Diese unglaubliche Geschichte von Männern und Frauen, Täuschungen und Intrigen, unwahrscheinlichen Affären, heimlichen Fluchten und dramatischen Triumphen ist die Geschichte des Chevalier d'Eon de Beaumont, den es wirklich gab. Er war Diplomat, Soldat, Bibliothekar, Freimaurer, Degenfechter, Schriftsteller und Spion – und verbrachte den größten Teil seines turbulenten Lebens als Frau. Bis zu seinem Tod rätselte ganz London, wer die militante Madonna, die in öffentlichen Degenkämpfen alle Männer in die Knie zwang, wirklich war.Irene Dische wurde in New York geboren. Die mehrfach ausgezeichnete Bestsellerautorin gehört zur "Speerspitze der zeitgenössischen Prosa" (The New York Times). Sie lebt in Berlin und Rhinebeck, New York.-
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Rezensentin Lerke von Saalfeld amüsiert sich köstlich mit Irene Disches ganz eigenem Beitrag zur aktuellen "Gender-Hysterie". Aus dem turbulenten Leben des Chevalier d'Èon erzählt sie, der im 18. Jahrhundert unter anderem als Diplomat, Agent und Fechter auf die Geschlechterrollen pfiff und sowohl als Mann als auch als Frau auftrat. Ob einige der abenteuerlichen Anekdoten, von denen der Chevalier hier in direkter Ansprache an die Leserschaft selbst berichtet - so habe er etwa versucht, ein Amazonenheer aufzubauen - wirklich stimmen oder der "blumigen Fantasie" des Chevalier entspringen, an dessen posthum erschienenen Memoiren Dische sich hier bediene, ist unklar, aber auch gar nicht wichtig, findet von Saalfeld. Ein fulminantes Leseabenteuer, freut sie sich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dische hat einen der bizarrsten, durchtriebensten Schelme Europas wieder ans Licht gehoben und belustigt-übermütig einen eigenen Beitrag zur heutigen Gender-Hysterie entworfen.« Lerke von Saalfeld Frankfurter Allgemeine Zeitung 20211002
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2021Was scherte es ihn, ob er als Mann oder Frau galt
Irene Disches aberwitziger Roman über den Chevalier d'Éon, der schon im achtzehnten Jahrhundert die Geschlechtergrenzen überschritt
Es gab ihn wirklich, Charles Geneviève Louis Timothée d'Éon, kurz den Chevalier d'Éon, dem Irene Dische ein fulminantes, überbordend komisches Porträt gewidmet hat. Zunächst glaubt man, das könne doch alles nicht wahr sein: ein Adliger des achtzehnten Jahrhunderts, der die Hälfte seines Lebens als Frau lebte und an den russischen, englischen und französischen Höfen ein und aus ging. Dische hat einen der bizarrsten, durchtriebensten Schelme Europas wieder ans Licht gehoben und belustigt-übermütig einen eigenen Beitrag zur heutigen Gender-Hysterie entworfen.
Der Chevalier wurde 1728 in Frankreich geboren und starb 1810 in London. Petersburg, Paris und London waren die Stationen seines Wirkens in vielfältigen Rollen: als Diplomat, Agent, Soldat, Lebemann, Hochstapler, Büchernarr, Freimaurer, glänzender Degenfechter (auch in Frauenkleidern) und zwielichtiger Unternehmer. Alle Funktionen in beiderlei Geschlecht. "Die Natur hat mir das großzügigste Geschenk gemacht, äußerlich beiden Geschlechtern anzugehören. Hierher rührte die öffentliche Verwirrung. Ich war mit einer Stimme gesegnet, die für einen Mann als sehr hoch und für eine Frau als sehr tief galt. Ich war groß für eine Frau und klein für einen Mann. Hatte schöne Knöchel, sowohl für einen Mann als auch für eine Frau. Meine Uniform betonte meine Stärke und Beweglichkeit, ein Ballkleid hob meine Anmut hervor, und mein Alter spielte keine Rolle. Ich war nie auch nur auf die Idee gekommen, das eine Geschlecht zugunsten des anderen aufgeben zu müssen."
