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Liebe in Zeiten der Egozentrik: Olga Grjasnowa erzählt vom unaufgeräumten Gefühlshaushalt ihrer Generation
Es beginnt mit einer drastischen Szene: Eine junge Frau befindet sich in einer Zelle, von der es heißt, sie sehe aus "wie der Hauptschauplatz eines schlechten Film noir". Von dort wird sie dreimal täglich zum Verhör geholt, geschlagen und gedemütigt. Leyla ist aber keine Regimegegnerin, sie gehört zur Jeunesse dorée von Baku und hat an einem illegalen Autorennen teilgenommen, eines der "wenigen Vergehen, die sich nicht mit Geld regeln ließen". Eine Anklage wegen Hooliganismus droht indes nicht, zehn Tage Polizeihaft sind üblicherweise Strafe genug.
Die aus Baku gebürtige Berlinerin Olga Grjasnowa macht den Moment, in dem ihre selbstbewusste Heldin ganz unten angekommen ist, zum Drehpunkt ihrer Geschichte, zur Stunde null, von der aus im ersten Teil die Kapitelzählung zwecks Rückblende zurückläuft, ehe im zweiten erzählt wird, was danach geschah. Das Dreieck ist dabei die bestimmende geometrische Figur: Dreieckig ist die fragile Beziehungskiste, die im Mittelpunkt des Geschehens steht, ein Dreieck bilden auch die Schauplätze Baku, Moskau und Berlin. In Berlin, der "Stadt des Exils", haben die vom Bolschoi geflüchtete Ballerina Leyla und die Medienkunstabsolventin Jonoun aus Israel einander gefunden, ihre heftige Affäre bringt nicht nur Jonouns heterosexuelle Orientierung ins Wanken, sie gefährdet auch Leylas Ehe, sobald die junge Israelin in der Kreuzberger Wohnung des Paares einzieht.
Ehemann Altay stammt ebenfalls aus Baku, er arbeitet als Drogenarzt und ist, was kaum noch überrascht, schwul. Nichtsdestoweniger führen er und Leyla eine geradezu symbiotisch innige und auch sexuell erfüllte Beziehung: Was ursprünglich als Pro-forma-Ehe gedacht war, um den traditionellen Ansprüchen ihrer aserbaidschanischen Familien zu genügen, hat sich in echte Zuneigung verwandelt. Dabei hatte Altay nach dem Selbstmord seiner großen Liebe (eines jungen Süchtigen) eigentlich beschlossen, den großen Gefühlen abzuschwören. Wohingegen Leyla als Tochter einer egoistischen Mutter bisher die Erfahrung gemacht hatte, dass "Liebe aus Leistung" resultierte: "sie hatte früh begriffen, dass sie tanzen musste, um geliebt zu werden".
Mit ähnlicher Unerschrockenheit wie in ihrem vielgerühmten Debüt "Der Russe ist einer, der Birken liebt" erzählt Olga Grjasnowa vom bald unterkühlten, bald überhitzten, meist jedenfalls unaufgeräumten Gefühlshaushalt ihrer Generation und von möglichen Vorgeschichten: dem militärischen Drill der (post-)sowjetischen Ballettausbildung, der masochistischen Sucht nach schmerzhafter Beinarbeit, der Kasteiung durch grammgenaue Diät, der Kompensation durch Drogen und Sex; oder von der handfesten Gefahr für Leib und Leben, die Homosexuelle auf dem Boden der einstigen Sowjetunion wie eh und je zu erdulden haben.
Grjasnowa beschreibt mit messerscharfer Analytik eine brutale und lieblose Gesellschaft, das "Elend dickensschen Ausmaßes", das nach dem Zerfall der Sowjetunion um sich griff: "Daneben die neuen Russen, blonde Frauen im Zentrum von Moskau, die kollektiv Pamela Anderson kopierten und auf Pelze, Blutdiamanten und It-Bags setzten", während ihre "kastenförmigen" Männer unmissverständlich signalisierten, "dass Manieren ab sofort der Vergangenheit angehörten".
Auch das Aserbaidschan von heute, ein brutaler, ölgesättigter Operettenstaat in ewiger Anbetung des 2003 verstorbenen Präsidenten Haidar Alijew, hat eine Kaste hervorgebracht, die sich selbst genügt: "Der Westen hatte sie enttäuscht. Er war ihrer Kaufkraft nicht gewachsen" - und die Demokratie war nicht für Ausländer gemacht. Das mussten auch Altay und Leyla erfahren, die das gelobte Land gleichsam barfuß betraten: Um die Berliner Liberalität genießen zu können, empfiehlt es sich dringend, weiß und reich zu sein. Leyla setzt hier ihre verletzungsbedingt geknickte Karriere als Ballerina erfolgreich fort, aber sie weiß nicht, ob sie das wirklich will. Auch in Liebesdingen gelangt sie zur mäßig originellen Einsicht: "Der freie Wille ist eine schwierige Sache." So kehrt Leyla denn, um ihr "Leben für eine Weile zu verlassen", zurück nach Baku, in die privilegierten Künstlerkreise ihrer Eltern, und ihre Trabanten folgen ihr nach.
