Jonathan Franzens Meisterwerg "Die Korrekturen" endlich ungekürzt Nach fast fünfzig Ehejahren hat Enid Lambert nur ein Ziel: ihre Familie zu einem letzten Weihnachtsfest um sich zu scharen. Alles könnte so schön sein, gemütlich, harmonisch. Doch Parkinson hat ihren Mann Alfred immer fester im Griff, und die drei erwachsenen Kinder durchleben eigene tragikomischen Malaisen. Gary steckt in einer Ehekrise. Chip versucht sich als Autor. Und Denise ist zwar eine Meisterköchin, hat aber in der Liebe kein Glück. Jonathan Franzen verbindet einzigartig Familien- und Gesellschaftsgeschichte.
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Eine ganz normale Familie
Die Lamberts: Eine ganz normale Familie. Alfred und Enid, die Eltern, wohnen in gesicherten Verhältnissen in einer kleinen Stadt im mittleren Westen. Ihre Kinder, Chip, Denise und Gary haben Anlagen zu Erfolg in ihren Berufen: Chip ist Literaturdozent, Denise ist eine mehr als mittelmäßige Gourmet-Köchin und Gary ist ein erfolgreicher Banker in Philadelphia. Eine ganz normale Familie der Jahrtausendwende. Und dennoch: "Überall im Haus läutete eine Alarmglocke, die außer Alfred und Enid niemand hörte. Es war die Alarmglocke der Angst."
Rekordbuch
Jonathan Franzens Roman Die Korrekturen ist seit langem das erfolgreichste Buch in den USA. Die Kritiker waren begeistert, und als Franzen sich weigerte, in der renommiertesten Talkshow Amerikas, bei Oprah Winfrey, aufzutreten, tat dies seinem Ruhm nicht wie erwartet Abbruch, sondern verhalf ihm zu Rekordverkäufen. Ganz nebenbei hatte er damit die bis dahin unbestritten größte Macht im amerikanischen Literaturbetrieb gestürzt: Oprah Winfrey kündigte an, in Zukunft keine Bücher mehr empfehlen zu wollen.
Portrait einer Generation
Nun kann sich der deutsche Leser selbst überzeugen: Die Korrekturen ist ein Roman, der beweist, dass große Literatur auch großen Erfolg haben kann. Mit virtuoser Leichtigkeit und leiser, wohlwollender Ironie blickt er hinter die Fassade der Lamberts. Jeder von ihnen ist auf seine Weise gescheitert. Wir erfahren, dass die Familienverhältnisse zerrüttet sind und sehen die Ängste, Neurosen, Sorgen aber auch Hoffungen bloß gelegt: Alfred leidet an der Parkinson und suhlt sich in seiner Krankheit, die er zum Vorwand für völlige Lethargie benutzt. Die krankhaft sparsame Enid hat Ängste ganz anderer Art: "Die Angst etwa, die von Rabattmarken kam", deren Frist abgelaufen sein könnte. Gary steckt in einer Ehekrise und wird von einer unterdrückten Depression gebeutelt, Chip hat eine Affäre mit einer seiner Studentinnen, verliert seinen Job und landet in der Illegalität. Denise aber, die immer Affären mit verheirateten Männern hat, setzt ihre Karriere aufs Spiel, als sie sich sowohl mit ihrem Chef als auch mit dessen Frau einlässt.
Eine ganz normale Familie also. Enid versucht schließlich verzweifelt, die zerfallende Familie noch einmal zu versammeln und lädt sie zum Weihnachtstag nach St. Jude. Ein letzter Versuch der Rettung. Werden sie kommen?
Franzen ist ein wunderbarer Erzähler, der mit Die Korrekturen einen bemerkenswerten, fast klassischen Gesellschaftsroman geschaffen hat, der ein enormes Identifikationspotential auch für den deutschen Leser bereit hält. Denn die Lebensmodelle der Eltern korrigieren zu wollen und damit zu scheitern, ist ein globales Ereignis. (Andreas Rötzer)
Jonathan Franzen: "Die Korrekturen" - ein Roman wie "Die Buddenbrooks"
Es darf wieder über Literatur gesprochen werden. Über den sorgsamen Aufbau von Charakteren und ihren Beziehungen, über Dramaturgie und den Rhythmus der Sprache: In seinem Epos "Die Korrekturen" erzählt der Amerikaner Jonathan Franzen auf 782 Seiten die Geschichte der Familie Lambert - und hat dabei keine Scheu vor bösen Scherzen und tieferer Bedeutung. US-Kritiker haben "Die Korrekturen" mit Thomas Manns "Buddenbrooks" verglichen, vermutlich, weil Franzen in der Tradition der Moderne vom Verfall einer Famillie erzählt. Einem Verfall allerdings, mit dem Enid sich nicht abfinden mag: Nach fast 50 Ehejahren schleppt sie ihren an Alzheimer leidenden Gatten Alfred auf eine Kreuzfahrt. Die drei Kinder dieser Vorzeige-Spießer leiden derweil am Leben, jedes auf seine Weise. Denise macht Karriere als Gourmet-Köchin und privat alles falsch. Gary ist Banker, Alkoholiker und unglücklich verheiratet. Der Philologe Chip pflegt einen gefährlichen Hang zu Studentinnen. Während jeder so vor sich hin scheitert, beschließt Enid, ihre Kinder noch einmal um den heimischen Christbaum zu versammeln. Auf dieses erhoffte Ende hin erzählt Franzen seine Saga. Mit Bedacht, Gefühl und so unterhaltsam, wie Literatur eben auch sein kann. Am Ende mag man gar nicht aufhören. (Hörzu)
Die Lamberts: Eine ganz normale Familie. Alfred und Enid, die Eltern, wohnen in gesicherten Verhältnissen in einer kleinen Stadt im mittleren Westen. Ihre Kinder, Chip, Denise und Gary haben Anlagen zu Erfolg in ihren Berufen: Chip ist Literaturdozent, Denise ist eine mehr als mittelmäßige Gourmet-Köchin und Gary ist ein erfolgreicher Banker in Philadelphia. Eine ganz normale Familie der Jahrtausendwende. Und dennoch: "Überall im Haus läutete eine Alarmglocke, die außer Alfred und Enid niemand hörte. Es war die Alarmglocke der Angst."
Rekordbuch
Jonathan Franzens Roman Die Korrekturen ist seit langem das erfolgreichste Buch in den USA. Die Kritiker waren begeistert, und als Franzen sich weigerte, in der renommiertesten Talkshow Amerikas, bei Oprah Winfrey, aufzutreten, tat dies seinem Ruhm nicht wie erwartet Abbruch, sondern verhalf ihm zu Rekordverkäufen. Ganz nebenbei hatte er damit die bis dahin unbestritten größte Macht im amerikanischen Literaturbetrieb gestürzt: Oprah Winfrey kündigte an, in Zukunft keine Bücher mehr empfehlen zu wollen.
Portrait einer Generation
Nun kann sich der deutsche Leser selbst überzeugen: Die Korrekturen ist ein Roman, der beweist, dass große Literatur auch großen Erfolg haben kann. Mit virtuoser Leichtigkeit und leiser, wohlwollender Ironie blickt er hinter die Fassade der Lamberts. Jeder von ihnen ist auf seine Weise gescheitert. Wir erfahren, dass die Familienverhältnisse zerrüttet sind und sehen die Ängste, Neurosen, Sorgen aber auch Hoffungen bloß gelegt: Alfred leidet an der Parkinson und suhlt sich in seiner Krankheit, die er zum Vorwand für völlige Lethargie benutzt. Die krankhaft sparsame Enid hat Ängste ganz anderer Art: "Die Angst etwa, die von Rabattmarken kam", deren Frist abgelaufen sein könnte. Gary steckt in einer Ehekrise und wird von einer unterdrückten Depression gebeutelt, Chip hat eine Affäre mit einer seiner Studentinnen, verliert seinen Job und landet in der Illegalität. Denise aber, die immer Affären mit verheirateten Männern hat, setzt ihre Karriere aufs Spiel, als sie sich sowohl mit ihrem Chef als auch mit dessen Frau einlässt.