Am Hof in Petersburg hatte der Chevalier erlebt, wie die Zarin Elisabeth ganz selbstverständlich auch in Männerkleidung auftrat. Diesen Kleiderwechsel beherrschte auch er, auch wenn das weibliche Bekleidungsritual deutlich aufwendiger war und ihn unbeweglicher machte. An weibliche Schuhe mit hohen Absätzen, mit denen die Frauen seit ihrer Jugend gefesselt und vertraut waren, konnte er sich allerdings nie gewöhnen.
Vor seinem Tod begann der Chevalier d'Èon, seine Erinnerungen niederzuschreiben, die jedoch zu Lebzeiten nicht erscheinen durften, erst postum, 1836, erscheinen die "Mémoires du chevalier d'Èon - Le mystère de sa vie" in zwei Bänden in Paris (Neuausgabe als Reprint Paris 1998). Schon der alte Voltaire, der eine Begegnung mit Éon hatte, bemerkte: "Ich möchte prophezeien, dass Ihr kommenden Generationen ein großes Rätsel bleiben werdet." Ob wir diese Worte auf die Goldwaage legen dürfen, ist ungewiss, vielleicht hat Irene Dische sie den Memoiren entnommen, und vielleicht hat sie sich der mit einer blumigen Fantasie begabte Chevalier ausgedacht. So geht es dem Leser bei vielen Abenteuern, die der umtriebige Held anzettelt. Entspringen sie der Wahrheit, oder sind es lustige Zutaten der Autorin? Was auch immer, darauf kommt es nicht an, denn der Witz und die Ironie der Geschichte bleiben davon unberührt.
In London, wo Éon lange lebte und eine prachtvolle Residenz mit einer kostbaren Bibliothek unterhielt, wurden Wetten abgeschlossen, welchen Geschlechts der Franzose sei. Der Chevalier hielt sich bedeckt und verriet nichts. Im geselligen Umgang Londons verband sich ein Trio infernale: Zusammen mit einem Journalisten, Advokatus und windigen Geschäftemacher namens Morande und dem Dramatiker Beaumarchais wollte Éon groß einsteigen in den Unabhängigkeitskrieg in Nordamerika. Die drei versprachen sich Riesengewinne durch Handel mit Waffen und Tabak. Verrat und Intrigen ließen das Unternehmen scheitern, wie vieles im Leben des Chevalier. Der Tod Ludwigs XV., für den er in London gespitzelt hatte, war auch eine jähe Wende in seinem Leben. Der Chevalier musste auf Geheiß Ludwigs XVI. zurück nach Paris, und als Auflage für eine Pension galt, dass er fortan nur noch in Frauenkleidern aufzutreten habe. Andernfalls drohte ihm Kerker.
Der Chevalier fügte sich, hatte aber schon eine neue Idee. Er stellt ein Amazonenheer für Amerika auf. Nicht wenige Frauen folgen seinem Aufruf, aber auch dieses Unternehmen scheitert kläglich. Der wackere Androgyne lässt sich durch nichts anfechten, trotzt allen Anfeindungen und flieht nach London, denn die Französische Revolution bedroht ihn mit Enteignung. Doch auch in London verfolgt ihn das Pech. Sein einstiger Gönner stirbt, die Nachkommen berauben ihn seines Besitzes, der Chevalier kommt unter bei einer Pensionswirtin, bei der er schon früher in Gefahrensituationen Unterschlupf gefunden hatte.
Mit dieser Mrs Cole, die es wirklich gab, lässt Dische ihn in Armut und Bescheidenheit seinen Lebensabend verbringen. Er kam hoch hinaus und fiel tief, seine Abenteuerlust wurde dadurch nicht geschmälert. Ob Mann oder Frau, das scherte ihn nicht. Da der ganze Roman als eine Ansprache des Adligen an seine Leserschaft verfasst ist, gibt uns der Chevalier d'Éon am Ende eine Weisheit mit auf den Weg: "Damit habe ich hier die älteste Geschichte der Welt in einer ihrer unzähligen Varianten nacherzählt, um Sie daran zu erinnern, nicht so arrogant zu glauben, Sie hätten die Freiheit erfunden, ein Mann oder eine Frau zu sein." LERKE VON SAALFELD.
Irene Dische: "Die militante Madonna".
Roman.
