»Ein großer Wurf.« Die Zeit Elena und Lila, die Mädchen aus "Meine geniale Freundin" und "Die Geschichte eines neuen Namens", sind inzwischen 22 Jahre. Lila, die schon mit 16 heiratete, verlässt ihren Mann, kämpft mit den Problemen einer alleinerziehenden Mutter und versucht sich als Fabrikarbeiterin über Wasser zu halten. Für Elena, die Neapel verließ, öffnen sich neue Türen zur Welt der Wohlsituierten und Intellektuellen. Wir begleiten die Freundinnen durch die Jahre 1968 bis 1976: RAF und Rote Brigaden verbreiten Terror, Studenten gehen auf die Straße. Und die verkrusteten Rollenklischees zeigen erste Risse ... Gelesen von Eva Mattes. (Laufzeit: 15h 10)
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buecher-magazin.deDie Erwachsenenjahre der Neapolitanischen Saga sind die Jahre des Aufruhrs - im privaten wie im politischen Sinne. Lila und Elena, die bipolaren Seelenschwestern, kämpfen jede auf ihre ganz eigene Art um ihre Emanzipation. In den politischen Unruhen der Siebzigerjahre wird Lila, die sich aus ihrer Ehe befreit hat und als Fabrikarbeiterin schuftet, zur Frontfrau einer Gewerkschaftsrevolte. Lila und Enzo pauken in Fernkursen Computer-Programmierung, doch Elenas Leben stagniert nach dem anfänglichen Erfolgsrausch um ihren ersten Roman. Schnell erkennt sie nach der Heirat, dass der vergeistigte Überflieger Pietro zwar nahezu alles über die Welt weiß, aber nichts über das Leben. Und so versinkt sie immer tiefer in der Apathie des Ehelebens und Mutterdaseins, kämpft um jedes Wort - und findet erst zurück zur Sprache, als sie Nino Saratorre wiedertrifft. Die alten Gefühle holen sie ein, obwohl sich eine Freundschaft zwischen Pietro und Nino entwickelt?…Doch die getrennten Wege der beiden Freundinnen kreuzen sich immer dann, wenn kein anderer Mensch die Seelennot der jeweils anderen mehr begreifen oder mildern kann. Und natürlich ist es Lila, die für Aufruhr sorgt - und selbst für Elena unfassbare Entscheidungen trifft.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2017Im Dekor der Zeitgeschichte
Das Schreiblich-Weibliche zieht uns wohin? Der dritte Teil von Elena Ferrantes Neapel-Tetralogie
Mit drei Monaten Verspätung gegenüber der ursprünglichen Ankündigung erscheint heute die deutsche Übersetzung von "Die Geschichte der getrennten Wege", des dritten Teils von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga. Die Fakten vorweg: Der Roman umfasst die Jahre 1969 bis 1976, die Heldinnen Lila und Elena sind am Anfang knapp 25 und am Ende 32 Jahre alt. Nachdem Teil zwei Lilas Eheleben - ihren brutalen Mann Stefano, ihre Affäre mit Nino, die Geburt von Gennaro, die Trennung, ihren Wegzug und die Arbeit in der Wurstfabrik - zum Thema hatte, erzählt Teil drei die Geschichte von Elenas Ehe. Er spiegelt den Vorgänger, sowohl die Erfahrungen als auch den Aufbau betreffend.
An Anfang und Ende von "Die Geschichte der getrennten Wege" stehen - einmal wieder - unerwartete Wiedersehen mit Nino Sarratore: das erste während einer Lesung aus Elenas Erstlingsroman, dessen Erscheinen Band zwei beschlossen hatte, und das zweite über Elenas Ehemann, der Nino an der Universität Florenz trifft. Dazwischen wird die Geschichte von Elenas Ehe mit Pietro Airota erzählt, einem Altphilologen und Spross einer einflussreichen Intellektuellenfamilie. Nach dem Überraschungserfolg ihres Romans erlangt Elena kurzzeitig Ruhm, hält Lesungen, schreibt engagierte Artikel. Nach der Hochzeit wird sie in kurzem Abstand zweimal schwanger und gebiert zwei Mädchen. Die Mutter- und Hausfrauenrolle frisst sie auf und entfremdet sie vom Ehemann; unter dem Einfluss ihrer Schwägerin Mariarosa wird sie Feministin. Am Ende stehen eine kapitale Ehekrise - und eben Nino.
