Der neue Roman des Nobelpreisträgers über eine Epidemie: vor historischer Kulisse, sehr aktuell Als im Jahre 1901 auf Minger die Pest ausbricht, beschuldigen sich Muslime und Christen gegenseitig. Ob nun die Pilger aus Mekka den Erreger eingeschleppt haben oder die Händler der Schiffe aus Alexandrien, auf der Insel herrschen chaotische Zustände: Verschwörungstheorien blühen auf, während die Quarantänemaßnahmen von Teilen der Bevölkerung in Frage gestellt werden. Als schließlich der osmanische Herrscher Abdul Hamid II die Insel mit Kriegsschiffen blockieren lässt, um die weitere Ausbreitung der Pest zu verhindern, sind die Menschen auf Minger auf sich allein gestellt. Ungekürzte Lesung mit Thomas Loibl, Juliane Köhler 23h 50min
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Roman Bucheli findet Orhan Pamuks neuen Roman gähnend lang und langweilig. Das liegt laut Bucheli auch daran, dass die Realität das Romangeschehen längst eingeholt hat, in dem der Autor den Einbruch der Pest und von allerlei Verschwörungstheorien auf einer Insel im osmanischen Reich um 1900 erzählt. Dass der Autor vor dem Hintergrund der Pest die "Bruchlinien des zerfallenden Vielvölkerstaats" sichtbar macht, gehört für Bucheli zu den spannenden Seiten des Textes. Im übrigen aber kennt er die pandemisch bedingten Konflikte im Buch bis zum Abwinken. Und Pamuk unternimmt nicht viel, um dem noch etwas hinzuzufügen, bedauert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2022Die Insel, die den Rest der Welt aussperrte
"Nation Building" aus dem Geiste der Verzweiflung: Orhan Pamuks neuer Roman "Die Nächte der Pest" erzählt von einem Mikrokosmos im Mittelmeer, der sich um 1900 gegen eine Epidemie, religiösen Wahn, Verschwörungstheorien, Aberglauben und Nationalismus behaupten muss.
Orhan Pamuk, der türkische Nobelpreisträger, der seine Heimat unendlich liebt und deshalb endlos mit ihr hadert, besitzt eine alte Taschenuhr mit zwei Zifferblättern: Das eine ist europäisch, das andere osmanisch beschriftet. Unmöglich zu sagen, welches die Vorder- und welches die Rückseite wäre. Sie sind gleich und doch verschieden. "Diese Uhr", hat Pamuk einmal gesagt und dabei Flaubert variiert, "das bin ich."
Jetzt taucht die Uhr mit dem westöstlichen Antlitz in der Hand von Sami Pascha auf, einer der Hauptfiguren in Pamuks neuem Roman "Die Nächte der Pest". Wenn der Gouverneur der fiktiven Mittelmeerinsel Minger Kummer hatte, griff er gern zu der Taschenuhr mit dem türkischen und dem europäischen Zifferblatt und "spürte dann gleichsam in seiner Hand, wie die Welt erträglicher wurde. Nun aber hatte er nicht einmal dazu die Kraft." Denn in seinem kleinen Reich ist eine Epidemie ausgebrochen: Minger, die Insel, auf der Christen und Muslime in relativer Eintracht zusammenleben, wo die Rosen duften und der Marmor leuchtet, ist ein kleines Paradies, in dem sich im Jahr 1901 plötzlich die Hölle auftut.
Die Pest rafft die Menschen dahin, stürzt die einen in dumpfen Fatalismus und die anderen in wilde Verzweiflung, bringt Sektierer, Separatisten und falsche Propheten hervor und lässt Nationalismen und Kriminalität aufblühen. Jeder kämpft nun gegen jeden: Griechen gegen Türken, Gläubige gegen weltlich Gesinnte, die Scheichs, die den Orden und Klöstern vorstehen, gegen die weltliche Macht, die sich schon bald als weitgehend machtlos erweist. Quarantänevorschriften werden missachtet, Häuser geplündert, Leichen verscharrt. Vor der Küste sorgen Kriegsschiffe der europäischen Großmächte dafür, dass niemand die Insel verlässt, während im fernen, doch auf unheimliche Weise zugleich allgegenwärtigen Istanbul Sultan Abdülhamit skrupellos seine undurchsichtigen Spiele treibt.