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2021. 217 S. geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Irene Disches aberwitziger Roman über den Chevalier d'Éon, der schon im achtzehnten Jahrhundert die Geschlechtergrenzen überschritt
Es gab ihn wirklich, Charles Geneviève Louis Timothée d'Éon, kurz den Chevalier d'Éon, dem Irene Dische ein fulminantes, überbordend komisches Porträt gewidmet hat. Zunächst glaubt man, das könne doch alles nicht wahr sein: ein Adliger des achtzehnten Jahrhunderts, der die Hälfte seines Lebens als Frau lebte und an den russischen, englischen und französischen Höfen ein und aus ging. Dische hat einen der bizarrsten, durchtriebensten Schelme Europas wieder ans Licht gehoben und belustigt-übermütig einen eigenen Beitrag zur heutigen Gender-Hysterie entworfen.
Der Chevalier wurde 1728 in Frankreich geboren und starb 1810 in London. Petersburg, Paris und London waren die Stationen seines Wirkens in vielfältigen Rollen: als Diplomat, Agent, Soldat, Lebemann, Hochstapler, Büchernarr, Freimaurer, glänzender Degenfechter (auch in Frauenkleidern) und zwielichtiger Unternehmer. Alle Funktionen in beiderlei Geschlecht. "Die Natur hat mir das großzügigste Geschenk gemacht, äußerlich beiden Geschlechtern anzugehören. Hierher rührte die öffentliche Verwirrung. Ich war mit einer Stimme gesegnet, die für einen Mann als sehr hoch und für eine Frau als sehr tief galt. Ich war groß für eine Frau und klein für einen Mann. Hatte schöne Knöchel, sowohl für einen Mann als auch für eine Frau. Meine Uniform betonte meine Stärke und Beweglichkeit, ein Ballkleid hob meine Anmut hervor, und mein Alter spielte keine Rolle. Ich war nie auch nur auf die Idee gekommen, das eine Geschlecht zugunsten des anderen aufgeben zu müssen."
Am Hof in Petersburg hatte der Chevalier erlebt, wie die Zarin Elisabeth ganz selbstverständlich auch in Männerkleidung auftrat. Diesen Kleiderwechsel beherrschte auch er, auch wenn das weibliche Bekleidungsritual deutlich aufwendiger war und ihn unbeweglicher machte. An weibliche Schuhe mit hohen Absätzen, mit denen die Frauen seit ihrer Jugend gefesselt und vertraut waren, konnte er sich allerdings nie gewöhnen.
Vor seinem Tod begann der Chevalier d'Èon, seine Erinnerungen niederzuschreiben, die jedoch zu Lebzeiten nicht erscheinen durften, erst postum, 1836, erscheinen die "Mémoires du chevalier d'Èon - Le mystère de sa vie" in zwei Bänden in Paris (Neuausgabe als Reprint Paris 1998). Schon der alte Voltaire, der eine Begegnung mit Éon hatte, bemerkte: "Ich möchte prophezeien, dass Ihr kommenden Generationen ein großes Rätsel bleiben werdet." Ob wir diese Worte auf die Goldwaage legen dürfen, ist ungewiss, vielleicht hat Irene Dische sie den Memoiren entnommen, und vielleicht hat sie sich der mit einer blumigen Fantasie begabte Chevalier ausgedacht. So geht es dem Leser bei vielen Abenteuern, die der umtriebige Held anzettelt. Entspringen sie der Wahrheit, oder sind es lustige Zutaten der Autorin? Was auch immer, darauf kommt es nicht an, denn der Witz und die Ironie der Geschichte bleiben davon unberührt.
In London, wo Éon lange lebte und eine prachtvolle Residenz mit einer kostbaren Bibliothek unterhielt, wurden Wetten abgeschlossen, welchen Geschlechts der Franzose sei. Der Chevalier hielt sich bedeckt und verriet nichts. Im geselligen Umgang Londons verband sich ein Trio infernale: Zusammen mit einem Journalisten, Advokatus und windigen Geschäftemacher namens Morande und dem Dramatiker Beaumarchais wollte Éon groß einsteigen in den Unabhängigkeitskrieg in Nordamerika. Die drei versprachen sich Riesengewinne durch Handel mit Waffen und Tabak. Verrat und Intrigen ließen das Unternehmen scheitern, wie vieles im Leben des Chevalier. Der Tod Ludwigs XV., für den er in London gespitzelt hatte, war auch eine jähe Wende in seinem Leben. Der Chevalier musste auf Geheiß Ludwigs XVI. zurück nach Paris, und als Auflage für eine Pension galt, dass er fortan nur noch in Frauenkleidern aufzutreten habe. Andernfalls drohte ihm Kerker.