Eine ganz normale Familie also. Enid versucht schließlich verzweifelt, die zerfallende Familie noch einmal zu versammeln und lädt sie zum Weihnachtstag nach St. Jude. Ein letzter Versuch der Rettung. Werden sie kommen?
Franzen ist ein wunderbarer Erzähler, der mit Die Korrekturen einen bemerkenswerten, fast klassischen Gesellschaftsroman geschaffen hat, der ein enormes Identifikationspotential auch für den deutschen Leser bereit hält. Denn die Lebensmodelle der Eltern korrigieren zu wollen und damit zu scheitern, ist ein globales Ereignis. (Andreas Rötzer)
Jonathan Franzen: "Die Korrekturen" - ein Roman wie "Die Buddenbrooks"
Es darf wieder über Literatur gesprochen werden. Über den sorgsamen Aufbau von Charakteren und ihren Beziehungen, über Dramaturgie und den Rhythmus der Sprache: In seinem Epos "Die Korrekturen" erzählt der Amerikaner Jonathan Franzen auf 782 Seiten die Geschichte der Familie Lambert - und hat dabei keine Scheu vor bösen Scherzen und tieferer Bedeutung. US-Kritiker haben "Die Korrekturen" mit Thomas Manns "Buddenbrooks" verglichen, vermutlich, weil Franzen in der Tradition der Moderne vom Verfall einer Famillie erzählt. Einem Verfall allerdings, mit dem Enid sich nicht abfinden mag: Nach fast 50 Ehejahren schleppt sie ihren an Alzheimer leidenden Gatten Alfred auf eine Kreuzfahrt. Die drei Kinder dieser Vorzeige-Spießer leiden derweil am Leben, jedes auf seine Weise. Denise macht Karriere als Gourmet-Köchin und privat alles falsch. Gary ist Banker, Alkoholiker und unglücklich verheiratet. Der Philologe Chip pflegt einen gefährlichen Hang zu Studentinnen. Während jeder so vor sich hin scheitert, beschließt Enid, ihre Kinder noch einmal um den heimischen Christbaum zu versammeln. Auf dieses erhoffte Ende hin erzählt Franzen seine Saga. Mit Bedacht, Gefühl und so unterhaltsam, wie Literatur eben auch sein kann. Am Ende mag man gar nicht aufhören. (Hörzu)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2002Jeder Satz ein Abenteuer im Wald
Warum man Jonathan Franzen genial nennen möchte: "Die Korrekturen" sind ein Juwel im abgetragenen Gewand des Familienromans
Ein Roman, der es sich zum Ziel gesetzt hat, auf achthundert Seiten jeder seiner zahllosen, detailliert gezeichneten Figuren ein Übermaß an Zuwendung, Verständnis, Liebe und Gerechtigkeit entgegenzubringen, müßte eigentlich einem umgestürzten Honigtopf gleichen: Zäh, süß und behäbig sucht sich eine klebrige Masse ihren Weg, Zuckerlava, vor der sich jeder Leser in Sicherheit bringen muß, will er nicht darin erstarren und zu Tode karamelisiert werden.
Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" ist ein solches Buch. Aber man überlebt diese achthundert Seiten nicht nur unversehrt, sondern geht mit jenem eigentümlichen Gefühl aus der Lektüre hervor, das nur große Literatur wecken kann: Man fühlt sich beschenkt und bereichert, auch wenn man eigentlich nichts, wovon man gerade gelesen hat, selbst erleben möchte.
Das gilt natürlich besonders für die zahlreichen seelischen und körperlichen Gebrechen, die in diesem Buch eine große Rolle spielen. Wenn es stimmt, daß fast jeder von uns früher oder später die Alzheimersche Krankheit bekommen würde, die meisten aber sterben, bevor sie ausbricht, sollte Franzens Roman "Die Korrekturen" von jedermann gelesen werden. Beklemmender, genauer und anrührender ist wohl noch nie beschrieben worden, wie ein Mensch sein Gedächtnis, seinen Verstand, seine Umwelt und schließlich auch sich selbst verliert, wie es sich anfühlen mag, wenn die eigene Persönlichkeit nicht mehr ist als ein Gesicht, dem man auf der Straße in der Menge begegnet: Es kommt einem bekannt vor, aber es könnte ebensogut eine Verwechslung sein.
Und auch die Worte gehen verloren: "Dann begann er einen Satz: ,Ich habe -', doch wenn er überrumpelt wurde, war jeder Satz ein Abenteuer im Wald, und sobald er die Lichtung, an der er den Wald betreten hatte, nicht mehr sah, bemerkte er, daß die Brotkrumen, die er zu seiner Orientierung hatte fallen lassen, von Vögeln aufgepickt worden waren, leisen, flinken, pfeilgeschwinden Dingern, die er in der Dunkelheit nicht recht ausmachen konnte, obwohl sie ihn in ihrem Hunger so zahlreich umschwärmten, daß es schien, als wären sie die Dunkelheit, als wäre die Dunkelheit nicht gleichförmig, keine Abwesenheit von Licht, sondern etwas Wimmelndes . . ."
Es ist ein verwirrter alter Vogelfänger, von dem hier ganz am Anfang des Buches die Rede ist in einem Satz, der noch weitergeht, sich über weit mehr als eine Seite erstreckt und an dessen Ende sich die vermißten Wort doch noch einfinden: ". . . ,habe gepackt', hörte er sich sagen." Aber es ist Donnerstag, und die Reise soll erst am Sonntag beginnen.
Mit den Brotkrumen aus Grimms Märchen gibt dieser Satz die Richtung vor, in die die Reise des alten Mannes führen wird: in ein Kinder- und Märchenland, heiter und schrecklich zugleich, wo man verletzlich und wehrlos lebt, unbekümmert und gejagt von den schrecklichsten Furien. Alfreds Krankengeschichte ist die Geschichte von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.
Die tyrannische, engstirnige, bigotte, rassistische, ultrakonservative, von ihrer Familie gehaßte und gefürchtete Figur im Zentrum dieses erstaunlichen Buches ist der an Parkinson und Alzheimer erkrankte Alfred Lambert, ein hünenhafter Eisenbahningenieur, der sein Leben auf dem Reißbrett entwarf, ein grausamer Pedant, unerschütterlich in seinem Entschluß, nie das eingefahrene Gleis zu verlassen. Schon der gesunde Alfred war eine Geißel seiner Familie, aber der kranke Al ist schlicht unerträglich. Gesund erinnerte er an die schrecklichen alten Männer Thomas Bernhards: starrsinnig, mit einem guten Schuß Bösartigkeit versehen, egoman, selbstgerecht und aus falsch verstandener Prinzipientreue zur Grausamkeit neigend. Ein Ekel aus Einsamkeit, Welthaß und Verzweiflung. Der kranke Al ist all dies noch immer und zudem ein jammervoller Lear auf der Heide: eine verlassene, verlorene Kinderseele.
Daß dieser Alfred von seiner Frau Enid und seinen drei Kindern Gary, Chip und Denise geliebt wird, ist eines jener profanen Mirakel, wie sie in den schlimmsten Familien vorkommen. Aber daß der Leser Mitleid entwickelt und schließlich eine Empfindung verspürt, die über Sympathie noch hinausgeht, ist eines jener Wunder, wie sie nur große Literatur vollbringt. Kein Zweifel, Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" wird dem Ruf, der ihm aus Amerika vorauseilte, gerecht: Franzen braucht den Vergleich mit DeLillo oder Gaddis nicht zu scheuen, auch wenn er noch nicht mit ihnen auf einer Stufe steht.