Kurz: In Band zwei ging Lilas Ehe vor die Hunde, in Band drei widerfährt Elena das Gleiche; die eine war in Neapel auf brutale Weise gescheitert, die andere tut es gesittet in Florenz. Elenas Erfahrung ist eine sanftere, aber ebenfalls bitter enttäuschende "Erziehung des Herzens": Statt der brutalen Dominanz eines Wurstwarenhändlers lernt sie die Verschlossenheit und Unsinnlichkeit eines Gelehrten kennen. Pietro ist "ein missratener Airota", kein mondäner Linker wie Eltern und Schwester, sondern ein Spezialist, der nur seine Arbeit liebt, durch politisierte Studenten und Kollegen sowie die Unruhe des jungen Haushalts aber davon abgehalten wird. Elena wiederum unterstützt ihren Mann nicht, beklagt seinen Rückzug sowie die häusliche Arbeitslast, die er skrupellos auf sie abwälzt.
Wie gewohnt stellt Lilas Leben den Kontrapunkt, allerdings, wie der Titel "Die Geschichte der getrennten Wege" andeutet, in distanzierter Weise; nach einer kurzen Phase der Annäherung findet der Austausch bevorzugt am Telefon statt. Während Elena zu Beginn auf dem Gipfel steht, schlägt Lila sich mit ihrer entwürdigenden Arbeit in der Wurstfabrik herum; mit ihrem Sohn und dem schweigsamen Arbeiter Enzo lebt sie in einem Wohnsilo. Abends arbeiten die zwei sich per Fernstudium in die Informatik ein, eine berufliche Perspektive, die sie am Ende des Romans in bestbezahlte Positionen katapultiert - mittlerweile sind beide ein Paar geworden. In diesem Moment steht Elena vor dem Scheitern eines zweiten Romans sowie ihrer Ehe; Anlass zu Hoffnung bieten nur Nino und ein feministischer Essay.
Gemein haben die Freundinnen eine Annäherung an die mafiösen Solaras. Dieser Aspekt verweist auf die politisch-historische Ebene: In den sechziger und siebziger Jahren wird Italien von gewalttätigen Konflikten zwischen Links und Rechts zerrissen. Lila, Elena und viele ihrer Freunde stehen den Kommunisten nahe: Lila engagiert sich in der Wurstfabrik für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Elena schreibt Artikel in der Parteizeitung "L'Unità", andere arbeiten für Gewerkschaft und Partei, die Extremsten gehen in den Untergrund. Die Solaras hingegen unterstützen seit jeher die Faschisten und können auf die Sympathien des Rione, Elenas Viertel, zählen: "Die Verbindung zur Vergangenheit war nie wirklich abgerissen, der Rione liebte die Faschisten mit großer Mehrheit und verhätschelte sie, und sie tauchten in ihrer schwarzen Masse überall dort auf, wo eine Schlägerei in der Luft lag." Die Kommunisten in der Wurstfabrik lassen sie verdreschen; der Maurer Pasquale und andere Genossen schlagen zurück. Am Ende gibt es Tote, Franco, Elenas Ex-Freund aus Pisa-Zeiten, wird verkrüppelt. Es ist daher überraschend, dass sich die Freundinnen - Lila mehr, Elena weniger freiwillig - ins Fahrwasser der mittlerweile äußerst wohlhabenden Solara-Familie ziehen lassen, die halb Neapel kontrolliert.