Auf siebenhundert Seiten entwirft Pamuk detailversessen, mitunter ein wenig langatmig, aber immer mühelos, das Panorama eines einstmals idyllischen Mikrokosmos, der im Chaos zu versinken droht. Denn die Menschen wehren sich gegen die Maßnahmen, die zu ihrem Schutz angeordnet werden, weil sie nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen, dass die Pest ihr gesamtes Dasein verändert. Vor allem die Quarantäneverordnungen stoßen bei vielen Muslimen auf Widerstand, weil sie an Grundlegendes rühren: "Wer die Quarantäne akzeptiert, nimmt damit ein Stück Verwestlichung in Kauf, und je weiter man in den Orient gelangt, desto schwerer fällt den Menschen das", sagt gleich zu Beginn des Romans der Epidemiologe Bonkowski Pascha, der vom Sultan nach Minger geschickt wird, um die Seuche einzudämmen und vor allem dafür zu sorgen, dass sie nicht auf das Festland und ganz Europa übergreift.
Doch kaum auf Minger angekommen, wird Bonkowski Pascha auf mysteriöse Weise umgebracht. Damit wird Pamuks historischer Roman, der drei Liebesgeschichten erzählt und zugleich eine Parabel auf die moderne Türkei ist, um die Elemente des Kriminalromans erweitert, mit denen der Autor genüsslich zu spielen weiß. Sherlock Holmes wird immer wieder als Repräsentant deduzierender westlicher Rationalität ins Spiel gebracht und zugleich ad absurdum geführt. Denn der historische Sultan Abdülhamit, der Menschen foltern und ermorden ließ und seinen Bruder und dessen Familie jahrzehntelang gefangen hielt, ist bei Pamuk ein ebenso leidenschaftlicher wie dialektischer Leser von Kriminalromanen: Seiner Lektüre entnimmt der paranoide Herrscher nicht nur, wie man sich vor diversen Mordmethoden schützt, sondern auch, wie man sie am besten anwendet.
Aber nicht nur in Istanbul fürchten die Mächtigen um ihr Leben, auch auf Minger werden Attentate verübt, und es wird munter geputscht. Das immer schon labile Wechselspiel zwischen osmanischen und westlichen Werten und Traditionen funktioniert unter dem Druck der Seuche nicht mehr, die staatlichen Institutionen verlieren in Windeseile ihre Autorität, und Stabilität verspricht in dieser Krise einzig eine dritte, ganz neue Kraft: ein mythisch aufgeladener mingerischer Nationalismus, der alle Gegensätze übertüncht und die Inselgesellschaft zusammenschweißt. Und während der osmanische Vielvölkerstaat, der "kranke Mann am Bosporus", an Bindekraft verliert und seinem Ende entgegentorkelt, erklärt Minger, das Inselchen im Mittelmeer, seine Unabhängigkeit: Ein großes Reich geht unter, ein Zwergimperium erwacht. "Nation Building" aus dem Geiste der Verzweiflung - mit der Pest als Geburtshelfer.
Mingers Staatengründer ist ein von der Insel stammender osmanischer Offizier namens Kamil, der in einer Mischung aus naivem Idealismus und Sendungsbewusstsein die Republik ausruft und sich sofort eifrig daranmacht, seiner Heimat zu verschaffen, was sie nie besessen hat: eine mythische Vergangenheit, Nationalbewusstsein, eine eigene Identität. Dass zwischen Kamil, der alsbald wie ein Heiliger verehrt wird, und Kemal Atatürk, dem Begründer der modernen Türkei, Parallelen gezogen werden könnten, hat Pamuk nach Erscheinen des Romans im vorigen Jahr in der Türkei eine Anzeige wegen Verunglimpfung eingebracht. Bislang ist das Verfahren nicht abgeschlossen. Aber im Grunde sind die Ähnlichkeiten mit der heutigen Türkei viel interessanter: Auch in Minger werden missliebige Journalisten ins Gefängnis geworfen, blüht das Spitzelwesen, agiert die Staatsmacht am liebsten autokratisch und stützt sich dabei auf ein ausgefeiltes System aus Korruption, Denunziation und Repression.
