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Ein Sonntag, 1961: Die zwanzigjährige Literaturstudentin Denise wartet – dass ihr Körper die Abtreibung vollzieht, die eine Engelmacherin eingeleitet hat. Nach ihrem Bekenntnis hat der bourgeoise Marc Denise direkt verlassen. Nun denkt sie über ihr bisheriges Leben nach: Zerrissen zwischen dem bescheidenen Elternhaus und den Mitschülerinnen jener besseren Schulen, auf die ihre guten Leistungen sie befördert hatten, fühlt sich Denise von beiden Seiten stets abgestoßen. Vulgär, wütend, voller Ablehnung gegen die bürgerlichen Angepasstheiten, erfindet Annie Ernaux in ihrem Debüt eine völlig neuartige, aufwühlende literarische Form.…mehr

Produktbeschreibung
Ein Sonntag, 1961: Die zwanzigjährige Literaturstudentin Denise wartet – dass ihr Körper die Abtreibung vollzieht, die eine Engelmacherin eingeleitet hat. Nach ihrem Bekenntnis hat der bourgeoise Marc Denise direkt verlassen. Nun denkt sie über ihr bisheriges Leben nach: Zerrissen zwischen dem bescheidenen Elternhaus und den Mitschülerinnen jener besseren Schulen, auf die ihre guten Leistungen sie befördert hatten, fühlt sich Denise von beiden Seiten stets abgestoßen. Vulgär, wütend, voller Ablehnung gegen die bürgerlichen Angepasstheiten, erfindet Annie Ernaux in ihrem Debüt eine völlig neuartige, aufwühlende literarische Form.

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Autorenporträt
Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur. Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension

Im Tonfall unterscheidet sich Annie Ernaux' nun erstmals auf deutsch vorliegendes Romandebüt deutlich von den bekannteren, späteren Werken der Autorin, so Rezensentin Bettina Hartz. Und zwar ist der im Original knapp fünfzig Jahre alte Band weniger nüchtern, vielmehr wütend und aufbrausend geschrieben. Es geht, lernen wir, um Denise Lesur, eine junge Frau, die sich gerade einer illegalen Abtreibung unterzogen hat, nachdem sie vom Kindsvater im Stich gelassen wurde. Ernaux arbeitet laut Hartz bereits hier autofiktional, und sie verdichtet Selbsterlebtes geschickt mit literarischen Mitteln, etwa wenn sie ein ganzes Leben auf einen Tag Erzählzeit verdichtet. Wie auch in späteren Büchern entwirft die Autorin, zeichnet die Rezensentin nach, die Lebensgeschichte einer Frau aus der Unterschicht, die sich sozial und intellektuell von ihrer Herkunft emanzipiert, aber auch weiß, dass der Aufstieg Verluste mit sich bringt. Ernaux hat, meint Hartz, dieser Erzählung immer wieder neue Facetten abgewonnen, gerade auch sprachlich, und in diesem ersten Roman lodert die Prosa noch geradezu intoxinierend.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2023

Darüber schweigen die Bücher
Das Debüt der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, „Die leeren Schränke“, erscheint erstmals auf Deutsch.
Schon bevor Annie Ernaux im vergangenen Herbst den Nobelpreis für Literatur erhielt, hatte ihr deutscher Verlag in dichter Folge Übersetzungen ihres umfangreichen Werks veröffentlicht. Seit 2017 erschien jährlich eine neue Übersetzung, und wer in dieser Zeit eines oder mehrere dieser Bücher gelesen hat, ist sowohl mit einigen Lebensumständen Ernaux’ vertraut, die das Material für ihre autobiografisch geprägten Texte liefern, als auch mit ihrem prägnanten Stil. Ihre Bücher kehren immer wieder zu ihren Eltern zurück, die ein Lebensmittelgeschäft mit angeschlossener Kneipe führten. Dadurch ermöglichten sie der Tochter ein Studium, das ihr ein Leben als Lehrerin und eben auch als Autorin eröffnete. Die schmerzhafte Trennung von ihrem Herkunftsmilieu durch den sogenannten Bildungsaufstieg, Klassenressentiments und deren Auswirkungen in alle Bereiche des Lebens, bis hin zur Sexualität, gehören zu Ernaux’ zentralen Themen.
All das findet sich auch in „Die leeren Schränke“ wieder, der neuesten Veröffentlichung aus ihrem Werk. Während die Erzählerin im Jahr 1961 mit Anfang zwanzig darauf wartet, dass die von einer „Engelmacherin“ eingeleitete Abtreibung ihre erste Schwangerschaft beendet, denkt sie über die Lebensumstände nach, die ihr diese Misere eingebrockt haben. Der Strom ihrer Erinnerungen wird gelegentlich durch Sprünge in die Erzählgegenwart unterbrochen, der Text konstituiert sich jedoch ganz aus ihrem inneren Monolog.
