, der bei seiner Großmutter aufwuchs, oder der albanische Regierungssprecher, dessen Vater eines der letzten Opfer des Hoxha-Regimes wurde, woraufhin sich die Mutter das Leben nahm. Auf den letzten zweihundert Seiten lernen wir noch eine Radiojournalistin besser kennen, deren Mutter bei der Geburt verstarb.
Auch wenn Menasse am Ende die gesamte europäische Elite in einer Art Flüchtlingsgeisterschiff auf dem Mittelmeer herumschippern lässt, ohne Aussicht auf Aufnahme, nirgends: In diesem Roman schlägt das Herz eines Europäers zum zweiten Mal laut und vernehmlich und auch irgendwie flehentlich. KATHARINA TEUTSCH
Robert Menasse: "Die Erweiterung". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
654 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Mit Die Erweiterung legt [Menasse] nach: ein gewitztes, fesselndes Werk über die Westbalkan-Politik der EU und eine nationalistische Strategie, die sich starker Symbole bedient.« Florian Baranyi orf.at 20221111