Rotzig und trotzig, voll Eigensinn und Kaltschnäuzigkeit, aber auch mit überraschendem Feingefühl begleitet die Erzählstimme die Hauptheldin, die ihr kerzengerades Balletteusenrückgrat der Welt wacker entgegenstemmt, sowie etliche treffend gezeichnete Episodenfiguren, die das erotische Dreiecksmotiv variieren. Sie alle tummeln sich, im Westen wie im Osten, in einer Sphäre des Schmutzes und der Verkommenheit, die bloß den einen Trost bietet: dass dem Dreck etwas Pittoreskes anhaftet. Ein großes Spatzensterben in Deutschland steht als Sinnbild für eine apokalyptische Bedrohung, auf der anderen Seite verkörpert der sagenhafte persische Vogel Simurgh unbeschwerte Weisheit und Selbsterkenntnis.
Dass Olga Grjasnowa mit der Exotik ihrer Schauplätze, der Extravaganz ihrer Milieus und dem Versprechen jugendlicher Authentizität ein Lesebedürfnis in deutschen Landen befriedigt, muss man ihr nicht zum Vorwurf machen: Offenkundig erzählt sie von Sachen, Ländern und Menschen, die sie gut kennt. Und sie tut es prägnant, sinnlich-anschaulich und mit Verve. Der Reigen fügt sich wie von selbst zum Generationenporträt, zu einer Vignette über die Liebe in den Zeiten der Cholera - die heute nicht mehr Aids heißt, sondern Egozentrik.
Auf einer privaten Liste von Dingen, die ihm seine Frau liebenswert machen, führt Altay einmal "die juristische Unschärfe ihrer Ehe" an. Dabei ist das Einzige, was an dieser Ehe nicht unscharf ist, ihr juristischer Status. Vor dem Gesetz sind die beiden Mann und Frau, und am Ende denken sie sogar über Nachwuchs nach. Die labile Jonoun bleibt ebenso auf der Strecke wie Farid, der rustikale Politikersohn, den Altay in Baku kennengelernt hat. In seinem und Leylas kaukasischem Kreidekreis ist letzten Endes nur Platz für zwei - oder drei. Wie schön: Vater, Mutter, Kind als postheteronormative Musterfamilie.
DANIELA STRIGL
Olga Grjasnowa: "Die juristische Unschärfe einer Ehe". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014. 272 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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"Die Liebe in Berlin ist nach allen Seiten offen: Olga Grjasnowa erzählt kunstvoll von der Polyamorie. ... Die stark verdichteten, berührenden Sätze sind nah an den Figuren. Dass Grjasnowa ihren verwirrenden Liebesreigen nicht entwirrt, ist kein Makel, sondern folgerichtig bei einer solch ungewöhnlichen Liebe." Moritz Scheper, Die Zeit, 01.10.14
"Grjasnowa erzählt eine Dreiecksgeschichte, die schmerzensschön ist und hochpolitisch, aber immer wieder auch komisch. Sie ist eine Meisterin der Pointen, so wie sie eine Meisterin der Metaphern ist. ... So sinnlich und anschaulich wie Grjasnowa schreiben auf Deutsch nur wenige." Tobias Becker, KulturSPIEGEL, 29.09.14
"Grjasnowa verfügt über ein ausgeprägtes Gefühl für Widersprüche im Detail." Ulrike Baureithel, Der Tagesspiegel, 23.08.14
"Mit ähnlicher Unerschrockenheit wie in ihrem vielgerühmten Debüt erzählt Olga Grjasnowa vom bald unterkühlten, bald überhitzten, meist jedenfalls unaufgeräumten Gefühlshaushalt ihrer Generation. ... Sie beschreibt mit messerscharfer Analytik eine brutale und lieblose Gesellschaft. ... Rotzig und trotzig, voll Eigensinn und Kaltschnäuzigkeit, aber auch mit überraschendem Feingefühl." Daniela Strigl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.09.14
"Wie Grjasnowa die Melancholie und den verzweifelten Lebenshunger einer neuen, zwischen individuellem Aufbruchsgefühl und sozialer Prekarisierung eingezwängten "Lost Generation" beschreibt, das sucht in der neueren deutschsprachigen Literatur seinesgleichen." Günter Kaindlstorfer, ORF, 14.09.14
"Ja, es gibt eine neue junge Stimme in der deutschsprachigen Literatur. Man sollte sie lesen und ihr zuhören." Annette Stiekele, Berliner Morgenpost, 19.09.14
"Eine multikulturelle Generation, die immer auf der Durchreise zu sein scheint, auch wenn sie verzweifelt versucht anzukommen: in einem Land oder bei einem Menschen." Beatrix Gerstenberger, Brigitte, 08.10.14
"Der Roman packt einen wie sehr gute Rockmusik." Katja Sturm, Gießener Anzeiger, 11.11.14