Mit besonderer Ironie behandelt Pamuk die Sprache der Insel, das Mingerische, das aber kaum jemand spricht und überdies auch nur begrenzt zur Kommunikation geeignet scheint. Auf seinem Sterbelager zählt der an der Pest erkrankte Staatsgründer Kamil alle mingerischen Wörter auf, die ihm einfallen - es sind 129. Noch heute, so heißt es im Nachwort des Romans, könne sie jedes Schulkind auf der Insel auswendig heruntersagen.
Pamuk vermischt mit leichter Hand historische Fakten und fiktive Geschehnisse, leidet mit den Pestkranken, fühlt mit den Liebenden, amüsiert sich über den Dünkel und die Winkelzüge der Mächtigen. Er beschreibt ausführlich den realen Sultan Abdülhamid II., der von 1876 bis zu seiner Absetzung im Jahr 1909 regierte, und vermählt dessen fiktive Nichte Pakize mit dem Arzt und Epidemiologen Doktor Nuri, der ebenfalls fiktiv ist, aber den tatsächlichen Wissensstand der Seuchenbekämpfung um 1900 repräsentiert. Nuri wird für kurze Zeit Ministerpräsident, während Pakize sogar zur Königin gekrönt wird. Aber dann erfolgt schon der nächste Putsch, und der neue Machthaber, der bisherige Geheimdienstchef, verfrachtet die beiden diskret und respektvoll ins Exil, wo wir ihnen erst im letzten Kapitel begegnen, das im Jahr 2016 angesiedelt ist.
Damals begann Pamuk mit der Arbeit an dem Roman. Dann kam Corona und versetzte ihm einen Schock, denn die Pandemie lähmte das Projekt, bevor sie es doch noch beflügelte und ein großer historischer Roman entstand: verspielt, anspielungsreich, oft erstaunlich heiter, gegenwartsbezogen und zeitlos zugleich. Denn die Ängste, Sorgen und Nöte der Menschen, ihre irrationalen Reaktionen, ihre panische Hinwendung zu Aberglauben und Verschwörungstheorien sind heute nicht grundlegend anders als im Jahr 1901 oder im Jahr 1664, als London von einer Pestwelle heimgesucht wurde, die etwa 100 000 Menschen das Leben kostete.
Pamuk hat seinem neuen Werk zwar je ein Zitat von Manzoni und Tolstoi vorangestellt, aber am meisten verdankt er zweifellos Daniel Defoes "Die Pest zu London", einer 1772 erschienenen Mischung aus Reportage, Tatsachenbericht und Roman, in der Defoe einen fiktiven Beobachter aufmerksam durch die von der Seuche gepeinigte Stadt streifen lässt. Auch Pamuk beschwört immer wieder die Atmosphäre von Minger und schickt seine Figuren auf Streifzüge durch leere Gassen, vorbei an idyllischen Gärten und Häusern, aus denen Leichen getragen werden.
Berichtet wird all dies von einer Historikerin namens Mina Mingerli, die ihr Werk als "Geschichtsbuch in Romanform" vorstellt. Sie erzählt die Geschichte der Insel, die zugleich die Geschichte ihrer Familie ist, denn Mina wurde hier geboren, schrieb immer schon über Minger, kritisierte Missstände in ihrer Heimat und wurde deswegen der "Verunglimpfung des Mingerer Volkes" bezichtigt. Dabei hatte sie nicht über das Volk, sondern nur über die Mächtigen von Minger geschrieben. Sie scheint ihre Heimat unendlich zu lieben. Vermutlich könnte sie deshalb auch endlos mit ihr hadern. HUBERT SPIEGEL
Orhan Pamuk: "Die Nächte der Pest". Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2022. 696 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Nation Building" aus dem Geiste der Verzweiflung: Orhan Pamuks neuer Roman "Die Nächte der Pest" erzählt von einem Mikrokosmos im Mittelmeer, der sich um 1900 gegen eine Epidemie, religiösen Wahn, Verschwörungstheorien, Aberglauben und Nationalismus behaupten muss.