Die politischen Ereignisse gehören zum Spannendsten, was Teil drei zu bieten hat. Leider wird die Dimension nicht umfassender dargestellt, und für die Geschichte der Heldin gilt leicht abgewandelt das, was Franco über Elenas Erstling sagt: "Mit Liebesgeschichten und krampfhaften Versuchen, sozial aufzusteigen, überdeckst du gerade das, was erzählenswert wäre." Das wäre eine konsequente Verknüpfung zwischen Geschichte und intimer Empfindung gewesen, wie Lampedusa oder Morante sie geschaffen hat. Natürlich kann niemand eine Autorin dazu anhalten, eine Epoche zu schildern, man kann wunderbar Hunderte Seiten über Gefühle schreiben - nur deutet Ferrante die historische Dynamik fortwährend an, zeigt ihre Effekte, ja macht sie zur Voraussetzung, ohne sie zu entwickeln.
Dagegen kann man wiederum einwenden, dass der Titel von Ferrantes Tetralogie klar sagt, was sie sein will, eine "Neapolitanische Saga" nämlich. Rein literarisch gesehen, birgt die Gattungswahl Schwächen: Ferrante wählt die intime Perspektive einer tendenziell überforderten Heldin (oft erreicht sie nur "ein fernes Echo" ihrer Zeit) und überfrachtet die Zweierkonstellation Lila/Elena; die Historie wird zum Dekor. Zudem neigt Ferrante zur Übertreibung. Die Abgründigkeit der Freundschaft wird überbetont, das Kippen zwischen Vertrautheit und Konkurrenz vorhersehbar. Ähnliches gilt für die eheliche Dauermisere fast aller jüngeren Figuren und für tendenziell schematische Charaktere. Ein Sonderpunkt sind effekthascherische Erzähltechniken: so der plötzliche Auftritt des Märchenprinzen oder der Abbruch auf dem Höhepunkt der Spannung.
Über diese Schwächen hinaus, die man als gattungsgegeben akzeptieren kann, ist man nach drei Bänden so weit, sich zu fragen, was der Gewinn einer und genauer dieser spezifisch weiblichen Sicht ist. Eingefordert wird sie anlässlich der Helden von 1968: "Und wie in den Kriegsfilmen, in denen es nur Männer gab, war es schwierig, sich dazugehörig zu fühlen, man konnte sie nur lieben, den eigenen Kopf ihren Gedanken anpassen und um ihr Schicksal bangen." Auch Zitate der Feministin Carla Lonzi weisen darauf hin: Ferrante will die Lücke füllen, mittels einer Frauengeschichte, ausgehend von Frauenerfahrungen, konzentriert auf Frauenbeziehungen. Der Haken dabei: Sollte es sich um ein Äquivalent zum Kriegsfilm handeln, dann produziert Ferrante selbst Spartenkunst, diesmal weibliche. Wenn der linksliberale "Nouvel Observateur" seine Besprechung mit der Frage "Warum gefallen die Romane von Elena Ferrante vor allem den Frauen?" übertitelt, ist das ein Indiz dafür, dass der Fall eingetreten ist.
Für Literatur, die per definitionem einen Universalitätsanspruch hat, ist das ein Problem. Für Ferrante auch, denn sie postuliert Allgemeingültigkeit durch den Schauplatz: "Würde sich alles, was ich gerade in der Schule lernte, verflüchtigen, würde der Rione wieder die Oberhand gewinnen, würde sich alles in einem schwärzlichen Schlamm vermischen, Tonfall und Umgangsformen, Anaximander und mein Vater, Folgóre und Don Achille, chemische Wertigkeiten und die Teiche, die Aoristen, Hesiod und die unverschämte, vulgäre Sprache der Solaras, so wie es übrigens um Lauf der Jahrtausende auch mit der zunehmend chaotischen, zunehmend heruntergekommenen Stadt geschehen war?" Dieser Satz setzt Elena zu ihrer Stadt parallel und allegorisiert sie gleichermaßen: Beide sind Frauen und Abstrakta, Zusammensetzungen, bei denen der Rione für eine niedere Herkunft, für das Schmutzig-Sinnliche und drohende Zersetzung steht. Das zeigt den Anspruch, der mit Elenas Perspektive verknüpft ist, den ihre Beschränktheit jedoch laufend dementiert.
