Adelina, Tochter italienischer Einwanderer, arbeitet in einer Schweizer Fabrik, als sie sich 1973 nach kurzer Ehe allein mit einem Kind wiederfindet, Emma. Ein quälender Kampf ums Überleben beginnt, bis sie einen älteren Belgier kennenlernt und in dessen Gutshof im Piemont zieht. Vieles wird nun leichter, aber ohne Liebe bleibt alles fad. Und eines Tages ist der Belgier fort, mitsamt dem Kind. Kurz darauf taucht ein Mann auf, ein Streuner, ein Brigant. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach Emma. Der Mann ist oft fort und kehrt zurück mit Geld, Essen und Zeitungen, in denen von Überfällen und ausgeraubten Munitionsdepots berichtet wird. Er nimmt Adelina mit in seine Mailänder Kommune, und zum ersten Mal fühlt sie sich als Teil einer Gruppe. Sie macht Schießübungen und Botengänge, geht der Polizei aus dem Weg. Das ist nicht schwierig, denn die Bullen sind beschäftigt. In dieser Zeit der Bomben und der Gewalt sucht eine Mutter ihre Tochter, lange vergeblich. Bis der Streuner meldet, er habe in dem Gutshof Licht gesehen: ein Mann sei dort, ein Mann mit einem Kind.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Der neue Roman von Lukas Bärfuss kann den Rezensenten Timo Posselt nicht überzeugen: Die Geschichte von Adelina, in der Schweiz geboren als Kind italienischer Arbeiter, erzählt von Armut als lebensbestimmendem Schicksal, aber leider mit vielen Klischees und antiquierten Vorstellungen, moniert der Kritiker. Da hilft auch die soghafte Sprache des Autors nicht mehr, der Roman funktioniert so nicht, zu sehr ist er mit seiner marxistischen Ausrichtung dem letzten Jahrhundert verhaftet, schließt Posselt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2023Diese gewaltige Wut
Der Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss malt sich aus, wie es sich anfühlen muss, als ungebildete Arbeiterin Abhängigkeiten nicht entkommen zu können
Scharfe Sozialkritik Schweizer Provenienz, das ist schon an sich so bemerkenswert, dass man Lukas Bärfuss, dem Büchnerpreisträger, einiges durchgehen lässt bei seinen mitunter recht plakativen Theaterstücken. Dient es doch alles der Sache der Gerechtigkeit in einer ja tatsächlich immer unsolidarischer werdenden Gesellschaft. Und dass das Label "Moderner Dürrenmatt" so falsch dennoch nicht ist, hat der Autor mit scharfsichtigen, elegant formulierten Essays bewiesen.
Lukas Bärfuss' Prosa schaukelt irgendwo zwischen diesen beiden Pflöcken, an denen sie aufgehängt ist. Manchmal tendiert sie zur thematischen Offenheit der Essays, so etwa der starke Roman "Hagard" (2017), der die mysteriöse Rückverwandlung eines Mannes in einen animalischen Jäger vorführte. Natürlich ging es dabei auch um den Ruin der Zivilisation vor dem Prospekt des Neoliberalismus, aber ohne der Hauptfigur ihre Ambivalenz zu nehmen. Kluge Seitenblicke machten das Buch spannend. Dann wieder schreibt Bärfuss einen Roman wie den aktuellen, "Die Krume Brot", der bei allem gelungenen Detailrealismus einer prekären Siebzigerjahreexistenz wie die Kreuzung aus anklagender Arbeiterliteratur und brechtscher Belehrungsepik anmutet.
Man kann sich den gesamten Roman wie eine Verteidigungsrede vor Gericht vorstellen, ein Plädoyer für die Schuldlosigkeit der Hauptfigur an einer Tat oder an Rachegedanken, von denen wir noch gar nichts wissen. Es soll nachvollziehbar werden, dass Adelina, die Bildungsferne, nie eine Chance hatte, sich aus einem Netz von Abhängigkeiten zu befreien. Der Argumentationsgang beginnt sofort: "Niemand weiß, wo Adelinas Unglück ihren Anfang nahm", womit gemeint ist, dass alle Verhältnisse ihre doppelte Vorgeschichte haben, eine private und eine gesellschaftliche. Und damit hat der Roman sein größtes Problem bereits eingekauft: den Determinismus, dessen Ton als Quod-erat-demonstrandum-Grundbass nun stets mitlaufen wird, so sehr der Erzähler sich in die Gedanken einer bis auf kleine Erfahrungen der Selbstwirksamkeit oder ein kurzes Aufflackern der Liebe zeitlebens unglücklichen Frau hineinversetzt.