Auf fast achthundert Seiten erzählt "Die Korrekturen" eine Familiengeschichte, die weit mehr mit der Erzähltradition des neunzehnten Jahrhunderts zu tun hat als mit der Postmoderne, der die beiden ersten, bislang unübersetzten Bücher des jungen Amerikaners verpflichtet waren: "The Twenty-Seventh City" (1988) und "Strong Motion" von 1992. Franzen selbst hat diese Bücher, die zwar von den Kritikern gelobt wurden, aber kaum Leser fanden, später als Umwege verstanden: Es waren sozialkritische, gesellschaftlich engagierte Bücher, die vor den Familiengeschichten, die in ihnen steckten, panisch flüchteten.
Und auch die Arbeit an "Die Korrekturen" verlief nicht auf geraden Gleisen: Jahrelang schrieb Franzen für den Papierkorb, bevor er Form und Tonfall gefunden hatte, die ihm angemessen schienen: den panoramatischen Familienroman, erzählt von einem agil-beweglichen allwissenden Erzähler, hochkomisch und brutal, sarkastisch und zart. Franzen läßt keinen Winkel im Seelenleben seiner Figuren unberührt, aber je schonungsloser er deren Ängste, Nöte und Defekte zeigt, desto sicherer können sie sein, mit Milde betrachtet zu werden: von ihrem Erzähler ebenso wie von dessen Lesern.
Die Erzählweise ist realistisch, aber immer bereit zu einem kleinen Ausflug: nostalgische Schlenker in die Gefilde der Postmoderne, Reminiszenzen an die Montagetechnik der klassischen Moderne, zuweilen exzessiver Gebrauch von Fachtermini der verschiedensten Sonderwelten, darunter Biowissenschaften, Eisenbahnbau, Investmentbanking. Franzen versammelt nicht alles Wissen seiner Zeit, aber er widmet sich ausführlich jenen Themen, die mit seinen Figuren verknüpft sind: Gentechnik, Aktienboom und Börsenkrach, der Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften und die Entfesselung des Kapitalismus, die Internetrevolution und die Tyrannei der political correctness. Deren Opfer wird Chip, der jüngste Sohn von Alfred und Enid Lambert, aufgewachsen in St. Jude, einer Kleinstadt im Mittleren Westen, dem letzten Refugium echter amerikanischer Werte, der family values. Ehre, Treue, Hilfsbereitschaft, soziales Engagement, Tradition sind nur einige Säulen, auf denen hier die Gemeinschaft noch immer zu ruhen scheint.
Die Handlung setzt ein, als Chips Leben den Tiefpunkt erreicht hat: Die Unikarriere ist ruiniert, die anstehende Ernennung zum Professor fiel einer Affäre mit einer Studentin zum Opfer. Chip wird von der Uni gejagt, seine Versuche, das Desaster in einen Triumph zu verwandeln, indem er das Erlebte in einem Drehbuch verarbeitet, scheinen wenig erfolgversprechend. Das Skript besteht vor allem aus einem sechsseitigen Anfangsmonolog über Phallusängste im Drama der Tudorzeit und etliche an die weibliche Brust gerichtete Adorationsszenen. Eine einzige Peinlichkeit, wie dem Autor in einem lichten Moment aufgeht. Auf die Sprünge geholfen hat ihm dabei seine Freundin Julia, die das geschmacklose Skript zum Anlaß nimmt, ihren chronisch mittellosen Freund zu verlassen. Nun beginnt eine groteske Jagd nach dem Manuskript, denn Chip will einige Korrekturen vornehmen, bevor die Produzentin das Machwerk lesen kann.
Korrekturversuche durchziehen das Buch bis zum bitteren Ende, das ironisch und hoffnungsvoll zugleich ist. Korrekturen sind die unablässigen Verbesserungsversuche im Leben von Franzens Figuren. Fehler sollen revidiert, Schwächen behoben, Untugenden ausgemerzt werden: das Leben, ein Dauerlauf auf dem Korrekturband. Daß dieses Bild nicht mehr recht funktioniert, weil es kaum noch Schreibmaschinen gibt, paßt zu Alfreds Sicht auf die Welt: Liebgewordene Gegenstände verschwinden, die Dingwelt verändert sich unablässig, das Bewährte wird gegen das Neue, Minderwertige ausgetauscht - ein Korrekturprozeß, der dringend der Korrektur bedürfte.
Daß Gary, der älteste Sohn der Lamberts, sein Leben als Korrektur der Ehe seiner Eltern anlegt und als Sohn eines Eisenbahningenieurs seine späte Erfüllung in einer Modelleisenbahn findet, zeigt, wie groß die Gefahr ist, daß der Korrekturversuch die Karikatur zeitigt. Und es zeigt, von welcher Art Franzens Humor ist: Fast immer hält er die schlimmstmögliche, lächerlichste Wendung für die beste Pointe. Schon hundert Seiten bevor Starköchin Denise mit der Frau ihres Geldgebers Ray ein Verhältnis beginnt, weiß man, was passieren wird. Ebenso weiß man, daß Denise am Ende doch noch mit Ray ins Bett geht, weil dies die effektvollste Weise ist, das Verhältnis mit Rays Frau Robin zu beenden. Am Ende ist Denise ihren Job, ihre Geliebte und ihren Geldgeber los. Geschieden war sie natürlich vorher schon.
Franzen hat einen ausgeprägten Hang zu billigen Effekten, die er jedoch so inszeniert, daß man sie ihm nicht übelnimmt. Er scheut weder die Nähe zur Seifenoper noch zum Slapstick. Chip etwa wirkt über weite Strecken des Buches wie eine Erfindung Woody Allens. Wer dessen Bücher gelesen hat, wird manches wiedererkennen, vor allem jene Haltung, der das Versagen als einzig denkbare Lebensform erscheint und die die Niete in einen Adelsstand eigener Art erhebt. Aber jener Chip, der seine Eltern zum Essen einlädt und sie ungerührt sitzenläßt, um seinem Skript hinterherzujagen, später mit dem Exmann seiner Exfreundin von Litauen aus Rache am Kapitalismus nehmen will, indem er amerikanische Kleinanleger per Internet in betrügerische Geschäfte verwickelt und bei der Ausreise beinahe von der Miliz erschossen wird, jener notorisch unzuverlässige Chip erscheint am Ende wider Erwarten doch zum letzten gemeinsamen Weihnachtsfest der Familie in St. Jude.
Das Fest, Mutter Enids letzter großer Wunsch an die Kinder, ist die Klammer, mit der Franzen sein ausuferndes Werk zusammenhält, um dann sorgfältig und in aller Seelenruhe die einzelnen Motivfäden zu vernähen, bis der Roman, seinem Umfang zum Trotz, am Ende kompakt und geschlossen wirkt wie ein Rollbraten. Und das ist wahrlich keine kleine Leistung.
Das wichtigste dieser Leitmotive ist dabei natürlich der Begriff der Korrektur. In den verschiedensten Zusammenhängen wird er als Selbstmanipulation entworfen. Die Pillen, die ihm seine Studentin gibt, bevor sie mit Chip ins Bett geht, sind dieselben, die Enid vom Arzt auf der Luxus-Kreuzfahrt bekommt und die schließlich Al von seinem Leid befreien sollen. Gemütsaufheller, die den labilen Chip in Euphorie und die verbitterte Enid in Zufriedenheit versetzen. Nur bei Al helfen sie nicht. Er hatte mit seinen Forschungen im Hobbykeller wichtige Grundlagen für den Pharmakonzern gelegt und wird nun mit einem Butterbrot abgespeist, während der Investmentbanker Gary Tausende an den Aktien des Unternehmens verdient, das seinen Vater betrogen hat.