Keine Frage, das Lesevergnügen ist da, wenn man sich vom Strom der Ereignisse, der Vielzahl an Schicksalen und der schönen Sprache, von Karin Krieger wunderbar übertragen, mitziehen lässt. Die Geschichte des ebenso erfolgreichen wie desillusionierenden Aufstiegs zweier Frauen ist spannend erzählt. Die Frage der literaturgeschichtlichen Bedeutung hingegen, die einige schon bei Erscheinen von Band eins geklärt sahen, ist offen - bestenfalls.
NIKLAS BENDER
Elena Ferrante: "Die Geschichte der getrennten Wege". Band 3 der Neapolitanischen Saga (Erwachsenenjahre). Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp, Berlin 2017. 542 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Schreiblich-Weibliche zieht uns wohin? Der dritte Teil von Elena Ferrantes Neapel-Tetralogie
Mit drei Monaten Verspätung gegenüber der ursprünglichen Ankündigung erscheint heute die deutsche Übersetzung von "Die Geschichte der getrennten Wege", des dritten Teils von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga. Die Fakten vorweg: Der Roman umfasst die Jahre 1969 bis 1976, die Heldinnen Lila und Elena sind am Anfang knapp 25 und am Ende 32 Jahre alt. Nachdem Teil zwei Lilas Eheleben - ihren brutalen Mann Stefano, ihre Affäre mit Nino, die Geburt von Gennaro, die Trennung, ihren Wegzug und die Arbeit in der Wurstfabrik - zum Thema hatte, erzählt Teil drei die Geschichte von Elenas Ehe. Er spiegelt den Vorgänger, sowohl die Erfahrungen als auch den Aufbau betreffend.
An Anfang und Ende von "Die Geschichte der getrennten Wege" stehen - einmal wieder - unerwartete Wiedersehen mit Nino Sarratore: das erste während einer Lesung aus Elenas Erstlingsroman, dessen Erscheinen Band zwei beschlossen hatte, und das zweite über Elenas Ehemann, der Nino an der Universität Florenz trifft. Dazwischen wird die Geschichte von Elenas Ehe mit Pietro Airota erzählt, einem Altphilologen und Spross einer einflussreichen Intellektuellenfamilie. Nach dem Überraschungserfolg ihres Romans erlangt Elena kurzzeitig Ruhm, hält Lesungen, schreibt engagierte Artikel. Nach der Hochzeit wird sie in kurzem Abstand zweimal schwanger und gebiert zwei Mädchen. Die Mutter- und Hausfrauenrolle frisst sie auf und entfremdet sie vom Ehemann; unter dem Einfluss ihrer Schwägerin Mariarosa wird sie Feministin. Am Ende stehen eine kapitale Ehekrise - und eben Nino.
Kurz: In Band zwei ging Lilas Ehe vor die Hunde, in Band drei widerfährt Elena das Gleiche; die eine war in Neapel auf brutale Weise gescheitert, die andere tut es gesittet in Florenz. Elenas Erfahrung ist eine sanftere, aber ebenfalls bitter enttäuschende "Erziehung des Herzens": Statt der brutalen Dominanz eines Wurstwarenhändlers lernt sie die Verschlossenheit und Unsinnlichkeit eines Gelehrten kennen. Pietro ist "ein missratener Airota", kein mondäner Linker wie Eltern und Schwester, sondern ein Spezialist, der nur seine Arbeit liebt, durch politisierte Studenten und Kollegen sowie die Unruhe des jungen Haushalts aber davon abgehalten wird. Elena wiederum unterstützt ihren Mann nicht, beklagt seinen Rückzug sowie die häusliche Arbeitslast, die er skrupellos auf sie abwälzt.