Bis zu Adelinas Großvater geht der Blick zurück. Der italienische Nationalist und frühe Mussolini-Anhänger hat zweimal den eigenen Sohn verstoßen: einmal aus rassistischer Verblendung, einmal aus Scham. Dieser Sohn wiederum, Adelinas Vater, ist von Beginn an eine traurige Gestalt. Auch für ihn scheint es einen Moment zu geben, in dem Rettung durch Liebe möglich ist: eine Beziehung, eine Familie, ein neues Leben in Zürich. Aber der berufliche Erfolg stellt sich nicht ein, seine Frau verachtet ihn. die Tochter, obwohl in Zürich geboren, gilt als "Emigrantenkind". Weil sie Schwierigkeiten mit dem Lesen hat, zeigt der Vater offen seine Enttäuschung. "Unglücke geschahen keine", heißt es, "das Leben war das Unglück, es floss dahin und kannte nur eine Richtung, hin zur allmählichen Zermürbung."
Dass es die Verhältnisse sind, die diese Biographien zurichten, diese orthodox kapitalismuskritische und vielleicht gar nicht einmal falsche Annahme, tut der Geschichte erzählerisch keinen Gefallen. Manche Wendung ist damit vorhersehbar, und es wird gar ein wenig langweilig: Adelina in der Fabrik; Adelina als alleinerziehende Mutter; Adelinas nagende Geldsorgen, die Männer zu mehr oder weniger unmoralischen Angeboten verleiten; Adelinas Verschuldung bei einem Kredithai. Es ist aber vor allem das auf eigene Weise die Entmündigung der Heldin fortsetzende Gefälle zwischen einem intellektuell erhabenen, alle Ursache-Wirkung-Relationen gewieft durchblickenden Erzähler (in dem sich der Autor spiegelt) und der als wenig hellsichtig geschilderten, allen Einflüssen hilflos ausgelieferten Protagonistin, das hier unangenehm berührt.
Einmal wehrt sich die Heldin in Maßen erfolgreich gegen eine Kündigung, aber dieser kurze Aufschwung des Selbstwertgefühls hält nicht lange an. Interessant wird die Erzählung immer dann, wenn sie sich vom Korsett des Überbaus loszureißen scheint, wenn die Zufälle kurz die Regie übernehmen und etwa ein begüterter Verehrer auftaucht, der Adelina durch das Begleichen ihrer Schulden das Gefühl gibt, verkauft worden zu sein, sich aber dann sorgsam um sie, ihr Kind und ihre Bildung kümmert, ohne dafür augenscheinlich etwas zu fordern. Da schwebt ein wenig Ambivalenz über der Erzählung: Kommt die Rechnung noch? Will man Adelina undankbar nennen, weil sie dieser arrangierten Quasi-Ehe wenig abgewinnt?
Die Richtungsvorgabe - Zermürbung und Bitternis - war ganz ernst gemeint. So lässt sich die Heldin, die zuletzt das ihr Wichtigste zu verlieren scheint, mit den kommunistischen Brigaden in Italien ein, Terroristen, die sie mit ihrer Radikalität, Entschlossenheit und ihrem selbstbewussten K-Gruppen-Jargon beeindrucken. Hier fühlt sich Adelina erstmals wirklich verstanden und wertgeschätzt, ohne zu merken, dass gerade diese falschen Freunde es sind, die sie am rücksichtslosesten ausnutzen. Die Heldin merkt, dass ihr gegen die Angst zumindest ein Gefühl bleibt: der Hass. Auf die "Sklavenhalter".
Weniger gelungen wirkt der Versuch, die Weltsicht, die Verwunderung oder die lange unterdrückte, dann radikalisierte Wut Adelinas in ihre eigenen Worte zu fassen, was zu teils pathetischen emotionalen Kaskaden in indirekter Rede führt: "Eine Kugel zwischen die Stirn, das wäre zu wenig, die Fingernägel wollte sie ihm ausreißen, die Augen ausstechen, und sie sah es, sie fühlte es, wie sie ihm mit der Gabel zuerst das linke, dann das rechte Auge aus den Höhlen kratzte, sie wollte ihm die Nase, die Ohren abschneiden, sie wollte ihn verbrennen, sehen, riechen, wie seine Haare versengten und die Kopfhaut in der Hitze platzte, und doch hätte er nichts erlitten, was sie erlitten hatte, den Schwanz, die Eier müsste sie ihm absäbeln, auch wenn es da nicht viel zu säbeln gäbe." Abgesehen davon, dass der sarkastische Ton des Nachsatzes nicht zu der vorherigen existenziellen Enthemmung passt, ist das stilistisch einfach ein bisschen schlicht. In diesem Einfühlungston sind große Teile des Buchs verfasst.