Orhan Pamuk, der türkische Nobelpreisträger, der seine Heimat unendlich liebt und deshalb endlos mit ihr hadert, besitzt eine alte Taschenuhr mit zwei Zifferblättern: Das eine ist europäisch, das andere osmanisch beschriftet. Unmöglich zu sagen, welches die Vorder- und welches die Rückseite wäre. Sie sind gleich und doch verschieden. "Diese Uhr", hat Pamuk einmal gesagt und dabei Flaubert variiert, "das bin ich."
Jetzt taucht die Uhr mit dem westöstlichen Antlitz in der Hand von Sami Pascha auf, einer der Hauptfiguren in Pamuks neuem Roman "Die Nächte der Pest". Wenn der Gouverneur der fiktiven Mittelmeerinsel Minger Kummer hatte, griff er gern zu der Taschenuhr mit dem türkischen und dem europäischen Zifferblatt und "spürte dann gleichsam in seiner Hand, wie die Welt erträglicher wurde. Nun aber hatte er nicht einmal dazu die Kraft." Denn in seinem kleinen Reich ist eine Epidemie ausgebrochen: Minger, die Insel, auf der Christen und Muslime in relativer Eintracht zusammenleben, wo die Rosen duften und der Marmor leuchtet, ist ein kleines Paradies, in dem sich im Jahr 1901 plötzlich die Hölle auftut.
Die Pest rafft die Menschen dahin, stürzt die einen in dumpfen Fatalismus und die anderen in wilde Verzweiflung, bringt Sektierer, Separatisten und falsche Propheten hervor und lässt Nationalismen und Kriminalität aufblühen. Jeder kämpft nun gegen jeden: Griechen gegen Türken, Gläubige gegen weltlich Gesinnte, die Scheichs, die den Orden und Klöstern vorstehen, gegen die weltliche Macht, die sich schon bald als weitgehend machtlos erweist. Quarantänevorschriften werden missachtet, Häuser geplündert, Leichen verscharrt. Vor der Küste sorgen Kriegsschiffe der europäischen Großmächte dafür, dass niemand die Insel verlässt, während im fernen, doch auf unheimliche Weise zugleich allgegenwärtigen Istanbul Sultan Abdülhamit skrupellos seine undurchsichtigen Spiele treibt.
Auf siebenhundert Seiten entwirft Pamuk detailversessen, mitunter ein wenig langatmig, aber immer mühelos, das Panorama eines einstmals idyllischen Mikrokosmos, der im Chaos zu versinken droht. Denn die Menschen wehren sich gegen die Maßnahmen, die zu ihrem Schutz angeordnet werden, weil sie nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen, dass die Pest ihr gesamtes Dasein verändert. Vor allem die Quarantäneverordnungen stoßen bei vielen Muslimen auf Widerstand, weil sie an Grundlegendes rühren: "Wer die Quarantäne akzeptiert, nimmt damit ein Stück Verwestlichung in Kauf, und je weiter man in den Orient gelangt, desto schwerer fällt den Menschen das", sagt gleich zu Beginn des Romans der Epidemiologe Bonkowski Pascha, der vom Sultan nach Minger geschickt wird, um die Seuche einzudämmen und vor allem dafür zu sorgen, dass sie nicht auf das Festland und ganz Europa übergreift.
Doch kaum auf Minger angekommen, wird Bonkowski Pascha auf mysteriöse Weise umgebracht. Damit wird Pamuks historischer Roman, der drei Liebesgeschichten erzählt und zugleich eine Parabel auf die moderne Türkei ist, um die Elemente des Kriminalromans erweitert, mit denen der Autor genüsslich zu spielen weiß. Sherlock Holmes wird immer wieder als Repräsentant deduzierender westlicher Rationalität ins Spiel gebracht und zugleich ad absurdum geführt. Denn der historische Sultan Abdülhamit, der Menschen foltern und ermorden ließ und seinen Bruder und dessen Familie jahrzehntelang gefangen hielt, ist bei Pamuk ein ebenso leidenschaftlicher wie dialektischer Leser von Kriminalromanen: Seiner Lektüre entnimmt der paranoide Herrscher nicht nur, wie man sich vor diversen Mordmethoden schützt, sondern auch, wie man sie am besten anwendet.
