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Aber mein Schatten ist bei dir: Haruki Murakami greift für seinen neuen Roman "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" auf ein altes Motiv zurück.
Zwei japanische Teenager lernen sich auf der Preisverleihung eines Schreibwettbewerbs kennen, bei der sie beide für ihre Geschichten ausgezeichnet werden. Der Junge ist siebzehn, das Mädchen ein Jahr jünger. Sie tauschen ihre Adressen aus, schreiben sich Briefe und treffen sich schließlich regelmäßig zu langen Spaziergängen durch Tokio. Es kommt zu Küssen, aber nicht zu mehr, obwohl der Junge sich danach sehnt. Auch das Mädchen sagt ihm, sie wolle "ganz und gar dir gehören" und "eins mit dir sein", nur fühle sie sich noch nicht bereit dafür, denn "mein Geist und mein Körper sind getrennt. Sie sind an verschiedenen Orten." Das geht so weit, dass sie sich manchmal vorkommt "wie jemandes Schatten", während ihr "wahres Ich irgendwo anders" sei.
Damit ist ein Thema umrissen, das Haruki Murakamis neuen Roman "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" auf jeder Seite prägt. Wo denn das "wahre Ich" der Freundin sei, fragt der Siebzehnjährige, der den Roman über ebenso namenlos bleibt wie sie und noch zahlreiche andere Figuren. Das Mädchen erzählt von einer Stadt hinter einer Backsteinmauer, irgendwo am Ende der Welt, in der es kein Gas und keine Elektrizität gebe. Am Tor stehe ein Wächter, der jeden Morgen eine Herde Einhörner zum Grasen in die Stadt lasse und abends wieder hinaus. Ein Fluss, überspannt von drei Brücken, teile die Stadt in zwei Hälften. Im Zentrum stehe ein Uhrturm ohne Zeiger und unweit von ihm eine Bibliothek, in der ihr wahres Ich als Bibliothekarin arbeite. Übrigens habe niemand in der Stadt einen Schatten, und wer sie als Fremder betrete, müsse seinen Schatten beim Wächter abgeben. Einen Weg wieder hinaus gebe es nicht.
Murakamis Lesern dürfte das alles nicht fremd sein. Im Grunde ist es der dritte Anlauf, den der Autor nimmt, um jene Stadt literarisch zu erkunden. Noch bevor er sich aus dem von ihm gegründeten Jazzclub zurückzog, um nur noch zu schreiben, veröffentlichte er eine hundert Seiten lange Geschichte, die von einer solchen Stadt handelt. Wenig später, im Roman "Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt" von 1985, ist die Konstruktion ganz ähnlich, dem Buch ist sogar eine Karte der Stadt beigegeben, die deren Beschreibung im knapp vierzig Jahre jüngeren Roman sehr ähnlich sieht. Auch die Flucht, die der Held am Ende unternimmt, um seinen dahinwelkenden Schatten zu retten, und die finale Entscheidung, doch noch zu bleiben, während der Schatten ins Land jenseits der Mauer entkommt, steht so ähnlich in beiden Texten. Murakami erklärt das in seinem Nachwort: Er sei nicht ganz zufrieden mit den Lösungen gewesen, die er seinerzeit für das Sujet von der ummauerten Komplementärstadt gefunden habe, also habe er sich in der Corona-Zeit noch einmal darangemacht, die Geschichte neu zu erzählen.
Das Ergebnis ist ein funkelnder, überlegen komponierter Roman, der um Arabesken ärmer und an eindrucksvollen Bildern reicher ist als das frühere Werk. Das beginnt mit der Entstehungsgeschichte der Stadt, die hier den Gesprächen zwischen den jungen Liebenden zugeschrieben wird - das Mädchen erzählt, der Junge notiert jede Einzelheit in einem Heft, fragt auch mal nach, wenn ihm etwas unklar ist, und trägt mit Eigenem dazu bei. Die Liebesgeschichte, die bald an ein abruptes Ende kommt, weil das Mädchen einfach verschwindet, wird durch Schilderungen vom Aufenthalt des älter gewordenen Geliebten unterbrochen, der tatsächlich in die Stadt gelangt und das "wahre Ich" der Freundin dort antrifft - sie ist um keinen Tag gealtert, weiß nichts von ihm und der gemeinsamen Vergangenheit, ist ihm aber bei seiner Aufgabe behilflich, in der Bibliothek der Stadt die eiförmig materialisierten Träume früherer Bewohner zu lesen und zu deuten.