Und doch ist die Grundfrage, die zum Schluss aufscheint, so wichtig, dass sie einen guten Teil der Einwände überstrahlt: Welches Recht hat jemand, der in unverschuldeter Armut lebt, andere, die eigenen Kinder, in diese Armut hineinzuziehen, "in den Kerker einer Existenz, in der es nur um den eigenen Vorteil ging"? Und noch viel wichtiger: Welcher Ausweg ist möglich? OLIVER JUNGEN
Lukas Bärfuss: "Die Krume Brot". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
224 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss malt sich aus, wie es sich anfühlen muss, als ungebildete Arbeiterin Abhängigkeiten nicht entkommen zu können
Scharfe Sozialkritik Schweizer Provenienz, das ist schon an sich so bemerkenswert, dass man Lukas Bärfuss, dem Büchnerpreisträger, einiges durchgehen lässt bei seinen mitunter recht plakativen Theaterstücken. Dient es doch alles der Sache der Gerechtigkeit in einer ja tatsächlich immer unsolidarischer werdenden Gesellschaft. Und dass das Label "Moderner Dürrenmatt" so falsch dennoch nicht ist, hat der Autor mit scharfsichtigen, elegant formulierten Essays bewiesen.
Lukas Bärfuss' Prosa schaukelt irgendwo zwischen diesen beiden Pflöcken, an denen sie aufgehängt ist. Manchmal tendiert sie zur thematischen Offenheit der Essays, so etwa der starke Roman "Hagard" (2017), der die mysteriöse Rückverwandlung eines Mannes in einen animalischen Jäger vorführte. Natürlich ging es dabei auch um den Ruin der Zivilisation vor dem Prospekt des Neoliberalismus, aber ohne der Hauptfigur ihre Ambivalenz zu nehmen. Kluge Seitenblicke machten das Buch spannend. Dann wieder schreibt Bärfuss einen Roman wie den aktuellen, "Die Krume Brot", der bei allem gelungenen Detailrealismus einer prekären Siebzigerjahreexistenz wie die Kreuzung aus anklagender Arbeiterliteratur und brechtscher Belehrungsepik anmutet.
Man kann sich den gesamten Roman wie eine Verteidigungsrede vor Gericht vorstellen, ein Plädoyer für die Schuldlosigkeit der Hauptfigur an einer Tat oder an Rachegedanken, von denen wir noch gar nichts wissen. Es soll nachvollziehbar werden, dass Adelina, die Bildungsferne, nie eine Chance hatte, sich aus einem Netz von Abhängigkeiten zu befreien. Der Argumentationsgang beginnt sofort: "Niemand weiß, wo Adelinas Unglück ihren Anfang nahm", womit gemeint ist, dass alle Verhältnisse ihre doppelte Vorgeschichte haben, eine private und eine gesellschaftliche. Und damit hat der Roman sein größtes Problem bereits eingekauft: den Determinismus, dessen Ton als Quod-erat-demonstrandum-Grundbass nun stets mitlaufen wird, so sehr der Erzähler sich in die Gedanken einer bis auf kleine Erfahrungen der Selbstwirksamkeit oder ein kurzes Aufflackern der Liebe zeitlebens unglücklichen Frau hineinversetzt.
Bis zu Adelinas Großvater geht der Blick zurück. Der italienische Nationalist und frühe Mussolini-Anhänger hat zweimal den eigenen Sohn verstoßen: einmal aus rassistischer Verblendung, einmal aus Scham. Dieser Sohn wiederum, Adelinas Vater, ist von Beginn an eine traurige Gestalt. Auch für ihn scheint es einen Moment zu geben, in dem Rettung durch Liebe möglich ist: eine Beziehung, eine Familie, ein neues Leben in Zürich. Aber der berufliche Erfolg stellt sich nicht ein, seine Frau verachtet ihn. die Tochter, obwohl in Zürich geboren, gilt als "Emigrantenkind". Weil sie Schwierigkeiten mit dem Lesen hat, zeigt der Vater offen seine Enttäuschung. "Unglücke geschahen keine", heißt es, "das Leben war das Unglück, es floss dahin und kannte nur eine Richtung, hin zur allmählichen Zermürbung."