Aber nicht nur in Istanbul fürchten die Mächtigen um ihr Leben, auch auf Minger werden Attentate verübt, und es wird munter geputscht. Das immer schon labile Wechselspiel zwischen osmanischen und westlichen Werten und Traditionen funktioniert unter dem Druck der Seuche nicht mehr, die staatlichen Institutionen verlieren in Windeseile ihre Autorität, und Stabilität verspricht in dieser Krise einzig eine dritte, ganz neue Kraft: ein mythisch aufgeladener mingerischer Nationalismus, der alle Gegensätze übertüncht und die Inselgesellschaft zusammenschweißt. Und während der osmanische Vielvölkerstaat, der "kranke Mann am Bosporus", an Bindekraft verliert und seinem Ende entgegentorkelt, erklärt Minger, das Inselchen im Mittelmeer, seine Unabhängigkeit: Ein großes Reich geht unter, ein Zwergimperium erwacht. "Nation Building" aus dem Geiste der Verzweiflung - mit der Pest als Geburtshelfer.
Mingers Staatengründer ist ein von der Insel stammender osmanischer Offizier namens Kamil, der in einer Mischung aus naivem Idealismus und Sendungsbewusstsein die Republik ausruft und sich sofort eifrig daranmacht, seiner Heimat zu verschaffen, was sie nie besessen hat: eine mythische Vergangenheit, Nationalbewusstsein, eine eigene Identität. Dass zwischen Kamil, der alsbald wie ein Heiliger verehrt wird, und Kemal Atatürk, dem Begründer der modernen Türkei, Parallelen gezogen werden könnten, hat Pamuk nach Erscheinen des Romans im vorigen Jahr in der Türkei eine Anzeige wegen Verunglimpfung eingebracht. Bislang ist das Verfahren nicht abgeschlossen. Aber im Grunde sind die Ähnlichkeiten mit der heutigen Türkei viel interessanter: Auch in Minger werden missliebige Journalisten ins Gefängnis geworfen, blüht das Spitzelwesen, agiert die Staatsmacht am liebsten autokratisch und stützt sich dabei auf ein ausgefeiltes System aus Korruption, Denunziation und Repression.
Mit besonderer Ironie behandelt Pamuk die Sprache der Insel, das Mingerische, das aber kaum jemand spricht und überdies auch nur begrenzt zur Kommunikation geeignet scheint. Auf seinem Sterbelager zählt der an der Pest erkrankte Staatsgründer Kamil alle mingerischen Wörter auf, die ihm einfallen - es sind 129. Noch heute, so heißt es im Nachwort des Romans, könne sie jedes Schulkind auf der Insel auswendig heruntersagen.
Pamuk vermischt mit leichter Hand historische Fakten und fiktive Geschehnisse, leidet mit den Pestkranken, fühlt mit den Liebenden, amüsiert sich über den Dünkel und die Winkelzüge der Mächtigen. Er beschreibt ausführlich den realen Sultan Abdülhamid II., der von 1876 bis zu seiner Absetzung im Jahr 1909 regierte, und vermählt dessen fiktive Nichte Pakize mit dem Arzt und Epidemiologen Doktor Nuri, der ebenfalls fiktiv ist, aber den tatsächlichen Wissensstand der Seuchenbekämpfung um 1900 repräsentiert. Nuri wird für kurze Zeit Ministerpräsident, während Pakize sogar zur Königin gekrönt wird. Aber dann erfolgt schon der nächste Putsch, und der neue Machthaber, der bisherige Geheimdienstchef, verfrachtet die beiden diskret und respektvoll ins Exil, wo wir ihnen erst im letzten Kapitel begegnen, das im Jahr 2016 angesiedelt ist.