Der Chevalier fügte sich, hatte aber schon eine neue Idee. Er stellt ein Amazonenheer für Amerika auf. Nicht wenige Frauen folgen seinem Aufruf, aber auch dieses Unternehmen scheitert kläglich. Der wackere Androgyne lässt sich durch nichts anfechten, trotzt allen Anfeindungen und flieht nach London, denn die Französische Revolution bedroht ihn mit Enteignung. Doch auch in London verfolgt ihn das Pech. Sein einstiger Gönner stirbt, die Nachkommen berauben ihn seines Besitzes, der Chevalier kommt unter bei einer Pensionswirtin, bei der er schon früher in Gefahrensituationen Unterschlupf gefunden hatte.
Mit dieser Mrs Cole, die es wirklich gab, lässt Dische ihn in Armut und Bescheidenheit seinen Lebensabend verbringen. Er kam hoch hinaus und fiel tief, seine Abenteuerlust wurde dadurch nicht geschmälert. Ob Mann oder Frau, das scherte ihn nicht. Da der ganze Roman als eine Ansprache des Adligen an seine Leserschaft verfasst ist, gibt uns der Chevalier d'Éon am Ende eine Weisheit mit auf den Weg: "Damit habe ich hier die älteste Geschichte der Welt in einer ihrer unzähligen Varianten nacherzählt, um Sie daran zu erinnern, nicht so arrogant zu glauben, Sie hätten die Freiheit erfunden, ein Mann oder eine Frau zu sein." LERKE VON SAALFELD.
Irene Dische: "Die militante Madonna".
Roman.
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2021. 217 S. geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Unter diversen Röcken
Irene Dische erzählt vom genderfluiden Chevalier d'Éon de Beaumont und bedeutet uns, dass
wir nicht in der ersten Epoche leben, die mit dem Geschlecht kreativ umgeht. Tut das not?
VON HANNA ENGELMEIER
Nur wenige Klicks braucht es, um Bilder des Chevalier d’Éon de Beaumont zu finden, die ihn in einem Fechtkampf zeigen, gewandet in zeitgenössische Frauenkleider mit Schnürbrust und unpraktischem Kopfschleier. Auf einem Gemälde trägt er oder sie einen prächtigen Kopfschmuck aus Federn und Schleifen, dazu Spitzenkragen und Orden. Die Menge an leicht verfügbaren Quellen zeigt schon, dass es sich bei der Geschichte des genderfluiden Edelmanns und der Spionin von Gnaden des Königs Louis XV. um eine gut dokumentierte Quelle handelt, die für alle von Interesse sein dürfte, die sich mit Traditionen gesellschaftlich nonkonformer Geschlechterrepräsentation beschäftigen.
Hier setzt Irene Disches von Ulrich Blumenbach übersetzter Roman „Die militante Madonna“ ein, der das Leben Éons zum Anlass nimmt, all jenen heimzuleuchten, die sich gendertheoretisch angeblich in ihrem „bauchnabelbeschaulichen Jahrhundert“ eingemuckelt haben und glauben, das Konzept des Wechsels zwischen sozialen und geschlechtlichen Rollen erfunden zu haben. Höflich siezt der Erzähler sein Publikum. Nach Lektüre des Buches möchte man es auch dabei belassen. Es bleibt bis zuletzt unklar, wer sich von diesen Ansprachen denn eigentlich gemeint fühlen soll, denn es ist gerade ein Kennzeichen sowohl der Forschung zu als auch des populären Diskurses über Geschlechtsidentität, auf historische Herkünfte von Drag, Transsexualität oder Intergeschlechtlichkeit hinzuweisen, um den eigenen Argumenten und Fantasien eine solide Basis zu geben.