Wie gewohnt stellt Lilas Leben den Kontrapunkt, allerdings, wie der Titel "Die Geschichte der getrennten Wege" andeutet, in distanzierter Weise; nach einer kurzen Phase der Annäherung findet der Austausch bevorzugt am Telefon statt. Während Elena zu Beginn auf dem Gipfel steht, schlägt Lila sich mit ihrer entwürdigenden Arbeit in der Wurstfabrik herum; mit ihrem Sohn und dem schweigsamen Arbeiter Enzo lebt sie in einem Wohnsilo. Abends arbeiten die zwei sich per Fernstudium in die Informatik ein, eine berufliche Perspektive, die sie am Ende des Romans in bestbezahlte Positionen katapultiert - mittlerweile sind beide ein Paar geworden. In diesem Moment steht Elena vor dem Scheitern eines zweiten Romans sowie ihrer Ehe; Anlass zu Hoffnung bieten nur Nino und ein feministischer Essay.
Gemein haben die Freundinnen eine Annäherung an die mafiösen Solaras. Dieser Aspekt verweist auf die politisch-historische Ebene: In den sechziger und siebziger Jahren wird Italien von gewalttätigen Konflikten zwischen Links und Rechts zerrissen. Lila, Elena und viele ihrer Freunde stehen den Kommunisten nahe: Lila engagiert sich in der Wurstfabrik für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Elena schreibt Artikel in der Parteizeitung "L'Unità", andere arbeiten für Gewerkschaft und Partei, die Extremsten gehen in den Untergrund. Die Solaras hingegen unterstützen seit jeher die Faschisten und können auf die Sympathien des Rione, Elenas Viertel, zählen: "Die Verbindung zur Vergangenheit war nie wirklich abgerissen, der Rione liebte die Faschisten mit großer Mehrheit und verhätschelte sie, und sie tauchten in ihrer schwarzen Masse überall dort auf, wo eine Schlägerei in der Luft lag." Die Kommunisten in der Wurstfabrik lassen sie verdreschen; der Maurer Pasquale und andere Genossen schlagen zurück. Am Ende gibt es Tote, Franco, Elenas Ex-Freund aus Pisa-Zeiten, wird verkrüppelt. Es ist daher überraschend, dass sich die Freundinnen - Lila mehr, Elena weniger freiwillig - ins Fahrwasser der mittlerweile äußerst wohlhabenden Solara-Familie ziehen lassen, die halb Neapel kontrolliert.
Die politischen Ereignisse gehören zum Spannendsten, was Teil drei zu bieten hat. Leider wird die Dimension nicht umfassender dargestellt, und für die Geschichte der Heldin gilt leicht abgewandelt das, was Franco über Elenas Erstling sagt: "Mit Liebesgeschichten und krampfhaften Versuchen, sozial aufzusteigen, überdeckst du gerade das, was erzählenswert wäre." Das wäre eine konsequente Verknüpfung zwischen Geschichte und intimer Empfindung gewesen, wie Lampedusa oder Morante sie geschaffen hat. Natürlich kann niemand eine Autorin dazu anhalten, eine Epoche zu schildern, man kann wunderbar Hunderte Seiten über Gefühle schreiben - nur deutet Ferrante die historische Dynamik fortwährend an, zeigt ihre Effekte, ja macht sie zur Voraussetzung, ohne sie zu entwickeln.