Vor dem Hintergrund der Biotechnik erscheint der Begriff der Korrektur als Chiffre für den Glauben an die Perfektionierbarkeit des Menschen. Die Vorstufe dazu ist ein als unablässiger Optimierungsprozeß verstandenes Leben. Hier schimmert Franzens Neigung zur Sozialkritik durch das abgetragene Gewand des Familienromans. Aber wohl nirgendwo funkelt diese Neigung so hell wie in einer Szene der Kreuzfahrt-Passagen. Während Enid einem schmierigen Börsenguru lauscht, der über den Sturz der Aktienkurse referiert und den reichen Rentnern auf dem Luxusschiff verraten will, wie man die Kurskorrekturen der Börse überlebt, kippt Alfred vom Oberdeck in die See. Franzen berechnet, daß Enid, in Gedanken beim freien Fall der Kurswerte, etwa vier Zehntelsekunden Zeit hat, um in dem "werthaltigen Etwas", das am Fenster vorbeirauscht, ihren Mann zu erkennen, Zeit genug, um den Ausdruck auf dem Gesicht dieses Ehemannes wahrzunehmen: ". . . die beinahe jugendliche Schönheit, den sonderbaren Frieden, denn wer hätte je geahnt, mit welcher Anmut der wütende Mann fallen würde?" Es liegt an Szenen wie dieser, wenn man Jonathan Franzen genial nennen möchte.
Jonathan Franzen: "Die Korrekturen". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bettina Abarbanell. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 782 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum man Jonathan Franzen genial nennen möchte: "Die Korrekturen" sind ein Juwel im abgetragenen Gewand des Familienromans
Ein Roman, der es sich zum Ziel gesetzt hat, auf achthundert Seiten jeder seiner zahllosen, detailliert gezeichneten Figuren ein Übermaß an Zuwendung, Verständnis, Liebe und Gerechtigkeit entgegenzubringen, müßte eigentlich einem umgestürzten Honigtopf gleichen: Zäh, süß und behäbig sucht sich eine klebrige Masse ihren Weg, Zuckerlava, vor der sich jeder Leser in Sicherheit bringen muß, will er nicht darin erstarren und zu Tode karamelisiert werden.
Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" ist ein solches Buch. Aber man überlebt diese achthundert Seiten nicht nur unversehrt, sondern geht mit jenem eigentümlichen Gefühl aus der Lektüre hervor, das nur große Literatur wecken kann: Man fühlt sich beschenkt und bereichert, auch wenn man eigentlich nichts, wovon man gerade gelesen hat, selbst erleben möchte.
Das gilt natürlich besonders für die zahlreichen seelischen und körperlichen Gebrechen, die in diesem Buch eine große Rolle spielen. Wenn es stimmt, daß fast jeder von uns früher oder später die Alzheimersche Krankheit bekommen würde, die meisten aber sterben, bevor sie ausbricht, sollte Franzens Roman "Die Korrekturen" von jedermann gelesen werden. Beklemmender, genauer und anrührender ist wohl noch nie beschrieben worden, wie ein Mensch sein Gedächtnis, seinen Verstand, seine Umwelt und schließlich auch sich selbst verliert, wie es sich anfühlen mag, wenn die eigene Persönlichkeit nicht mehr ist als ein Gesicht, dem man auf der Straße in der Menge begegnet: Es kommt einem bekannt vor, aber es könnte ebensogut eine Verwechslung sein.
Und auch die Worte gehen verloren: "Dann begann er einen Satz: ,Ich habe -', doch wenn er überrumpelt wurde, war jeder Satz ein Abenteuer im Wald, und sobald er die Lichtung, an der er den Wald betreten hatte, nicht mehr sah, bemerkte er, daß die Brotkrumen, die er zu seiner Orientierung hatte fallen lassen, von Vögeln aufgepickt worden waren, leisen, flinken, pfeilgeschwinden Dingern, die er in der Dunkelheit nicht recht ausmachen konnte, obwohl sie ihn in ihrem Hunger so zahlreich umschwärmten, daß es schien, als wären sie die Dunkelheit, als wäre die Dunkelheit nicht gleichförmig, keine Abwesenheit von Licht, sondern etwas Wimmelndes . . ."
Es ist ein verwirrter alter Vogelfänger, von dem hier ganz am Anfang des Buches die Rede ist in einem Satz, der noch weitergeht, sich über weit mehr als eine Seite erstreckt und an dessen Ende sich die vermißten Wort doch noch einfinden: ". . . ,habe gepackt', hörte er sich sagen." Aber es ist Donnerstag, und die Reise soll erst am Sonntag beginnen.
Mit den Brotkrumen aus Grimms Märchen gibt dieser Satz die Richtung vor, in die die Reise des alten Mannes führen wird: in ein Kinder- und Märchenland, heiter und schrecklich zugleich, wo man verletzlich und wehrlos lebt, unbekümmert und gejagt von den schrecklichsten Furien. Alfreds Krankengeschichte ist die Geschichte von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.
Die tyrannische, engstirnige, bigotte, rassistische, ultrakonservative, von ihrer Familie gehaßte und gefürchtete Figur im Zentrum dieses erstaunlichen Buches ist der an Parkinson und Alzheimer erkrankte Alfred Lambert, ein hünenhafter Eisenbahningenieur, der sein Leben auf dem Reißbrett entwarf, ein grausamer Pedant, unerschütterlich in seinem Entschluß, nie das eingefahrene Gleis zu verlassen. Schon der gesunde Alfred war eine Geißel seiner Familie, aber der kranke Al ist schlicht unerträglich. Gesund erinnerte er an die schrecklichen alten Männer Thomas Bernhards: starrsinnig, mit einem guten Schuß Bösartigkeit versehen, egoman, selbstgerecht und aus falsch verstandener Prinzipientreue zur Grausamkeit neigend. Ein Ekel aus Einsamkeit, Welthaß und Verzweiflung. Der kranke Al ist all dies noch immer und zudem ein jammervoller Lear auf der Heide: eine verlassene, verlorene Kinderseele.
Daß dieser Alfred von seiner Frau Enid und seinen drei Kindern Gary, Chip und Denise geliebt wird, ist eines jener profanen Mirakel, wie sie in den schlimmsten Familien vorkommen. Aber daß der Leser Mitleid entwickelt und schließlich eine Empfindung verspürt, die über Sympathie noch hinausgeht, ist eines jener Wunder, wie sie nur große Literatur vollbringt. Kein Zweifel, Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" wird dem Ruf, der ihm aus Amerika vorauseilte, gerecht: Franzen braucht den Vergleich mit DeLillo oder Gaddis nicht zu scheuen, auch wenn er noch nicht mit ihnen auf einer Stufe steht.
Auf fast achthundert Seiten erzählt "Die Korrekturen" eine Familiengeschichte, die weit mehr mit der Erzähltradition des neunzehnten Jahrhunderts zu tun hat als mit der Postmoderne, der die beiden ersten, bislang unübersetzten Bücher des jungen Amerikaners verpflichtet waren: "The Twenty-Seventh City" (1988) und "Strong Motion" von 1992. Franzen selbst hat diese Bücher, die zwar von den Kritikern gelobt wurden, aber kaum Leser fanden, später als Umwege verstanden: Es waren sozialkritische, gesellschaftlich engagierte Bücher, die vor den Familiengeschichten, die in ihnen steckten, panisch flüchteten.
Und auch die Arbeit an "Die Korrekturen" verlief nicht auf geraden Gleisen: Jahrelang schrieb Franzen für den Papierkorb, bevor er Form und Tonfall gefunden hatte, die ihm angemessen schienen: den panoramatischen Familienroman, erzählt von einem agil-beweglichen allwissenden Erzähler, hochkomisch und brutal, sarkastisch und zart. Franzen läßt keinen Winkel im Seelenleben seiner Figuren unberührt, aber je schonungsloser er deren Ängste, Nöte und Defekte zeigt, desto sicherer können sie sein, mit Milde betrachtet zu werden: von ihrem Erzähler ebenso wie von dessen Lesern.