Mit einiger Skepsis mögen diejenigen das Buch aufschlagen, die noch vor gar nicht so langer Zeit beispielsweise „Das Ereignis“ gelesen haben. Noch ein Roman über eine traumatische Abtreibung, diesmal der erste literarische Versuch Ernaux’ aus dem Jahr 1974 – muss das sein, oder ist das nur was für beflissene Literaturwissenschaftlerinnen mit Interesse am Gesamtwerk? Es muss sogar unbedingt sein. Gerade für die Fans und auch für alle Erstleser ist dieses Buch eine Gelegenheit, etwas Neues zu entdecken.
Das betrifft zunächst und vor allem das Genre, für das Ernaux berühmt ist und das berühmt zu machen wesentlich ihr Anteil ist. Denn den Schritt in die Autofiktion, bei der Erzählerin und Autorin in der ersten Person Singular in eins gesetzt werden und in der die Biografie zu einem romanhaften Text wird, hat Ernaux in „Die leeren Schränkenoch nicht vollzogen. Das Ich, das hier spricht, heißt Denise Lesur und nicht Annie Duchesne, wie Ernaux ihre Ich-Erzählerin in „Erinnerungen eines Mädchens“, „Die Scham“ oder „Der Platz“ mit dem eigenen Mädchennamen nennt. Die beiden mögen fast alles gemeinsam haben, bis hin zum nur abgekürzt genannten Geburtsort „Y“ wie Yvetot in der Normandie. Und doch zieht Annie Ernaux hier andere Register im literarischen Ton.
Denise Lesur ist aufgebracht, wütend, verletzt, verzweifelt und tobt: Als habe sie eine böse Fee an ihrer Wiege mit einem Fluch belegt, scheint alles in ihrem Leben sich dagegen zu wenden, dass es ein glückliches werden könnte. Sie liegt mit allem und allen über Kreuz. Den ungehobelten Eltern, die wohlmeinend danach streben mögen, dass die Tochter es besser hat, sie damit aber in die Vereinzelung treiben. Weder zu Hause noch in der katholischen Schule oder der Universität, wo sie auf höhere Töchter trifft, kann Denise sich zugehörig fühlen. Wo sie auch hinkommt, muss sie verbergen, wo sie gerade herkommt. Die Mitschülerinnen sollen nicht wissen, wie ihre Eltern bei Tisch schmatzend die Bratensoße mit Brot aufgewischt haben, die Eltern muss sie vor der verfeinerten Ausdrucksweise schützen, mit der ihre Tochter den Aufstieg erprobt.
Bestimmt wird Denises Leben auch durch eine Hypersexualisierung, die einerseits durch ein moralinsaures Sexualtabu zustande kommt, das sich durch alle Schichten zieht, und gleichzeitig durch die ständige Bewertung des Körpers von Frauen und seiner reproduktiven Funktionen, bis hin zur Kontrolle des Menstruationsbluts in ihrer Unterwäsche. Körperliche Autonomie gewinnt Denise durch exzessives Essen, eine Selbstverteidigungsstrategie, die auch in den „Erinnerungen eines Mädchens“ geschildert wird. Dazu kommt später schambehaftete Masturbation und schließlich auch unbeholfenes und – man kann es nicht anders sagen – eher ungeiles Rumgeschubbere an Jungenkörpern (die, und das wäre eine eigene literarische Betrachtung wert, daran wohl ebenfalls kaum Freude haben dürften). Dass es dadurch dann schließlich zu einer Schwangerschaft kommt, wird zwar als soziale Katastrophe eingeordnet, kann aber kaum anders als Veräußerlichung einer bis dahin nur in Denises Psyche stattfindenden Katastrophe verstanden werden.
Anders als die disziplinierten Erzählerinnen von Ernaux’ autofiktionalen Werken gönnt sich Denise alle ihre Affekte: „Ich bin ja nicht mit dieser Wut zur Welt gekommen, ich habe sie nicht immer gehasst, meine Eltern, die Kundschaft, den Laden… Die anderen, die Kultivierten, die Professoren, die ehrbaren Leute hasse ich mittlerweile auch. Ich habe den Bauch voll von ihnen. Ich kotze auf sie, auf die Kultur, auf alles, was ich gelernt habe. Von allen Seiten gefickt…“
Als „Die leeren Schränke“ 1974 in Frankreich zuerst erschien, war dieser raue Tonfall in der französischen (und auch deutschen) Literatur noch weniger etabliert. 50 Jahre später mag das anders sein und fällt weniger im Vergleich zu anderen Romanen als innerhalb des Werks von Ernaux selbst auf. In keinem anderen ihrer Bücher wird die Geschichte des Klassenaufstiegs, die eigentlich stets von einer Deformation zum bürgerlichen Individuum handelt, so deutlich als die eines Spracherwerbs geschildert. Der gelingt Denise, aber sie wehrt sich innerlich dagegen und keult mit Fäkalsprache dagegen an.