Dass es die Verhältnisse sind, die diese Biographien zurichten, diese orthodox kapitalismuskritische und vielleicht gar nicht einmal falsche Annahme, tut der Geschichte erzählerisch keinen Gefallen. Manche Wendung ist damit vorhersehbar, und es wird gar ein wenig langweilig: Adelina in der Fabrik; Adelina als alleinerziehende Mutter; Adelinas nagende Geldsorgen, die Männer zu mehr oder weniger unmoralischen Angeboten verleiten; Adelinas Verschuldung bei einem Kredithai. Es ist aber vor allem das auf eigene Weise die Entmündigung der Heldin fortsetzende Gefälle zwischen einem intellektuell erhabenen, alle Ursache-Wirkung-Relationen gewieft durchblickenden Erzähler (in dem sich der Autor spiegelt) und der als wenig hellsichtig geschilderten, allen Einflüssen hilflos ausgelieferten Protagonistin, das hier unangenehm berührt.
Einmal wehrt sich die Heldin in Maßen erfolgreich gegen eine Kündigung, aber dieser kurze Aufschwung des Selbstwertgefühls hält nicht lange an. Interessant wird die Erzählung immer dann, wenn sie sich vom Korsett des Überbaus loszureißen scheint, wenn die Zufälle kurz die Regie übernehmen und etwa ein begüterter Verehrer auftaucht, der Adelina durch das Begleichen ihrer Schulden das Gefühl gibt, verkauft worden zu sein, sich aber dann sorgsam um sie, ihr Kind und ihre Bildung kümmert, ohne dafür augenscheinlich etwas zu fordern. Da schwebt ein wenig Ambivalenz über der Erzählung: Kommt die Rechnung noch? Will man Adelina undankbar nennen, weil sie dieser arrangierten Quasi-Ehe wenig abgewinnt?
Die Richtungsvorgabe - Zermürbung und Bitternis - war ganz ernst gemeint. So lässt sich die Heldin, die zuletzt das ihr Wichtigste zu verlieren scheint, mit den kommunistischen Brigaden in Italien ein, Terroristen, die sie mit ihrer Radikalität, Entschlossenheit und ihrem selbstbewussten K-Gruppen-Jargon beeindrucken. Hier fühlt sich Adelina erstmals wirklich verstanden und wertgeschätzt, ohne zu merken, dass gerade diese falschen Freunde es sind, die sie am rücksichtslosesten ausnutzen. Die Heldin merkt, dass ihr gegen die Angst zumindest ein Gefühl bleibt: der Hass. Auf die "Sklavenhalter".
Weniger gelungen wirkt der Versuch, die Weltsicht, die Verwunderung oder die lange unterdrückte, dann radikalisierte Wut Adelinas in ihre eigenen Worte zu fassen, was zu teils pathetischen emotionalen Kaskaden in indirekter Rede führt: "Eine Kugel zwischen die Stirn, das wäre zu wenig, die Fingernägel wollte sie ihm ausreißen, die Augen ausstechen, und sie sah es, sie fühlte es, wie sie ihm mit der Gabel zuerst das linke, dann das rechte Auge aus den Höhlen kratzte, sie wollte ihm die Nase, die Ohren abschneiden, sie wollte ihn verbrennen, sehen, riechen, wie seine Haare versengten und die Kopfhaut in der Hitze platzte, und doch hätte er nichts erlitten, was sie erlitten hatte, den Schwanz, die Eier müsste sie ihm absäbeln, auch wenn es da nicht viel zu säbeln gäbe." Abgesehen davon, dass der sarkastische Ton des Nachsatzes nicht zu der vorherigen existenziellen Enthemmung passt, ist das stilistisch einfach ein bisschen schlicht. In diesem Einfühlungston sind große Teile des Buchs verfasst.
Und doch ist die Grundfrage, die zum Schluss aufscheint, so wichtig, dass sie einen guten Teil der Einwände überstrahlt: Welches Recht hat jemand, der in unverschuldeter Armut lebt, andere, die eigenen Kinder, in diese Armut hineinzuziehen, "in den Kerker einer Existenz, in der es nur um den eigenen Vorteil ging"? Und noch viel wichtiger: Welcher Ausweg ist möglich? OLIVER JUNGEN
Lukas Bärfuss: "Die Krume Brot". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
224 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lukas Bärfuss erzählt in "Die Krume Brot" von einer Frau aus dem Arbeitermilieu der 1970er-Jahre. Ihm gelingt dabei viel mehr als bloße Kapitalismuskritik. Erika Thomalla Süddeutsche Zeitung 20230710