Die Erzählweise ist realistisch, aber immer bereit zu einem kleinen Ausflug: nostalgische Schlenker in die Gefilde der Postmoderne, Reminiszenzen an die Montagetechnik der klassischen Moderne, zuweilen exzessiver Gebrauch von Fachtermini der verschiedensten Sonderwelten, darunter Biowissenschaften, Eisenbahnbau, Investmentbanking. Franzen versammelt nicht alles Wissen seiner Zeit, aber er widmet sich ausführlich jenen Themen, die mit seinen Figuren verknüpft sind: Gentechnik, Aktienboom und Börsenkrach, der Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften und die Entfesselung des Kapitalismus, die Internetrevolution und die Tyrannei der political correctness. Deren Opfer wird Chip, der jüngste Sohn von Alfred und Enid Lambert, aufgewachsen in St. Jude, einer Kleinstadt im Mittleren Westen, dem letzten Refugium echter amerikanischer Werte, der family values. Ehre, Treue, Hilfsbereitschaft, soziales Engagement, Tradition sind nur einige Säulen, auf denen hier die Gemeinschaft noch immer zu ruhen scheint.
Die Handlung setzt ein, als Chips Leben den Tiefpunkt erreicht hat: Die Unikarriere ist ruiniert, die anstehende Ernennung zum Professor fiel einer Affäre mit einer Studentin zum Opfer. Chip wird von der Uni gejagt, seine Versuche, das Desaster in einen Triumph zu verwandeln, indem er das Erlebte in einem Drehbuch verarbeitet, scheinen wenig erfolgversprechend. Das Skript besteht vor allem aus einem sechsseitigen Anfangsmonolog über Phallusängste im Drama der Tudorzeit und etliche an die weibliche Brust gerichtete Adorationsszenen. Eine einzige Peinlichkeit, wie dem Autor in einem lichten Moment aufgeht. Auf die Sprünge geholfen hat ihm dabei seine Freundin Julia, die das geschmacklose Skript zum Anlaß nimmt, ihren chronisch mittellosen Freund zu verlassen. Nun beginnt eine groteske Jagd nach dem Manuskript, denn Chip will einige Korrekturen vornehmen, bevor die Produzentin das Machwerk lesen kann.
Korrekturversuche durchziehen das Buch bis zum bitteren Ende, das ironisch und hoffnungsvoll zugleich ist. Korrekturen sind die unablässigen Verbesserungsversuche im Leben von Franzens Figuren. Fehler sollen revidiert, Schwächen behoben, Untugenden ausgemerzt werden: das Leben, ein Dauerlauf auf dem Korrekturband. Daß dieses Bild nicht mehr recht funktioniert, weil es kaum noch Schreibmaschinen gibt, paßt zu Alfreds Sicht auf die Welt: Liebgewordene Gegenstände verschwinden, die Dingwelt verändert sich unablässig, das Bewährte wird gegen das Neue, Minderwertige ausgetauscht - ein Korrekturprozeß, der dringend der Korrektur bedürfte.
Daß Gary, der älteste Sohn der Lamberts, sein Leben als Korrektur der Ehe seiner Eltern anlegt und als Sohn eines Eisenbahningenieurs seine späte Erfüllung in einer Modelleisenbahn findet, zeigt, wie groß die Gefahr ist, daß der Korrekturversuch die Karikatur zeitigt. Und es zeigt, von welcher Art Franzens Humor ist: Fast immer hält er die schlimmstmögliche, lächerlichste Wendung für die beste Pointe. Schon hundert Seiten bevor Starköchin Denise mit der Frau ihres Geldgebers Ray ein Verhältnis beginnt, weiß man, was passieren wird. Ebenso weiß man, daß Denise am Ende doch noch mit Ray ins Bett geht, weil dies die effektvollste Weise ist, das Verhältnis mit Rays Frau Robin zu beenden. Am Ende ist Denise ihren Job, ihre Geliebte und ihren Geldgeber los. Geschieden war sie natürlich vorher schon.
Franzen hat einen ausgeprägten Hang zu billigen Effekten, die er jedoch so inszeniert, daß man sie ihm nicht übelnimmt. Er scheut weder die Nähe zur Seifenoper noch zum Slapstick. Chip etwa wirkt über weite Strecken des Buches wie eine Erfindung Woody Allens. Wer dessen Bücher gelesen hat, wird manches wiedererkennen, vor allem jene Haltung, der das Versagen als einzig denkbare Lebensform erscheint und die die Niete in einen Adelsstand eigener Art erhebt. Aber jener Chip, der seine Eltern zum Essen einlädt und sie ungerührt sitzenläßt, um seinem Skript hinterherzujagen, später mit dem Exmann seiner Exfreundin von Litauen aus Rache am Kapitalismus nehmen will, indem er amerikanische Kleinanleger per Internet in betrügerische Geschäfte verwickelt und bei der Ausreise beinahe von der Miliz erschossen wird, jener notorisch unzuverlässige Chip erscheint am Ende wider Erwarten doch zum letzten gemeinsamen Weihnachtsfest der Familie in St. Jude.
Das Fest, Mutter Enids letzter großer Wunsch an die Kinder, ist die Klammer, mit der Franzen sein ausuferndes Werk zusammenhält, um dann sorgfältig und in aller Seelenruhe die einzelnen Motivfäden zu vernähen, bis der Roman, seinem Umfang zum Trotz, am Ende kompakt und geschlossen wirkt wie ein Rollbraten. Und das ist wahrlich keine kleine Leistung.
Das wichtigste dieser Leitmotive ist dabei natürlich der Begriff der Korrektur. In den verschiedensten Zusammenhängen wird er als Selbstmanipulation entworfen. Die Pillen, die ihm seine Studentin gibt, bevor sie mit Chip ins Bett geht, sind dieselben, die Enid vom Arzt auf der Luxus-Kreuzfahrt bekommt und die schließlich Al von seinem Leid befreien sollen. Gemütsaufheller, die den labilen Chip in Euphorie und die verbitterte Enid in Zufriedenheit versetzen. Nur bei Al helfen sie nicht. Er hatte mit seinen Forschungen im Hobbykeller wichtige Grundlagen für den Pharmakonzern gelegt und wird nun mit einem Butterbrot abgespeist, während der Investmentbanker Gary Tausende an den Aktien des Unternehmens verdient, das seinen Vater betrogen hat.
Vor dem Hintergrund der Biotechnik erscheint der Begriff der Korrektur als Chiffre für den Glauben an die Perfektionierbarkeit des Menschen. Die Vorstufe dazu ist ein als unablässiger Optimierungsprozeß verstandenes Leben. Hier schimmert Franzens Neigung zur Sozialkritik durch das abgetragene Gewand des Familienromans. Aber wohl nirgendwo funkelt diese Neigung so hell wie in einer Szene der Kreuzfahrt-Passagen. Während Enid einem schmierigen Börsenguru lauscht, der über den Sturz der Aktienkurse referiert und den reichen Rentnern auf dem Luxusschiff verraten will, wie man die Kurskorrekturen der Börse überlebt, kippt Alfred vom Oberdeck in die See. Franzen berechnet, daß Enid, in Gedanken beim freien Fall der Kurswerte, etwa vier Zehntelsekunden Zeit hat, um in dem "werthaltigen Etwas", das am Fenster vorbeirauscht, ihren Mann zu erkennen, Zeit genug, um den Ausdruck auf dem Gesicht dieses Ehemannes wahrzunehmen: ". . . die beinahe jugendliche Schönheit, den sonderbaren Frieden, denn wer hätte je geahnt, mit welcher Anmut der wütende Mann fallen würde?" Es liegt an Szenen wie dieser, wenn man Jonathan Franzen genial nennen möchte.