Was sie neu lernt, kann sie nicht in ihre Mutter- und Vatersprache integrieren, die sie aufgeben muss, um in den Code der Gebildeten zu wechseln: „Ich verstand fast alles von dem, was die Lehrerin sagte, aber ich wäre nie darauf gekommen, es selber so zu sagen, und meine Eltern auch nicht, der Beweis, ich hatte so etwas noch nie von ihnen gehört. Unbehagen, Schock, bei allem, was die Lehrerinnen sagten, egal zu welchem Thema, ich hörte zu, sah mich um, die Worte waren federleicht, ohne Form, ohne Wärme, schneidend. Die echte Sprache hörte ich zuhause: Plörre, Futter, betuppt werden, das olle Luder, komm zum Onkel, Püppi.“
Dass dieser Wechsel vom kuhwarmen Herkunftssprech zum näselnden Akademikerton auch im Deutschen gelingt, ist das Werk von Sonja Finck, die als Übersetzerin seit vielen Jahren treu an Ernaux’ Seite steht und hierzulande die wichtigste Vermittlerin ihrer Arbeit ist. Durch den wohlüberlegten Einsatz von Umgangs-, Bildungssprache und Slang wird auch im Deutschen fühlbar, wie gewaltsam der Prozess ist, in dem Denise die „Codewörter der künftigen Studenten lernen“ will um dazuzugehören. Dazugehören bedeutet, einen Mann zu finden: „Hauptsache ein Junge aus guter Familie mit Manschettenknöpfen und einer Schultasche aus Leder.“ Dass diese Jungen blind für ihre inneren Kämpfe und allzu bereit sind, ihre Demut und Bereitschaft zur Selbstabwertung hinzunehmen, wird zur Grundlage einer giftigen Erotik: „Genau das, die Tatsache, dass er mich an einem Cafétisch runtermachte, verdrehte mir den Kopf.“
Denn dann ist sie wenigstens nicht mehr allein damit, sich selbst runterzumachen. Sogar die Literatur, die ihr einen Ausweg verspricht und ihr die Identifikation mit dem Denken anderer erlaubt, muss sie sich madig machen: „Selbst die Literatur ist nur ein Symptom der Armut, der Klassiker, um seiner Herkunft zu entfliehen.“ Bis zu dem Titel des Romans, der sich auf einen Vers von Paul Éluard bezieht, ist alles mit der Ambivalenz aufgeladen, die Bildung bei Ernaux besitzt. Die Verzweiflung darüber klingt in späteren Werken weniger scharf, und es geht mehr darum, wie jemand Handlungsspielräume gewinnt.
Der Roman „Die leeren Schränke“ formuliert so deutlich wie kaum ein anderer Text von Ernaux ihren Anspruch, in der Geschichte der Literatur eine Lücke zu schließen, die in fehlender Repräsentation besteht: „Nicht über mich, über meine Situation, kein einziger Text, der beschreibt, was ich durchmache, nichts, was mir hilft, das hier zu überstehen. Zu jedem Anlass gibt es Gebete, Geburt, Hochzeit, Tod, da sollte es auch Texte zu allen Themen geben, zum Beispiel zu einer Zwanzigjährigen, die bei der Engelmacherin war, dazu, was sie auf dem Rückweg denkt und in dem Moment, als sie sich auf ihr Bett wirft. Das würde ich lesen, immer wieder. Darüber schweigen die Bücher.“
Mittlerweile trifft das nicht mehr zu. Zu fragen wäre heute eher, ob neben Repräsentation und Identifikation in einer literarischen Ethik nicht andere Angebote treten müssten: Wie steht es zum Beispiel mit der Möglichkeit, in Texten nicht sich selbst, sondern eben vor allem andere mit ganz anderen Erfahrungen zu entdecken? Dass man diese Frage jetzt mit guten Gründen stellen kann, ist jedoch auch ein Effekt und Verdienst der Arbeit von Annie Ernaux, deren vielleicht radikalstes Werk nun endlich auf Deutsch vorliegt.
HANNA ENGELMEIER
„Ich bin ja nicht
mit dieser Wut zur
Welt gekommen.“
Die Nobelpreisträgerin als junge Autorin: Annie Ernaux in einer Szene aus dem Film „Super-8-Tagebücher“.
Foto: dpa / Film Kino T
Annie Ernaux:
Die leeren Schränke.
Aus dem Französischen
von Sonja Finck.
Suhrkamp, Berlin 2023. 218 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Ernaux zu lesen bedeutet daher vor allem auch, der Entwicklung ihrer sprachlichen Elixiere zu folgen. Das ihres Debüts Die leeren Schränke ist wild, heiß und von stark berauschender Wirkung.« Bettina Hartz Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20240107