Vielleicht liegt es ja an dem Abstand zur Gegenwart, den der im Jahr 1810 verstorbene Chevalier naturgemäß auch als Geisterstimme dieses Romans einnehmen muss, dass er sich in seiner Grundannahme so irrt und fröhlich auftrumpfend seine Biografie chronologisch heruntererzählt: Vom vorläufigen Botschafter am Hofe des englischen Königs James wird Éon Spion in London, wo bald die gesamte Gesellschaft darüber rätselt, welchem Geschlecht er denn nun zuzuordnen sei. Er macht sich lieb Kind bei verschiedenen Gönnerinnen und Gönnern, profitiert von deren unstillbarer Neugier, welche Art von Genital sich unter seinen Röcken befindet, und freundet sich mit einem „Gossenjournalisten“ namens Morande sowie mit dem Spion und späteren Mozart-Librettisten Beaumarchais an.
Besuche in „Freudenhäusern“ finden statt, von denen vor allem zu erfahren ist, dass sie zu vielfach erwähnten Schwären im Mundraum führen und zu literarischer Produktion, mit der diese Ereignisse verarbeitet werden. Wie diese klingen könnte, ist andernorts nachzulesen. Das Trio Beaumarchais, Morande und Éon intrigiert nur wenig gegeneinander und viel gegen andere, zu einer Schicksalsgemeinschaft schließen sie sich aus Geschäftssinn zusammen: In den gerade unabhängig werdenden nordamerikanischen Kolonien wollen sie sich am Handel mit Tabak und Sklaven bereichern. In wenigen Sätzen berichtet Éon, wie ein mit Tabak befrachtetes Schiff entführt, dann aber „durch gewiefte Bestechung und mit Unterstützung durch Morandes unendlich versöhnlichen Vater zurückgewonnen wird“.
Hochinteressant wäre es gewesen, die Winkelzüge genauer nachlesen zu können, mit denen die Leute dabei operieren, aber an dieser wie an vielen anderen Stellen geht Dische mit leichter Hand über all das hinweg, was vermutlich nur dann in seiner ganzen Tiefe zu schildern ist, wenn man die Originalquellen dieser Geschichte und nicht lediglich die vorhandenen Biografien zu Éon studiert hat. Wie schreibt man denn einen Bestechungsbrief um 1800? Wie reden Personen in einem Prozess zur Feststellung biologischen Geschlechts um 1775? Bei Dische kommen „Gutmenschen“ vor, und Frauen, die Éon trifft, sind „ganz in Mauvetönen“ gekleidet. Der Gutmensch ist aber eine Sozialfigur des späten 20. Jahrhunderts und die Farbe Mauve wurde 1856 erstmals synthetisiert und in den 1860er-Jahren modisch. Éon war da schon knapp 50 Jahre tot.
Solche sorglose Gegenwärtigkeit der Figurenrede zieht sich durch den Roman, immer im Dienste eines quasi historisch erigierten Zeigefingers: „In Ihrer Zeit sind alle Zähne gleich, und die Schminke wird mit einem Chirurgenmesser aufgetragen. Wenn Sie Ihr Los als Mann oder Frau nicht hinnehmen, schneiden Sie eben etwas ab oder nähen etwas dran. Alle Subtilität wird verbannt. Alle zarten oder strudelnden Unterströmungen werden ignoriert. Und das nennen Sie ,Fortschritt‘! Sie tun mir leid.“ Recht herzlichen Dank, aber es geht uns gut.
Noch besser ginge es, wenn so eine Figur wie Éon nicht als Vollstreckerin eines ideologischen Programms auftreten müsste, dessen Parameter die von 2021 und nicht die des endenden 18. Jahrhunderts sind. Im letzten Teil des Romans lebt Éon wieder als elegante Dame in Paris. Als solche setzt sie Waffenschiebereien und Intrigen mit Beaumarchais fort. Mehr oder weniger aus Langeweile gründet sie eine Armee aus Frauen, die sich in Amerika der Armee von George Washington anschließen soll.
Nur rund 15 Seiten später hat sich wiederum durch allerlei Intrigen dieser Plan zerschlagen, und hurtig huscht die Geschichte dem Ende Éons entgegen, das letztlich auch enthüllt, dass es sich um einen „normalen Mann“ handelt, „mein Geschlecht vom Alter verschrumpelt, aber nicht vom mangelnden Gebrauch, denn es hatte mir in meiner zweiten Lebenshälfte viel Lust bereitet“. Es bleibt zu vermuten, dass sich die Madame Chevalier gegen das Vereindeutigungsbegehren, das Disches Roman durchdringt, mindestens mit dem Florett gewehrt hätte.