Jonathan Franzen: "Die Korrekturen". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bettina Abarbanell. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 782 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2002So grausam ist dieses Gesicht
Und doch wie weich – Heute erscheint Jonathan Franzens großer Roman „Die Korrekturen”
Wie klein, wie sentimental, wie lächerlich das Motiv ist, aus dem einer der größten und wichtigsten Romane der jüngsten Zeit seine Kraft nimmt, das Motiv, das ihn zusammenhält von der ersten bis zur siebenhunderteinundachtzigsten Seite, das ihn mit Macht und großer Geschwindigkeit vorantreibt, so als ließe sich ein gigantischer Passagierdampfer mit einem von Hand betriebenen Haushaltsquirl durch Sturm und Wogen jagen. Um ein Weihnachtsfest geht es im Roman „Die Korrekturen” von Jonathan Franzen, um das letzte Weihnachtsfest, das die Familie Lambert nach dem Willen von Mutter Enid gemeinsam in ihrem Haus in St. Jude, in einer Stadt irgendwo im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, verbringen soll: die Mutter und der Vater Alfred, die drei längst erwachsenen Kinder Chip, Denise und Gary, Anhang und Enkel.
Im März schon beginnen die Telefonanrufe, mit denen Enid ihre Nachkommen traktiert, die sich längst in die großen, eleganten Städte an der Ostküste abgesetzt haben. Während die Wochen und Monate vergehen, entwickelt sich das Weihnachtsfest zu einer terroristischen Phantasie, deren Verwirklichung die Mutter mit großer Intriganz, Perfidie und unermüdlichem Einsatz betreibt. Mit der gleichen unerbittlichen Konsequenz misslingt das Fest, genauso, wie man es hätte voraussehen können, wie es mit Henrik Ibsen, Thomas Mann oder Heinrich Böll zum literarischen Standard einer Familiengeschichte gehört. Und doch kommt alles ganz anders. Wie, das kann man ab heute auch auf deutsch nachlesen (Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Rowohlt Verlag, 24,90 Euro). Nie ist ein Buch eines zuvor vollkommen unbekannten Autors in Deutschland so begierig erwartet worden wie dieser Roman.
Eine Gesellschaft wird besichtigt
Als „The Corrections” im vergangenen Herbst in den Vereinigten Staaten erschienen, ging ein maßloses Erstaunen durch das Land. Natürlich fragten die Kritiker, ob hier nun endlich wieder ein neues Exemplar der „Great American Novel” vorliege, ein Buch, das man neben den „Großen Gatsby” von F. Scott Fitzgerald, John Updikes Romane von Harry „Rabbit” Angstrom oder das „Weiße Rauschen” von Don DeLillo stellen könne. Um es gleich zu sagen: man kann, aber solche Vergleiche sind nur von bedingtem Wert, denn jedes dieser Bücher spricht für sich, gerade weil in ihnen, jeweils für eine Epoche, für einen Kulturraum, ein ganzer Gesellschaftszustand erfasst und bis zur äußersten Deutlichkeit herausgearbeitet wird.
Eben dies gelingt aber auch Jonathan Franzen mit einem Buch, das auf überraschende Weise konventionell daherkommt, das die literarische Moderne in sich aufgenommen hat und mit den Mitteln des neunzehnten Jahrhunderts übertrumpft – und eine erschütternd gelungene Erneuerung des angloamerikanischen Gesellschaftsromans ist, eine Familienchronik, mit Witz, Ironie und stupender Beobachtungsgabe geschrieben. Nicht einmal der 11. September hat dem grandiosen Erfolg dieses Buches schaden können. Denn die Geschichte, die es erzählt, ist auf grausam schöne, schrecklich lustige Weise wahr. Und nachvollziehbar für jeden Vater, jede Mutter, jedes Kind.
Vor sechs Jahren veröffentlichte Jonathan Franzen in der Zeitschrift Harper’s einen langen Essay, in dem er behauptete, in einer ästhetischen Welt, die von den Bildmedien mit ihrem rasenden Takt beherrscht werde, könne es keine Gesellschaftsromane mehr geben. Das große literarische Werk habe seine Macht an die Instanzen der Oberfläche abgegeben. Der letzte Roman, der einen Kulturzustand habe definieren können, der eine Veränderung in der Gesellschaft ausgelöst habe, sei Joseph Hellers „Catch-22” aus dem Jahr 1961 gewesen. Nunmehr aber sei es unmöglich, „das Persönliche und das Soziale miteinander zu verbinden”. Von heute aus betrachtet, wirkt dieser Essay wie das Trommeln vor dem Auftritt des Artisten.
Denn Jonathan Franzen, im Jahr 1959 in Western Springs, Illinois, geboren und in Webster Groves, Missouri, aufgewachsen, hat sich auf das Kräftemessen mit den modernen Medien eingelassen. Dass er aber dabei nicht gestürzt ist, hat viel mit Weihnachten zu tun, mit der Profanität, ja mit der Albernheit dieses Motivs. Denn der große Roman funktioniert hier wie ein Mikrofon und eine Verstärkeranlage: Das Quengeln und Drängeln der Mutter, die Härte und die Halsstarrigkeit des Vaters, die Verlegenheit der Kinder – diese ebenso gequälten wie gewöhnlichen Seelen – erscheinen in Groß- und Nahaufnahme, und sie mögen, so erbarmungslos genau betrachtet, schief, grausam und hässlich wirken. Aber darunter schimmert es weich und spricht von einer Sehnsucht, die nie wird finden können, was sie eigentlich braucht. Der Roman „Die Korrekturen” ist ein Denkmal der Intimität, und damit auch einer Sympathie, die so groß ist, dass man damit auch gegen Weltnachrichten bestehen kann.
Alfred hat als Ingenieur einer Eisenbahngesellschaft gearbeitet, und wie eine amerikanische Eisenbahn hat er sein Leben eingerichtet: mit anachronistischem Gerät, mit eiserner Härte, auf schmalen, unbeweglichen Gleisen. Enid hat ihr Leben an seiner Seite damit verbracht, den langsamen sozialen Aufstieg zu betreuen, schrill, nörgelnd, ein Virtuosin des schlechten Gewissens und der berechnenden Fürsorge. Stets will sie zuviel, und was sie will, ist nicht das, was ihre Kinder wollen. Seit Jahren sind die beiden nun Rentner, die ehemaligen Freunde und Nachbarn sind längst in angenehmere, reichere Teile der Stadt verschwunden, und während das Haus verfällt, richten sich ihre Hoffnungen auf die Kinder. Sie sollen stellvertretend leben, was ihnen in ihrem Unverständnis, ihrem Unglück und ihren Irrtümern nicht zu leben vergönnt war. Und die daher fälligen Korrekturen werden dringend: Denn Alfred leidet an der Parkinsonschen Krankheit, er verliert die Kontrolle über seinen Körper und sein Gedächtnis. Und Enid, die ihn versorgen muss, wird durch seine Hilflosigkeit geschwächt. Immer schriller werden daher ihre Versuche, das Idyll einer Familie zu erzwingen.
Dunkel und traurig ist diese Geschichte. Doch mit welcher Anmut, mit welcher Aufmerksamkeit erzählt Jonathan Franzen vom Leben der drei Kinder, die zwar, jedes für sich, ein scheinbar eigenes Leben führen. Aber unfrei sind diese Leben, denn jede Entscheidung nimmt ihren Weg, ob bewusst oder nicht, über das Haus der Eltern. Da ist Gary, ein Investmentbanker aus Philadelphia, der einzige Verheiratete, Vater von drei Kindern, mit einem Hang zur Depression und zum Alkohol. Das ist Chip, ein promovierter Literaturwissenschaftler, dessen einst Erfolg versprechende Laufbahn durch ein erst erotisches und dann nur noch demütigendes Abenteuer mit einer Studentin zerstört wurde.