Damals begann Pamuk mit der Arbeit an dem Roman. Dann kam Corona und versetzte ihm einen Schock, denn die Pandemie lähmte das Projekt, bevor sie es doch noch beflügelte und ein großer historischer Roman entstand: verspielt, anspielungsreich, oft erstaunlich heiter, gegenwartsbezogen und zeitlos zugleich. Denn die Ängste, Sorgen und Nöte der Menschen, ihre irrationalen Reaktionen, ihre panische Hinwendung zu Aberglauben und Verschwörungstheorien sind heute nicht grundlegend anders als im Jahr 1901 oder im Jahr 1664, als London von einer Pestwelle heimgesucht wurde, die etwa 100 000 Menschen das Leben kostete.
Pamuk hat seinem neuen Werk zwar je ein Zitat von Manzoni und Tolstoi vorangestellt, aber am meisten verdankt er zweifellos Daniel Defoes "Die Pest zu London", einer 1772 erschienenen Mischung aus Reportage, Tatsachenbericht und Roman, in der Defoe einen fiktiven Beobachter aufmerksam durch die von der Seuche gepeinigte Stadt streifen lässt. Auch Pamuk beschwört immer wieder die Atmosphäre von Minger und schickt seine Figuren auf Streifzüge durch leere Gassen, vorbei an idyllischen Gärten und Häusern, aus denen Leichen getragen werden.
Berichtet wird all dies von einer Historikerin namens Mina Mingerli, die ihr Werk als "Geschichtsbuch in Romanform" vorstellt. Sie erzählt die Geschichte der Insel, die zugleich die Geschichte ihrer Familie ist, denn Mina wurde hier geboren, schrieb immer schon über Minger, kritisierte Missstände in ihrer Heimat und wurde deswegen der "Verunglimpfung des Mingerer Volkes" bezichtigt. Dabei hatte sie nicht über das Volk, sondern nur über die Mächtigen von Minger geschrieben. Sie scheint ihre Heimat unendlich zu lieben. Vermutlich könnte sie deshalb auch endlos mit ihr hadern. HUBERT SPIEGEL
Orhan Pamuk: "Die Nächte der Pest". Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2022. 696 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Es ist weniger ein Epidemieroman als einer über osmanische Zeiten, in dem die Menschen stark lieben, stark kämpfen, und - wenn als das nichts hilft - einen starken Abgang hinlegen." Jörg Plath, Deutschlandfunk Büchermarkt, 30.03.22
"Ein gewaltiges Epos über Intrigen und Zärtlichkeit in der Krise." Die Zeit Literaturbeilage, 17.03.22
"Zur Kunst Orhan Pamuks gehört freilich auch, dass er uns immer wieder herausreißt aus seiner Story und hineinwirft in die Geschichte. Beide vermischen sich untrennbar. Wir weinen und lachen, wir freuen uns über Erkenntnisse." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 07.03.22
"Das Panorama eines einstmals idyllischen Mikrokosmos, der im Chaos zu versinken droht. Pamuk vermischt mit leichter Hand historische Fakten und fiktive Geschehnisse, leidet mit den Pestkranken, fühlt mit den Liebenden, amüsiert sich über den Dünkel und die Winkelzüge der Mächtigen." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.22
"Der Roman ist neuerlich ein Beweis, dass Orhan Pamuk nach dem Nobelpreis 2006 die Nobelpreis-Höchstform erreichte." Peter Pisa, Kurier, 19.02.22
"Es bietet für mich das Beste was Literatur bieten kann: Uns Distanz schenken um auf Dinge zu schauen, die uns bedrängen. ... Es ist ein absoluter Glücksfall, dass einer der größten Erzähler der Welt ein Buch schreiben konnte, bei dem er einem menschheitsgeschichtlichen Unglück durch Zufall einen Schritt voraus war. Und deshalb haben wir jetzt einen Roman, der uns unsre Zeit so viel besser betrachten und verstehen lässt." Thomas Böhm, rbb RadioEins, 17.02.22
"Für die Freiheit, vor allem für die Freiheit des Wortes, tritt Orhan Pamuk seit vielen Jahren ein - manchmal auch vor Gericht. Dieses Mal aber mit großer Überzeugungskraft und äußerst unterhaltsam mit seinem neuen Roman." Joachim Dicks, NDR Kultur, 14.02.22