Wie schreibt man einen
Bestechungsbrief um 1800?
Wäre interessant gewesen
Das Ende des Chevalier
enthüllt bei Dische dann auch
eindeutig sein Geschlecht
So sieht das Papier aus, wenn es transportfertig ist. Von hier aus wird es nur noch verpackt und
losgeschickt. Das Papier, das dieses Werk verlässt, ist zu Höherem bestimmt:
Es eignet sich für Bücher, und man ist hier spezialisiert auf Papier für Briefe, Journale, Notizbücher.
Irene Dische:
Die militante Madonna. Roman. Aus dem
Englischen von Ulrich Blumenbach. Hoffmann & Campe, Hamburg 2021. 224 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Irene Dische erzählt vom genderfluiden Chevalier d'Éon de Beaumont und bedeutet uns, dass
wir nicht in der ersten Epoche leben, die mit dem Geschlecht kreativ umgeht. Tut das not?
VON HANNA ENGELMEIER
Nur wenige Klicks braucht es, um Bilder des Chevalier d’Éon de Beaumont zu finden, die ihn in einem Fechtkampf zeigen, gewandet in zeitgenössische Frauenkleider mit Schnürbrust und unpraktischem Kopfschleier. Auf einem Gemälde trägt er oder sie einen prächtigen Kopfschmuck aus Federn und Schleifen, dazu Spitzenkragen und Orden. Die Menge an leicht verfügbaren Quellen zeigt schon, dass es sich bei der Geschichte des genderfluiden Edelmanns und der Spionin von Gnaden des Königs Louis XV. um eine gut dokumentierte Quelle handelt, die für alle von Interesse sein dürfte, die sich mit Traditionen gesellschaftlich nonkonformer Geschlechterrepräsentation beschäftigen.
Hier setzt Irene Disches von Ulrich Blumenbach übersetzter Roman „Die militante Madonna“ ein, der das Leben Éons zum Anlass nimmt, all jenen heimzuleuchten, die sich gendertheoretisch angeblich in ihrem „bauchnabelbeschaulichen Jahrhundert“ eingemuckelt haben und glauben, das Konzept des Wechsels zwischen sozialen und geschlechtlichen Rollen erfunden zu haben. Höflich siezt der Erzähler sein Publikum. Nach Lektüre des Buches möchte man es auch dabei belassen. Es bleibt bis zuletzt unklar, wer sich von diesen Ansprachen denn eigentlich gemeint fühlen soll, denn es ist gerade ein Kennzeichen sowohl der Forschung zu als auch des populären Diskurses über Geschlechtsidentität, auf historische Herkünfte von Drag, Transsexualität oder Intergeschlechtlichkeit hinzuweisen, um den eigenen Argumenten und Fantasien eine solide Basis zu geben.
Vielleicht liegt es ja an dem Abstand zur Gegenwart, den der im Jahr 1810 verstorbene Chevalier naturgemäß auch als Geisterstimme dieses Romans einnehmen muss, dass er sich in seiner Grundannahme so irrt und fröhlich auftrumpfend seine Biografie chronologisch heruntererzählt: Vom vorläufigen Botschafter am Hofe des englischen Königs James wird Éon Spion in London, wo bald die gesamte Gesellschaft darüber rätselt, welchem Geschlecht er denn nun zuzuordnen sei. Er macht sich lieb Kind bei verschiedenen Gönnerinnen und Gönnern, profitiert von deren unstillbarer Neugier, welche Art von Genital sich unter seinen Röcken befindet, und freundet sich mit einem „Gossenjournalisten“ namens Morande sowie mit dem Spion und späteren Mozart-Librettisten Beaumarchais an.