Mittellos lebt er in New York, liest gelegentlich Korrektur, schreibt an einem entsetzlich schäbigen Drehbuch, in dem er die Geschichte seines akademischen Untergangs erzählen will und verschwindet schließlich nach Litauen, um jenseits der Legalität ein wenig Geld zu verdienen. Und da ist Denise, eine erfolgreiche Köchin, die erst ein Restaurant in Philadelphia leitet und dann an einer doppelten Liebesgeschichte fast zugrunde geht. Erwachsene sind diese drei nur zum Schein, durch ihr Alter. Kinder sind sie geblieben, und sei es, weil sie vor allem anderen das Unglück der Eltern geerbt haben.
Denkmal des Humanen
Von Stendhal stammt der Satz: „Ei ja, mein Herr, ein Roman ist ein Spiegel, der sich auf einer großen Straße ergeht. Bald spiegelt er das Blau des Himmels, bald den Schlamm der Pfützen am Weg.” Er ist eine Programmerklärung des literarischen Realismus und das gilt auch für „Die Korrekturen”. Denn nicht nur, dass Jonathan Franzen ein Universum von Wissen und Kenntnissen in seinem Roman birgt, angefangen von den betriebswirtschaftlichen Interna eines jungen Unternehmens in der Biotechnologie bis hin zu den Eigenheiten skandinavischer Kreuzfahrtschiffe vor der Küste von Neuschottland.
Nicht nur, das Jonathan Franzen ein Meister des Hinhörens ist, ein Mann mit einem absoluten Gehör für die zurückgehaltene Aggressivität in Familiengesprächen, für die Zwischentöne des liebevollen Erpressens und des offenbarenden Verbergens. Realistisch ist Jonathan Franzen vor allem, weil er sich tatsächlich als Spiegel betätigt, weil er sich dem Diffusen, Willkürlichen, plötzlich Hereinbrechenden, dem Subtilen und Disparaten ergibt – und doch alles in sich birgt und in einem Rahmen zusammenfasst, eben wie ein Spiegel. Es ist diese Demut und Zurückhaltung, die diesen Roman auch zu einem Denkmal des Humanen werden lässt.
Korrigiert wird vieles in diesem Buch, nicht zuletzt die Entwicklung des modernen Romans. Aber „Die Korrekturen” tragen einen zutiefst ironischen Titel. Denn zwar soll in diesem Buch unablässig korrigiert werden – ein jeder sein eigenes Leben und noch viel mehr: Die Kinder wollen ein Leben führen, in dem das Leben der Eltern verbessert wird. Das wollen auch die Eltern, aber unter umgekehrten Voraussetzungen. Die amerikanische Volkswirtschaft wird durch das Zusammenbrechen der Aktienmärkte korrigiert, das unglückliche Bewusstsein durch die Medikamente der pharmazeutischen Industrie.
Und doch findet Enid am Ende klare Worte für ihr Schicksal, und doch übersieht der Vater einen großen Irrtum seiner Tochter. Und doch findet Weihnachten statt. Denn am Ende gibt es, in einer radikalen Abwendung von der Tradition des Familienromans, keine Abrechnung, sondern ein zartes, schwaches, den ultimativen Verfall mit stoischer Weisheit hinnehmendes Vergeben und Verzeihen. Zuhause sei dort, meinte einst der amerikanische Lyriker Robert Frost, wo sie dir die Tür aufmachen müssen. Das klingt wie eine kleine Sentimentalität. Jonathan Franzen lässt eine große Wahrheit daraus werden. THOMAS STEINFELD
Jonathan Franzen
Foto: Holger André
William Egglestons amerikanische Alltagswelt . Abbildung: Katalog Documenta 11, Hatje Cantz Verlag
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Und doch wie weich – Heute erscheint Jonathan Franzens großer Roman „Die Korrekturen”
Wie klein, wie sentimental, wie lächerlich das Motiv ist, aus dem einer der größten und wichtigsten Romane der jüngsten Zeit seine Kraft nimmt, das Motiv, das ihn zusammenhält von der ersten bis zur siebenhunderteinundachtzigsten Seite, das ihn mit Macht und großer Geschwindigkeit vorantreibt, so als ließe sich ein gigantischer Passagierdampfer mit einem von Hand betriebenen Haushaltsquirl durch Sturm und Wogen jagen. Um ein Weihnachtsfest geht es im Roman „Die Korrekturen” von Jonathan Franzen, um das letzte Weihnachtsfest, das die Familie Lambert nach dem Willen von Mutter Enid gemeinsam in ihrem Haus in St. Jude, in einer Stadt irgendwo im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, verbringen soll: die Mutter und der Vater Alfred, die drei längst erwachsenen Kinder Chip, Denise und Gary, Anhang und Enkel.
Im März schon beginnen die Telefonanrufe, mit denen Enid ihre Nachkommen traktiert, die sich längst in die großen, eleganten Städte an der Ostküste abgesetzt haben. Während die Wochen und Monate vergehen, entwickelt sich das Weihnachtsfest zu einer terroristischen Phantasie, deren Verwirklichung die Mutter mit großer Intriganz, Perfidie und unermüdlichem Einsatz betreibt. Mit der gleichen unerbittlichen Konsequenz misslingt das Fest, genauso, wie man es hätte voraussehen können, wie es mit Henrik Ibsen, Thomas Mann oder Heinrich Böll zum literarischen Standard einer Familiengeschichte gehört. Und doch kommt alles ganz anders. Wie, das kann man ab heute auch auf deutsch nachlesen (Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Rowohlt Verlag, 24,90 Euro). Nie ist ein Buch eines zuvor vollkommen unbekannten Autors in Deutschland so begierig erwartet worden wie dieser Roman.
Eine Gesellschaft wird besichtigt
Als „The Corrections” im vergangenen Herbst in den Vereinigten Staaten erschienen, ging ein maßloses Erstaunen durch das Land. Natürlich fragten die Kritiker, ob hier nun endlich wieder ein neues Exemplar der „Great American Novel” vorliege, ein Buch, das man neben den „Großen Gatsby” von F. Scott Fitzgerald, John Updikes Romane von Harry „Rabbit” Angstrom oder das „Weiße Rauschen” von Don DeLillo stellen könne. Um es gleich zu sagen: man kann, aber solche Vergleiche sind nur von bedingtem Wert, denn jedes dieser Bücher spricht für sich, gerade weil in ihnen, jeweils für eine Epoche, für einen Kulturraum, ein ganzer Gesellschaftszustand erfasst und bis zur äußersten Deutlichkeit herausgearbeitet wird.
Eben dies gelingt aber auch Jonathan Franzen mit einem Buch, das auf überraschende Weise konventionell daherkommt, das die literarische Moderne in sich aufgenommen hat und mit den Mitteln des neunzehnten Jahrhunderts übertrumpft – und eine erschütternd gelungene Erneuerung des angloamerikanischen Gesellschaftsromans ist, eine Familienchronik, mit Witz, Ironie und stupender Beobachtungsgabe geschrieben. Nicht einmal der 11. September hat dem grandiosen Erfolg dieses Buches schaden können. Denn die Geschichte, die es erzählt, ist auf grausam schöne, schrecklich lustige Weise wahr. Und nachvollziehbar für jeden Vater, jede Mutter, jedes Kind.
Vor sechs Jahren veröffentlichte Jonathan Franzen in der Zeitschrift Harper’s einen langen Essay, in dem er behauptete, in einer ästhetischen Welt, die von den Bildmedien mit ihrem rasenden Takt beherrscht werde, könne es keine Gesellschaftsromane mehr geben. Das große literarische Werk habe seine Macht an die Instanzen der Oberfläche abgegeben. Der letzte Roman, der einen Kulturzustand habe definieren können, der eine Veränderung in der Gesellschaft ausgelöst habe, sei Joseph Hellers „Catch-22” aus dem Jahr 1961 gewesen. Nunmehr aber sei es unmöglich, „das Persönliche und das Soziale miteinander zu verbinden”. Von heute aus betrachtet, wirkt dieser Essay wie das Trommeln vor dem Auftritt des Artisten.
