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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wir fingen an, früher zu trinken, später wegzugehen und die Nacht in der kalten blauen Dämmerung ausklingen zu lassen, indem wir auf dem Flachdach unseres Hauses lagen und auf unsere sterbende Stadt herabsahen." Es ist das Jahr 2010, die Finanzkrise erschüttert ganz Irland, und die Perspektiven in der Provinzstadt Cork scheinen insbesondere für die Jugend düster. Rachel und Jonathan jedoch erleben das Jahr ihres Lebens, jene wilde, nie wiederkehrende Zeit voller erster Male, von der nicht ohne Grund so viele Songs, Filme und eben Romane wehmütig erzählen. Sie, die beinahe 1,80 Meter große Literaturstudentin aus gutem Hause, und er, der ehrgeizige Junge aus der Arbeiterklasse, begegnen sich in dem Buchladen, in dem beide arbeiten, und es ist große Liebe auf den ersten Blick.
Was zunächst klingt wie jede x-beliebige Schmonzette, die man auf den Grabbeltischen in Bahnhofsbuchhandlungen oder Supermärkten findet, entpuppt sich schnell als anrührende Geschichte über die Bedeutung wahrer Freundschaft angesichts all der Selbstfindungsversuche, fragwürdiger Entscheidungen und kleiner wie großer Katastrophen, die das Leben mit Anfang zwanzig bestimmen. Denn dass die Beziehung der beiden rein platonischer Natur ist, weil James homosexuell ist und Rachel besessen von ihrem Literaturprofessor Fred Byrne, tut beider Liebe zueinander keinen Abbruch, im Gegenteil. Sie ziehen zusammen in eine unbeheizte baufällige Wohnung, verprassen ihr Geld in Clubs und Kneipen, schlagen sich die Nächte mit uralten Sitcoms und Cher-Filmen um die Ohren und teilen einfach alles miteinander - irgendwann sogar die Gefühle für denselben Mann.
Die 1990 geborene und wie ihre Figuren in Cork aufgewachsene Caroline O'Donoghue erzählt in "Die Sache mit Rachel" derart schonungslos und mit solcher Intensität von der Komplexität und den Irrungen und Wirrungen des Erwachsenwerdens, dass man sich der eigentlich recht vorhersehbaren Geschichte um die Dreiecksbeziehung zwischen James, Rachel und Dr. Byrne nur schwer entziehen kann. Das mag auch daran liegen, dass die Figuren frei von Stereotypen gezeichnet sind und O'Donoghue humorvoll und satirisch Klischees des Liebesroman-Genres reflektiert, um anschließend mit ihnen zu brechen. So ist Rachel zwar scharfsinnig und witzig, allerdings auch ein wenig naiv, selbstverliebt und rücksichtslos - was sie so nahbar und dreidimensional macht, dass man umso mehr mit ihr sympathisiert. Rachel nimmt sich, was sie braucht, oder versucht es zumindest in einer Welt, die nicht zum Geben bereit ist. Und wenn die junge Frau über ihr Sexleben spricht, dann gibt es keine "kleinen melancholischen Exkurse darüber, wie man mit schweren Lidern an die Decke gestarrt hat, während ein stumpfer Kerl heftig in einen hineinstieß", sondern stattdessen Schilderungen davon, wie sie, besessen vom Akt, "grunzte wie ein abgestochenes Schwein".
Dass O'Donoghues Name häufig in einem Atemzug mit dem ihrer Landsfrau Sally Rooney genannt wird - regelmäßig als literarische Stimme des Jahrzehnts gepriesen -, überrascht kaum. Besonders die Parallelen zu Rooneys Roman "Gespräche mit Freunden" sind nicht zu übersehen, angefangen bei den wohl absichtsvoll banalen Titeln beider Bücher über die schnörkellose, stilistisch recht unterkomplexe Sprache bis hin zur Thematik über eine komplizierte ménage à trois. Und ebenso wie Rooney ist auch O'Donoghue bereits eine Sensation im Internet, "Die Sache mit Rachel" wird nicht nur in den "Booktoks" der sozialen Medien begeistert besprochen, auch prominente Persönlichkeiten wie Charlotte Casiraghi, immerhin die Enkelin von Grace Kelly, empfehlen das Buch mit glühendem Enthusiasmus.
Abtun als triviale Coming-of-Age-Story für Millennials sollte man es deshalb allerdings nicht, denn der Roman ist auch und vor allem eine kluge Erkundung darüber, wie die Umstände und die Kultur einer bestimmten Zeit - etwa die Rezession, die irische Klassengesellschaft oder Phänomene wie Slut-Shaming und Homophobie - eine Figur und den Kurs ihres Lebens beeinflussen können. Und über die Frage, wen oder was es braucht, um all das halbwegs unbeschadet zu überstehen.
"Ich bin dein bester Freund", sagt James gegen Ende des Buches einmal mit unverfrorener Verletzlichkeit zu Rachel, "du solltest mich am meisten lieben." Und nach dieser Lektüre versteht man noch ein wenig besser, warum schon Aristoteles sich lieber mit freundschaftlicher statt mit leidenschaftlicher Liebe befasste, mit Philia statt mit Eros - und bleibt zurück mit einem warmen Gefühl und vielen Gedanken über das Wesen und den Kern menschlicher Beziehungen. SELMA SCHILLER
Caroline O`Donoghue: "Die Sache mit Rachel". Roman.
Aus dem Englischen von Christian Lux.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024.
391 S., geb., 24,- Euro.
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