Besuche in „Freudenhäusern“ finden statt, von denen vor allem zu erfahren ist, dass sie zu vielfach erwähnten Schwären im Mundraum führen und zu literarischer Produktion, mit der diese Ereignisse verarbeitet werden. Wie diese klingen könnte, ist andernorts nachzulesen. Das Trio Beaumarchais, Morande und Éon intrigiert nur wenig gegeneinander und viel gegen andere, zu einer Schicksalsgemeinschaft schließen sie sich aus Geschäftssinn zusammen: In den gerade unabhängig werdenden nordamerikanischen Kolonien wollen sie sich am Handel mit Tabak und Sklaven bereichern. In wenigen Sätzen berichtet Éon, wie ein mit Tabak befrachtetes Schiff entführt, dann aber „durch gewiefte Bestechung und mit Unterstützung durch Morandes unendlich versöhnlichen Vater zurückgewonnen wird“.
Hochinteressant wäre es gewesen, die Winkelzüge genauer nachlesen zu können, mit denen die Leute dabei operieren, aber an dieser wie an vielen anderen Stellen geht Dische mit leichter Hand über all das hinweg, was vermutlich nur dann in seiner ganzen Tiefe zu schildern ist, wenn man die Originalquellen dieser Geschichte und nicht lediglich die vorhandenen Biografien zu Éon studiert hat. Wie schreibt man denn einen Bestechungsbrief um 1800? Wie reden Personen in einem Prozess zur Feststellung biologischen Geschlechts um 1775? Bei Dische kommen „Gutmenschen“ vor, und Frauen, die Éon trifft, sind „ganz in Mauvetönen“ gekleidet. Der Gutmensch ist aber eine Sozialfigur des späten 20. Jahrhunderts und die Farbe Mauve wurde 1856 erstmals synthetisiert und in den 1860er-Jahren modisch. Éon war da schon knapp 50 Jahre tot.
Solche sorglose Gegenwärtigkeit der Figurenrede zieht sich durch den Roman, immer im Dienste eines quasi historisch erigierten Zeigefingers: „In Ihrer Zeit sind alle Zähne gleich, und die Schminke wird mit einem Chirurgenmesser aufgetragen. Wenn Sie Ihr Los als Mann oder Frau nicht hinnehmen, schneiden Sie eben etwas ab oder nähen etwas dran. Alle Subtilität wird verbannt. Alle zarten oder strudelnden Unterströmungen werden ignoriert. Und das nennen Sie ,Fortschritt‘! Sie tun mir leid.“ Recht herzlichen Dank, aber es geht uns gut.
Noch besser ginge es, wenn so eine Figur wie Éon nicht als Vollstreckerin eines ideologischen Programms auftreten müsste, dessen Parameter die von 2021 und nicht die des endenden 18. Jahrhunderts sind. Im letzten Teil des Romans lebt Éon wieder als elegante Dame in Paris. Als solche setzt sie Waffenschiebereien und Intrigen mit Beaumarchais fort. Mehr oder weniger aus Langeweile gründet sie eine Armee aus Frauen, die sich in Amerika der Armee von George Washington anschließen soll.
Nur rund 15 Seiten später hat sich wiederum durch allerlei Intrigen dieser Plan zerschlagen, und hurtig huscht die Geschichte dem Ende Éons entgegen, das letztlich auch enthüllt, dass es sich um einen „normalen Mann“ handelt, „mein Geschlecht vom Alter verschrumpelt, aber nicht vom mangelnden Gebrauch, denn es hatte mir in meiner zweiten Lebenshälfte viel Lust bereitet“. Es bleibt zu vermuten, dass sich die Madame Chevalier gegen das Vereindeutigungsbegehren, das Disches Roman durchdringt, mindestens mit dem Florett gewehrt hätte.
Wie schreibt man einen
Bestechungsbrief um 1800?
Wäre interessant gewesen
Das Ende des Chevalier
enthüllt bei Dische dann auch
eindeutig sein Geschlecht
So sieht das Papier aus, wenn es transportfertig ist. Von hier aus wird es nur noch verpackt und
losgeschickt. Das Papier, das dieses Werk verlässt, ist zu Höherem bestimmt:
Es eignet sich für Bücher, und man ist hier spezialisiert auf Papier für Briefe, Journale, Notizbücher.
Irene Dische:
Die militante Madonna. Roman. Aus dem
Englischen von Ulrich Blumenbach. Hoffmann & Campe, Hamburg 2021. 224 Seiten, 22 Euro.
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