Denn Jonathan Franzen, im Jahr 1959 in Western Springs, Illinois, geboren und in Webster Groves, Missouri, aufgewachsen, hat sich auf das Kräftemessen mit den modernen Medien eingelassen. Dass er aber dabei nicht gestürzt ist, hat viel mit Weihnachten zu tun, mit der Profanität, ja mit der Albernheit dieses Motivs. Denn der große Roman funktioniert hier wie ein Mikrofon und eine Verstärkeranlage: Das Quengeln und Drängeln der Mutter, die Härte und die Halsstarrigkeit des Vaters, die Verlegenheit der Kinder – diese ebenso gequälten wie gewöhnlichen Seelen – erscheinen in Groß- und Nahaufnahme, und sie mögen, so erbarmungslos genau betrachtet, schief, grausam und hässlich wirken. Aber darunter schimmert es weich und spricht von einer Sehnsucht, die nie wird finden können, was sie eigentlich braucht. Der Roman „Die Korrekturen” ist ein Denkmal der Intimität, und damit auch einer Sympathie, die so groß ist, dass man damit auch gegen Weltnachrichten bestehen kann.
Alfred hat als Ingenieur einer Eisenbahngesellschaft gearbeitet, und wie eine amerikanische Eisenbahn hat er sein Leben eingerichtet: mit anachronistischem Gerät, mit eiserner Härte, auf schmalen, unbeweglichen Gleisen. Enid hat ihr Leben an seiner Seite damit verbracht, den langsamen sozialen Aufstieg zu betreuen, schrill, nörgelnd, ein Virtuosin des schlechten Gewissens und der berechnenden Fürsorge. Stets will sie zuviel, und was sie will, ist nicht das, was ihre Kinder wollen. Seit Jahren sind die beiden nun Rentner, die ehemaligen Freunde und Nachbarn sind längst in angenehmere, reichere Teile der Stadt verschwunden, und während das Haus verfällt, richten sich ihre Hoffnungen auf die Kinder. Sie sollen stellvertretend leben, was ihnen in ihrem Unverständnis, ihrem Unglück und ihren Irrtümern nicht zu leben vergönnt war. Und die daher fälligen Korrekturen werden dringend: Denn Alfred leidet an der Parkinsonschen Krankheit, er verliert die Kontrolle über seinen Körper und sein Gedächtnis. Und Enid, die ihn versorgen muss, wird durch seine Hilflosigkeit geschwächt. Immer schriller werden daher ihre Versuche, das Idyll einer Familie zu erzwingen.
Dunkel und traurig ist diese Geschichte. Doch mit welcher Anmut, mit welcher Aufmerksamkeit erzählt Jonathan Franzen vom Leben der drei Kinder, die zwar, jedes für sich, ein scheinbar eigenes Leben führen. Aber unfrei sind diese Leben, denn jede Entscheidung nimmt ihren Weg, ob bewusst oder nicht, über das Haus der Eltern. Da ist Gary, ein Investmentbanker aus Philadelphia, der einzige Verheiratete, Vater von drei Kindern, mit einem Hang zur Depression und zum Alkohol. Das ist Chip, ein promovierter Literaturwissenschaftler, dessen einst Erfolg versprechende Laufbahn durch ein erst erotisches und dann nur noch demütigendes Abenteuer mit einer Studentin zerstört wurde.
Mittellos lebt er in New York, liest gelegentlich Korrektur, schreibt an einem entsetzlich schäbigen Drehbuch, in dem er die Geschichte seines akademischen Untergangs erzählen will und verschwindet schließlich nach Litauen, um jenseits der Legalität ein wenig Geld zu verdienen. Und da ist Denise, eine erfolgreiche Köchin, die erst ein Restaurant in Philadelphia leitet und dann an einer doppelten Liebesgeschichte fast zugrunde geht. Erwachsene sind diese drei nur zum Schein, durch ihr Alter. Kinder sind sie geblieben, und sei es, weil sie vor allem anderen das Unglück der Eltern geerbt haben.
Denkmal des Humanen
Von Stendhal stammt der Satz: „Ei ja, mein Herr, ein Roman ist ein Spiegel, der sich auf einer großen Straße ergeht. Bald spiegelt er das Blau des Himmels, bald den Schlamm der Pfützen am Weg.” Er ist eine Programmerklärung des literarischen Realismus und das gilt auch für „Die Korrekturen”. Denn nicht nur, dass Jonathan Franzen ein Universum von Wissen und Kenntnissen in seinem Roman birgt, angefangen von den betriebswirtschaftlichen Interna eines jungen Unternehmens in der Biotechnologie bis hin zu den Eigenheiten skandinavischer Kreuzfahrtschiffe vor der Küste von Neuschottland.
Nicht nur, das Jonathan Franzen ein Meister des Hinhörens ist, ein Mann mit einem absoluten Gehör für die zurückgehaltene Aggressivität in Familiengesprächen, für die Zwischentöne des liebevollen Erpressens und des offenbarenden Verbergens. Realistisch ist Jonathan Franzen vor allem, weil er sich tatsächlich als Spiegel betätigt, weil er sich dem Diffusen, Willkürlichen, plötzlich Hereinbrechenden, dem Subtilen und Disparaten ergibt – und doch alles in sich birgt und in einem Rahmen zusammenfasst, eben wie ein Spiegel. Es ist diese Demut und Zurückhaltung, die diesen Roman auch zu einem Denkmal des Humanen werden lässt.
Korrigiert wird vieles in diesem Buch, nicht zuletzt die Entwicklung des modernen Romans. Aber „Die Korrekturen” tragen einen zutiefst ironischen Titel. Denn zwar soll in diesem Buch unablässig korrigiert werden – ein jeder sein eigenes Leben und noch viel mehr: Die Kinder wollen ein Leben führen, in dem das Leben der Eltern verbessert wird. Das wollen auch die Eltern, aber unter umgekehrten Voraussetzungen. Die amerikanische Volkswirtschaft wird durch das Zusammenbrechen der Aktienmärkte korrigiert, das unglückliche Bewusstsein durch die Medikamente der pharmazeutischen Industrie.
Und doch findet Enid am Ende klare Worte für ihr Schicksal, und doch übersieht der Vater einen großen Irrtum seiner Tochter. Und doch findet Weihnachten statt. Denn am Ende gibt es, in einer radikalen Abwendung von der Tradition des Familienromans, keine Abrechnung, sondern ein zartes, schwaches, den ultimativen Verfall mit stoischer Weisheit hinnehmendes Vergeben und Verzeihen. Zuhause sei dort, meinte einst der amerikanische Lyriker Robert Frost, wo sie dir die Tür aufmachen müssen. Das klingt wie eine kleine Sentimentalität. Jonathan Franzen lässt eine große Wahrheit daraus werden. THOMAS STEINFELD
Jonathan Franzen
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William Egglestons amerikanische Alltagswelt . Abbildung: Katalog Documenta 11, Hatje Cantz Verlag
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eine "Art Inbild der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft" sieht Angela Schader in diesem Roman. Ein Inbild nicht ohne den "ambitiösen Blick auf große Vorbilder" wie Philipp Roth und auch nicht ohne Längen (Episoden wie die "aufgewärmte Lewinsky-Affäre" etwa), Ausrutscher und "thematische Sackgassen". Was, wenn es nach Schader geht, der "variantenreichen" (treffsicher übersetzten, wie Schader anmerkt) Prosa, der "stellenweise zutiefst verstörenden menschlichen Tiefe" des Buches sowie der Meisterschaft in der Schilderung der Altersqualen keinen Abbruch tut. Allein die lange und detailreiche Schilderung der familiären Grabenkämpfe, meint die Rezensentin, könnte "ein eigentliches Handbuch der ehelichen Kriegsführung" abgeben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein Wunder. Und kein geringes. Die Welt