Dagegen kann man wiederum einwenden, dass der Titel von Ferrantes Tetralogie klar sagt, was sie sein will, eine "Neapolitanische Saga" nämlich. Rein literarisch gesehen, birgt die Gattungswahl Schwächen: Ferrante wählt die intime Perspektive einer tendenziell überforderten Heldin (oft erreicht sie nur "ein fernes Echo" ihrer Zeit) und überfrachtet die Zweierkonstellation Lila/Elena; die Historie wird zum Dekor. Zudem neigt Ferrante zur Übertreibung. Die Abgründigkeit der Freundschaft wird überbetont, das Kippen zwischen Vertrautheit und Konkurrenz vorhersehbar. Ähnliches gilt für die eheliche Dauermisere fast aller jüngeren Figuren und für tendenziell schematische Charaktere. Ein Sonderpunkt sind effekthascherische Erzähltechniken: so der plötzliche Auftritt des Märchenprinzen oder der Abbruch auf dem Höhepunkt der Spannung.
Über diese Schwächen hinaus, die man als gattungsgegeben akzeptieren kann, ist man nach drei Bänden so weit, sich zu fragen, was der Gewinn einer und genauer dieser spezifisch weiblichen Sicht ist. Eingefordert wird sie anlässlich der Helden von 1968: "Und wie in den Kriegsfilmen, in denen es nur Männer gab, war es schwierig, sich dazugehörig zu fühlen, man konnte sie nur lieben, den eigenen Kopf ihren Gedanken anpassen und um ihr Schicksal bangen." Auch Zitate der Feministin Carla Lonzi weisen darauf hin: Ferrante will die Lücke füllen, mittels einer Frauengeschichte, ausgehend von Frauenerfahrungen, konzentriert auf Frauenbeziehungen. Der Haken dabei: Sollte es sich um ein Äquivalent zum Kriegsfilm handeln, dann produziert Ferrante selbst Spartenkunst, diesmal weibliche. Wenn der linksliberale "Nouvel Observateur" seine Besprechung mit der Frage "Warum gefallen die Romane von Elena Ferrante vor allem den Frauen?" übertitelt, ist das ein Indiz dafür, dass der Fall eingetreten ist.
Für Literatur, die per definitionem einen Universalitätsanspruch hat, ist das ein Problem. Für Ferrante auch, denn sie postuliert Allgemeingültigkeit durch den Schauplatz: "Würde sich alles, was ich gerade in der Schule lernte, verflüchtigen, würde der Rione wieder die Oberhand gewinnen, würde sich alles in einem schwärzlichen Schlamm vermischen, Tonfall und Umgangsformen, Anaximander und mein Vater, Folgóre und Don Achille, chemische Wertigkeiten und die Teiche, die Aoristen, Hesiod und die unverschämte, vulgäre Sprache der Solaras, so wie es übrigens um Lauf der Jahrtausende auch mit der zunehmend chaotischen, zunehmend heruntergekommenen Stadt geschehen war?" Dieser Satz setzt Elena zu ihrer Stadt parallel und allegorisiert sie gleichermaßen: Beide sind Frauen und Abstrakta, Zusammensetzungen, bei denen der Rione für eine niedere Herkunft, für das Schmutzig-Sinnliche und drohende Zersetzung steht. Das zeigt den Anspruch, der mit Elenas Perspektive verknüpft ist, den ihre Beschränktheit jedoch laufend dementiert.
Keine Frage, das Lesevergnügen ist da, wenn man sich vom Strom der Ereignisse, der Vielzahl an Schicksalen und der schönen Sprache, von Karin Krieger wunderbar übertragen, mitziehen lässt. Die Geschichte des ebenso erfolgreichen wie desillusionierenden Aufstiegs zweier Frauen ist spannend erzählt. Die Frage der literaturgeschichtlichen Bedeutung hingegen, die einige schon bei Erscheinen von Band eins geklärt sahen, ist offen - bestenfalls.
NIKLAS BENDER
Elena Ferrante: "Die Geschichte der getrennten Wege". Band 3 der Neapolitanischen Saga (Erwachsenenjahre). Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp, Berlin 2017. 542 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Wer immer das geschrieben hat ... gehört zu den besten Wortkünstlern, Menschengestaltern, Geschichtenerzählern unserer Zeit. ... Wieder in der wunderbaren Übersetzung von Karin Krieger.« Martin Ebel Süddeutsche Zeitung 20170912