Oder verhält es sich ganz anders? Die Gewissheit des Mädchens über das wahre Ich in der Gegenwelt und den Schatten in der gewohnten Realität teilt der Erzähler nicht, der im zweiten Teil des Romans aus Tokio in eine Kleinstadt der Präfektur Fukushima flieht, um dort als Leiter der örtlichen Bibliothek zu arbeiten. Murakami spannt ein Netz von Verweisen auf, gewohnt aus und doch erheblich zwingender als in vielen seiner Bücher, bringt den Flüchtigen in Kontakt mit großartigen Nebenfiguren wie seinem geisterhaften Vorgänger, einem stillen jugendlichen Leser oder einer keuschen Coffeeshopbetreiberin und erweitert zugleich den Kreis derer, für die jene backsteinummauerte Stadt zum Sehnsuchtsort wird, zum Gegenmodell einer gewöhnlichen Welt, für die sie sich nicht gemacht fühlen.
Damit geht einher, dass der Roman zunehmend eine Hierarchie der Welten unterläuft. Wer real ist oder - in der Sprache des Romans - "wahr" und wer den Schatten darstellt, ist Ansichtssache und hängt nicht zuletzt davon ab, wer erzählt. Wenn gleich zu Beginn des Romans der Handlungsstrang der verliebten Teenager in der zweiten Person Singular erzählt wird ("anscheinend müde vom Gehen setzt du dich ins Gras"), dann lässt das die Möglichkeit offen, es handele sich um eine Fiktion, die der in die ummauerte Stadt gelangte Erzähler für die dortige Bibliothekarin entwirft - er spricht von einer gemeinsamen Geschichte, an die sie sich doch bitte erinnern soll. Und was hat es mit dem jungen Leser auf sich, der in der Kleinstadtbibliothek den Weg in die Sehnsuchtsstadt sucht, ohne dass seine Motive dafür deutlich würden, der aber in seiner Lesewut wiederum an den isolierten Liebenden des Anfangs erinnert und schließlich mit ihm verschmelzen wird - zwei Hälften einer Person, die jeweils ohne die andere ein unvollkommenes Leben führen?
"Ich fühlte einfach, dass diese Realität nicht zu mir passte", sagt der Erzähler, bevor er seine Arbeitsstelle in Tokio aufgibt, und dieses Gefühl teilt er mit einigen Gestalten dieses Romans, mutmaßlich auch mit manchem Leser. Murakami aber stellt auch die andere Seite dar, indem er die Verzweiflung des jungen Mannes über die in die Gegenwelt abdriftende Geliebte darstellt oder die hilflose Suche der Familie des jungen Lesers nach dessen Verschwinden.
Natürlich schließt sich hier der Kreis in Murakamis Werk, in dem solche Gegenwelten entdeckt werden und die Entdecker durchaus faszinieren, um später ihre bedrohliche Seite zu offenbaren. Denn die erzwungene Trennung vom eigenen Schatten ist ein überdeutlicher Hinweis des mit allen Wassern der Schauerromantik gewaschenen Autors auf den Preis, den man für das Glücksversprechen auf der anderen Seite der Mauer bezahlt, und auch die eigentlich verbotene Rückkehr auf die andere Seite der Welt sollte Warnung genug sein. Hinzu kommt, dass Murakamis Zeichensystem, allem voran die Reihe der quadratischen Räume im Herzen der jeweiligen Umgebung, die deutlich als Übergangsstellen gezeichnet sind, jeder Behauptung über die Gesetze der einen oder anderen Welt zuwiderläuft. Letztlich erschafft sich jeder seinen Kosmos inklusive aller Regeln, die jederzeit revidierbar sind.
Für die Liebenden vom Romananfang heißt das, dass ihre Welt, erzählt vom Mädchen und niedergeschrieben vom Jungen, so lange in ihrer Weise besteht, wie sich beide darüber einig sind. Ein gemeinsamer Fluchtort aber kann sie nicht sein. Auch wenn derjenige, der mit dem aufgeschlagenen Heft zurückbleibt, in mehreren Anläufen daraus einen Roman formt. TILMAN SPRECKELSEN
Haruki Murakami: "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer". Roman.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont, Köln 2024. 640 S., geb., 34,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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