"Ein brillant geschriebenes, üppig und ausschweifend erzählendes Buch über eine verheerende Pandemie, aber auch eine Mentalitätsstudie und eine historische Betrachtung über die Auflösung des osmanischen Reichs." Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk Lesart, 14.02.22
"Ein Meister der akribischen Erzählung ... Pamuks Stärke waren schon immer die Genauigkeit und das Literarisieren von zeitgenössischen, aber auch osmanischen Fakten." Barbara Frischmuth, Die Presse, 12.02.22
"Ein echter Schmöker ... Ungeheuer amüsant, in unendlichen Details geistreich und voller Witz. Er hat ein epochales Werk über die Nationenwerdung um 1900 geschrieben, das Abenteuerromanhaftes und Staatstheoretisches glücklich vereint." Adam Soboczynski, Die Zeit, 10.02.22
"Pamuks Pest-Roman bringt das Kunststück fertig, sowohl Gruselmärchen wie Geschichtsbuch zu sein. Obwohl sein Thema todtraurig ist, ist es überraschend verspielt und gleichzeitig hochpolitisch." Christiane Schlötzer, Süddeutsche Zeitung, 08.02.22
"Ein gewaltiges Epos über Intrigen und Zärtlichkeit in der Krise." Die Zeit Literaturbeilage, 17.03.22
"Zur Kunst Orhan Pamuks gehört freilich auch, dass er uns immer wieder herausreißt aus seiner Story und hineinwirft in die Geschichte. Beide vermischen sich untrennbar. Wir weinen und lachen, wir freuen uns über Erkenntnisse." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 07.03.22
"Das Panorama eines einstmals idyllischen Mikrokosmos, der im Chaos zu versinken droht. Pamuk vermischt mit leichter Hand historische Fakten und fiktive Geschehnisse, leidet mit den Pestkranken, fühlt mit den Liebenden, amüsiert sich über den Dünkel und die Winkelzüge der Mächtigen." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.22
"Der Roman ist neuerlich ein Beweis, dass Orhan Pamuk nach dem Nobelpreis 2006 die Nobelpreis-Höchstform erreichte." Peter Pisa, Kurier, 19.02.22
"Es bietet für mich das Beste was Literatur bieten kann: Uns Distanz schenken um auf Dinge zu schauen, die uns bedrängen. ... Es ist ein absoluter Glücksfall, dass einer der größten Erzähler der Welt ein Buch schreiben konnte, bei dem er einem menschheitsgeschichtlichen Unglück durch Zufall einen Schritt voraus war. Und deshalb haben wir jetzt einen Roman, der uns unsre Zeit so viel besser betrachten und verstehen lässt." Thomas Böhm, rbb RadioEins, 17.02.22
"Für die Freiheit, vor allem für die Freiheit des Wortes, tritt Orhan Pamuk seit vielen Jahren ein - manchmal auch vor Gericht. Dieses Mal aber mit großer Überzeugungskraft und äußerst unterhaltsam mit seinem neuen Roman." Joachim Dicks, NDR Kultur, 14.02.22
"Ein brillant geschriebenes, üppig und ausschweifend erzählendes Buch über eine verheerende Pandemie, aber auch eine Mentalitätsstudie und eine historische Betrachtung über die Auflösung des osmanischen Reichs." Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk Lesart, 14.02.22
"Ein Meister der akribischen Erzählung ... Pamuks Stärke waren schon immer die Genauigkeit und das Literarisieren von zeitgenössischen, aber auch osmanischen Fakten." Barbara Frischmuth, Die Presse, 12.02.22
"Ein echter Schmöker ... Ungeheuer amüsant, in unendlichen Details geistreich und voller Witz. Er hat ein epochales Werk über die Nationenwerdung um 1900 geschrieben, das Abenteuerromanhaftes und Staatstheoretisches glücklich vereint." Adam Soboczynski, Die Zeit, 10.02.22
"Pamuks Pest-Roman bringt das Kunststück fertig, sowohl Gruselmärchen wie Geschichtsbuch zu sein. Obwohl sein Thema todtraurig ist, ist es überraschend verspielt und gleichzeitig hochpolitisch." Christiane Schlötzer, Süddeutsche Zeitung, 08.02.22